Europäisches Prozessrecht: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Bestimmung des Begriffs „E.&nbsp;P.“ hat an seinen einzelnen Begriffselementen anzusetzen. Prozess leitet sich vom lateinischen <I>processus</I>&nbsp;= „Fortgang“ ab. Wie das Wort Prozedere als Synonym für Verfahren zeigt, sind weitere Beschränkungen nicht zwingend begriffsimmanent. Gleichwohl ist heutzutage ein engeres Begriffsverständnis üblich: Prozess ist nur jedes streitige Verfahren vor einem Gericht. Streitig ist ein Verfahren, wenn sich (mindestens) zwei Parteien mit gegenläufigen Interessen gegenüberstehen. Hierdurch werden nicht-kontradiktorische Verfahren (z.&nbsp;B. Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit) ausgeschlossen. Durch den Bezug auf ein Gericht scheiden außergerichtliche Verfahren (z.&nbsp;B. Alternative Streitbeilegung) aus. Die präzise Trennlinie hängt freilich vom jeweiligen Gerichtsbegriff ab. Für einen formellen Gerichtsbegriff ist zentral, dass ein bestimmter Spruchkörper auf gesetzlicher Grundlage mit der Aufgabe betraut ist, {{ #staatslexikon_articlemissing: Recht | Recht }} zu sprechen. Ein materieller Gerichtsbegriff betont die sachliche Unabhängigkeit gegenüber Exekutive und Legislative und die Unparteilichkeit im Verhältnis zu den Parteien. Letztlich kann der Gerichtsbegriff stets nur kontextspezifisch bestimmt werden. So versteht z.&nbsp;B. der [[Europäischer Gerichtshof (EuGH)|EuGH]] im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art.&nbsp;267 AEUV unter Gericht jeden ständigen Spruchkörper in Rechtssachen auf gesetzlicher Grundlage, in dem unabhängige {{ #staatslexikon_articlemissing: Richter | Richter }} anhand von Rechtsnormen in einem streitigen, rechtsstaatlich geordneten Verfahren entscheiden. Ohne Bedeutung ist die Art der [[Gerichtsbarkeit]]. Sie kann Verfassungs-, Verwaltungs-, Straf-, Zivil-, Arbeits- oder Finanzgerichtsbarkeit sein.
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Die Bestimmung des Begriffs „E.&nbsp;P.“ hat an seinen einzelnen Begriffselementen anzusetzen. Prozess leitet sich vom lateinischen <I>processus</I>&nbsp;= „Fortgang“ ab. Wie das Wort Prozedere als Synonym für Verfahren zeigt, sind weitere Beschränkungen nicht zwingend begriffsimmanent. Gleichwohl ist heutzutage ein engeres Begriffsverständnis üblich: Prozess ist nur jedes streitige Verfahren vor einem Gericht. Streitig ist ein Verfahren, wenn sich (mindestens) zwei Parteien mit gegenläufigen Interessen gegenüberstehen. Hierdurch werden nicht-kontradiktorische Verfahren (z.&nbsp;B. Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit) ausgeschlossen. Durch den Bezug auf ein Gericht scheiden außergerichtliche Verfahren (z.&nbsp;B. Alternative Streitbeilegung) aus. Die präzise Trennlinie hängt freilich vom jeweiligen Gerichtsbegriff ab. Für einen formellen Gerichtsbegriff ist zentral, dass ein bestimmter Spruchkörper auf gesetzlicher Grundlage mit der Aufgabe betraut ist, [[Recht]] zu sprechen. Ein materieller Gerichtsbegriff betont die sachliche Unabhängigkeit gegenüber Exekutive und Legislative und die Unparteilichkeit im Verhältnis zu den Parteien. Letztlich kann der Gerichtsbegriff stets nur kontextspezifisch bestimmt werden. So versteht z.&nbsp;B. der [[Europäischer Gerichtshof (EuGH)|EuGH]] im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art.&nbsp;267 AEUV unter Gericht jeden ständigen Spruchkörper in Rechtssachen auf gesetzlicher Grundlage, in dem unabhängige [[Richter]] anhand von Rechtsnormen in einem streitigen, rechtsstaatlich geordneten Verfahren entscheiden. Ohne Bedeutung ist die Art der [[Gerichtsbarkeit]]. Sie kann Verfassungs-, Verwaltungs-, Straf-, Zivil-, Arbeits- oder Finanzgerichtsbarkeit sein.
 
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Vor diesem Hintergrund umfasst der Begriff {{ #staatslexikon_articlemissing: Prozessrecht | Prozessrecht }} v.&nbsp;a. sämtliche rechtliche Regelungen über Einleitung, Durchführung und Beendigung eines Prozesses; man mag aber auch noch die Gerichtsorganisation hierzu zählen wollen. Gegenbegriff ist das Sachrecht bzw. materielle Recht als das die Interessenkonflikte der potentiell Berechtigten und Verpflichteten entscheidende Recht. Im Verhältnis zum Sachrecht hat das Prozessrecht primär dienende Funktion. Gerät ein subjektives Recht in Streit, soll es ihm zur Durchsetzung verhelfen. Es hat insofern Rechtsschutzfunktion.
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Vor diesem Hintergrund umfasst der Begriff [[Prozessrecht]] v.&nbsp;a. sämtliche rechtliche Regelungen über Einleitung, Durchführung und Beendigung eines Prozesses; man mag aber auch noch die Gerichtsorganisation hierzu zählen wollen. Gegenbegriff ist das Sachrecht bzw. materielle Recht als das die Interessenkonflikte der potentiell Berechtigten und Verpflichteten entscheidende Recht. Im Verhältnis zum Sachrecht hat das Prozessrecht primär dienende Funktion. Gerät ein subjektives Recht in Streit, soll es ihm zur Durchsetzung verhelfen. Es hat insofern Rechtsschutzfunktion.
 
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Version vom 15. August 2021, 11:42 Uhr

1. Begriff

Die Bestimmung des Begriffs „E. P.“ hat an seinen einzelnen Begriffselementen anzusetzen. Prozess leitet sich vom lateinischen processus = „Fortgang“ ab. Wie das Wort Prozedere als Synonym für Verfahren zeigt, sind weitere Beschränkungen nicht zwingend begriffsimmanent. Gleichwohl ist heutzutage ein engeres Begriffsverständnis üblich: Prozess ist nur jedes streitige Verfahren vor einem Gericht. Streitig ist ein Verfahren, wenn sich (mindestens) zwei Parteien mit gegenläufigen Interessen gegenüberstehen. Hierdurch werden nicht-kontradiktorische Verfahren (z. B. Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit) ausgeschlossen. Durch den Bezug auf ein Gericht scheiden außergerichtliche Verfahren (z. B. Alternative Streitbeilegung) aus. Die präzise Trennlinie hängt freilich vom jeweiligen Gerichtsbegriff ab. Für einen formellen Gerichtsbegriff ist zentral, dass ein bestimmter Spruchkörper auf gesetzlicher Grundlage mit der Aufgabe betraut ist, Recht zu sprechen. Ein materieller Gerichtsbegriff betont die sachliche Unabhängigkeit gegenüber Exekutive und Legislative und die Unparteilichkeit im Verhältnis zu den Parteien. Letztlich kann der Gerichtsbegriff stets nur kontextspezifisch bestimmt werden. So versteht z. B. der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV unter Gericht jeden ständigen Spruchkörper in Rechtssachen auf gesetzlicher Grundlage, in dem unabhängige Richter anhand von Rechtsnormen in einem streitigen, rechtsstaatlich geordneten Verfahren entscheiden. Ohne Bedeutung ist die Art der Gerichtsbarkeit. Sie kann Verfassungs-, Verwaltungs-, Straf-, Zivil-, Arbeits- oder Finanzgerichtsbarkeit sein.

Vor diesem Hintergrund umfasst der Begriff Prozessrecht v. a. sämtliche rechtliche Regelungen über Einleitung, Durchführung und Beendigung eines Prozesses; man mag aber auch noch die Gerichtsorganisation hierzu zählen wollen. Gegenbegriff ist das Sachrecht bzw. materielle Recht als das die Interessenkonflikte der potentiell Berechtigten und Verpflichteten entscheidende Recht. Im Verhältnis zum Sachrecht hat das Prozessrecht primär dienende Funktion. Gerät ein subjektives Recht in Streit, soll es ihm zur Durchsetzung verhelfen. Es hat insofern Rechtsschutzfunktion.

Das Attribut europäisch wird üblicherweise speziell auf die EU – nichts anderes gilt für ihre Vorgängergemeinschaften – bezogen; gelegentlich meint es aber auch andere europäische Institutionen (z. B. EMRK). Insofern ist es regelmäßig rechtsquellenspezifisch zu verstehen. Europäisch ist das Prozessrecht demnach, wenn die EU für die Rechtssetzung verantwortlich gezeichnet hat. Bisweilen wird auch ein adressatenspezifisches Verständnis verwendet. Dann ist gemeint, dass das Prozessrecht für ein Gericht der EU (EuGH, EuG) gilt.

2. Geschichtliche Entwicklung

Während die Art der Gerichtsbarkeit und damit die jeweilige Sachmaterie für die Qualifikation als E. P. unerheblich ist, so spielte sie doch eine ganz wesentliche Rolle für seine Entwicklung, soweit es rechtsquellenspezifisch verstanden wird. Da für die EU und von jeher das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung galt, konnte sie nur tätig werden, soweit eine entspr.e Kompetenz bestand. Auf der Grundlage von Art. 220 EWGV wurde bereits frühzeitig das „Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen“ (EuGVÜ) 1968 als völkerrechtlicher Vertrag geschaffen, das eine Vereinheitlichung der internationalen Zuständigkeit und eine vereinfachte grenzüberschreitende Anerkennung und Vollstreckbarkeit gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen bewirkte. Den Beginn einer neuen Zeitrechnung markierte Art. 65 EGV idF des Vertrags von Amsterdam, der die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen mit Ausnahme für Dänemark und Sonderregeln für das Vereinigte Königreich und Irland vergemeinschaftete und heute in Art. 81 AEUV fortlebt. Soweit ein Tätigwerden der EU danach stets einen grenzüberschreitenden Bezug der justiziellen Zusammenarbeit verlangt, kann auf seiner Basis zwar keine umfassende europäische Zivilprozessordnung geschaffen werden. Für zivilprozessuale Streitigkeiten mit grenzüberschreitendem Bezug sind in den 2000er Jahren indessen eine Vielzahl von VO und RL verabschiedet worden, die überwiegend das nationale Zivilprozessrecht modifizieren, teils aber auch originär europäische Verfahren vorsehen.

Der Integrationsprozess im Europäischen Strafrecht rückte erst mit dem Vertrag von Maastricht und seiner gegenüber der urspr.n Zielsetzung als Wirtschaftsgemeinschaft ehrgeizigeren Zielvorgabe einer verstärkt politischen Union in den Fokus. Zunächst Teil der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (ZBJI) als der sog.en „3. Säule“ der EU, verblieb die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen dort als Residuum auch nach dem Vertrag von Amsterdam als Teil der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Sie findet nach der Abschaffung des Säulenmodells durch den Vertrag von Lissabon ihre eigenständige Rechtsgrundlage in Art. 82 AEUV. Viele der hier ergangenen Rechtsakte betreffen indessen nicht allein den Strafprozess, sondern bereits das zu ihm hinführende Ermittlungsverfahren.

Eine vergleichbare justizielle Zusammenarbeit in Verwaltungssachen hat sich noch nicht entwickelt. Hier konzentriert sich die Kooperation bislang auf behördliche Verfahren.

Adressatenspezifisch als das Verfahrensrecht der Gerichte der EU verstanden, gibt es demgegenüber das E. P. so lange wie die jeweilige Gerichtsbarkeit der EU selbst.

3. Rechtlicher Rahmen

Den rechtlichen Rahmen für ein EU-rechtsquellenspezifisch verstandenes E. P. liefert das Primärrecht der EU, das mit seinen Kompetenzgrundlagen und seinen Verfahrensgrundrechten der prozessrechtlichen Rechtssetzungstätigkeit der EU Grenzen zieht. Ein adressatenspezifisches Verständnis verweist ebenfalls auf das Primärrecht, das nicht nur einen rechtlichen Rahmen absteckt, sondern ihn in wesentlichen Aspekten bereits ausgestaltet, wie insb. die Regelungen zu den Rechtsschutzformen und das Protokoll über die Satzung des EuGH. Bei einem sachverhaltsspezifischen Verständnis des E.n P.s rückt auch die Rechtssetzungstätigkeit der Mitgliedstaaten in den Blick, die insb. die Grundfreiheiten sowie den Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz zu wahren hat.

4. Praktische Bedeutung

In Abhängigkeit von der Sachmaterie entfaltet ein rechtsquellenspezifisch verstandenes E. P. eine höchst unterschiedliche Bedeutung. Insb. für den Zivilprozess sind die einschlägigen Rechtsakte Legion: Die VO 2012/1245/EU zur internationalen Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, die VO 2003/2201/EG zur internationalen Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehe- und Kindschaftssachen, die VO 2009/4/EG (auch) zur internationalen Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Unterhaltssachen, die VO 2012/650/EU (auch) zur internationalen Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Erbsachen, die VO 2004/805/EG zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, die VO 2007/861/EG zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, die VO 2006/1896/EG zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, die VO 2007/1393/EG (auch) über die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen, die VO 2001/1206/EG über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, die RL 2003/8/EG (auch) zur Prozesskostenhilfe und die RL 2009/22/EG über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen.

Zunehmende Bedeutung haben in jüngerer Vergangenheit auch Rechtsakte mit Relevanz für den Strafprozess gewonnen, wenngleich sie sich regelmäßig übergreifend auf das gesamte Strafverfahren beziehen: RL 2010/64/EU gewährt ein Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen, RL 2012/13/EU ein Recht auf Belehrung und Unterrichtung, RL 2013/48/EU ein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, ein Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und ein Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs. RL 2016/800/EU sieht Verfahrensgarantien für Kinder als Verdächtige oder beschuldigte Personen vor, RL 2016/343/EU die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung, RL 2016/1919/EU Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen und RL 2014/41/EU eine Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen.

Zum adressatenspezifisch verstandenen E.n P. zählen die Verfahrensordnungen von EuGH und EuG und die auf ihrer Grundlage erlassenen praktischen Regeln (z. B. Praktische Anweisungen für Klagen und Rechtsmittel, Praktische Anweisungen für die Parteien vor dem Gericht). Es gewinnt in dem Maße an Einfluss, wie Rechtsschutz originär durch die Gerichte der EU gewährt wird.

Die praktische Bedeutung eines sachverhaltsspezifisch verstandenen E.n P.s hat in den vergangenen Jahren insofern zugenommen, als der EuGH sich zunehmend bemüßigt sieht, die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten im Prozessrecht im Interesse des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes zu relativieren. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist etwa die Rs. Faber v Autobedrijf Hazet Ochten (Urteil vom 4.6.2015, Rs. C-497/13), in der der EuGH die Pflicht zur Prüfung der Verbrauchereigenschaft von Amts wegen annahm und damit die Beweislastverteilung nach nationalem Recht konterkarierte.