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Version vom 8. Juni 2022, 08:18 Uhr
1. Staats- und Rechtstheorie
In der römischen Jurisprudenz wurde der Schlussteil eines Gesetzes sanctio legi genannt, um dessen Verbindlichkeit durch die Androhung von Nachteilen im Falle eines Zuwiderhandelns auszudrücken (Corpus Iuris Civilis, Institutionen 2.1.10: legum eas partes, quibus poenas constituimus adversus eos qui contra leges fecerint, sanctiones vocamus). Dieser Bedeutung der sanctio liegt etymologisch das Verb sancire („weihen“) zugrunde, das sich hier auf Strafgesetze bezieht; durch das Strafurteil wird der Verurteilte an eine Gottheit übereignet. Der Gedanke einer am Jenseits orientierten Verbindlichkeitsgarantie findet sich in der Urkundenpraxis des Mittelalters wieder, in der private Rechte wie auch Herrscherprivilegien mit sog.en Poenformeln versehen wurden, die variantenreich stilisiert eine poena naturalis (kaiserliche Ungnade, Friedlosigkeit, Geldstrafe) oder eine poena spiritualis (geistliche Strafen wie Exkommunikation, ewige Verdammnis) androhten. Seit Konstantin dem Großen wurden ferner kaiserliche Maßnahmegesetze sowie Gesetze mit örtlich begrenzter Geltung sanctiones pragmaticae genannt. Diese Terminologie findet ihre Fortsetzung in den „pragmatischen S.en“, mit denen einerseits Verordnungen in kirchlichen Angelegenheiten, andererseits vom Spätmittelalter bis zur Moderne Erlasse des Monarchen wie auch des Reichstages bezeichnet werden.
Im Staatsrecht gewinnt der Begriff der S. im Frühkonstitutionalismus (Konstitutionalismus) gegen Ende des 18. Jh. Gestalt; in Frankreich bedeutet sanction die Genehmigung von Gesetzen und steht damit im Kontext der umstrittenen Frage nach demjenigen, der die entspr.e Kompetenz des sanctionner innehat: der Monarch, die Nation oder die Stände. Von der deutschen Staatsrechtslehre wird der Begriff der S. zur Bezeichnung desjenigen Stadiums im Gesetzgebungsverfahren übernommen, in dem ein Entwurf formal durch Erteilung des Gesetzesbefehls Rechtskraft erlangt.
Rechtstheoretisch ist unter einer S. ein Nachteil zu verstehen, durch den die Geltung von Recht in zweifacher Hinsicht gewährleistet werden soll: Ungültigem Recht soll die normative Wirksamkeit versagt, gültigem Recht zu faktischer Wirksamkeit verholfen werden. Mit Blick auf die normative Geltung (Gültigkeit) von Recht liegt der S. genannte Nachteil darin, dass Normen oder Ansprüche rechtlicher Wirksamkeit entbehren, wenn die jeweiligen Voraussetzungen gültigen Rechts nicht eingehalten sind, namentlich Verfahrensregeln, Formen und Fristen, Obliegenheiten oder rechtliche und sittliche Prinzipien nicht hinreichend beachtet werden. S.en in diesem Sinne sind etwa die Nichtigkeit von sittenwidrigen Verträgen oder der (partielle) Verlust eines Schadensersatzanspruchs. Hinsichtlich der faktischen Geltung von Recht bedeutet S. eine nachteilige Maßnahme als Reaktion auf eine vom Betroffenen zu verantwortende Normverletzung. Die Androhung und ggf. der Vollzug der S. im Falle einer Zuwiderhandlung dient so der präventiven Durchsetzung von Normen und damit deren allg.er Befolgung zum Zweck sozialer Handlungsorientierung. Die der Kriminologie zugehörige S.s-Forschung befasst sich empirisch mit strafrechtlichen S.en, namentlich von Freiheitsentzug und Geldstrafe, Maßregeln der Besserung und Sicherung, Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln bei Jugendlichen und untersucht die Effizienz der einzelnen S.s-Mittel und ihr Verhältnis zueinander. Neben der für den Begriff der S. paradigmatischen Kriminalstrafe sieht auch das Polizei- und Ordnungsrecht präventive S.en vor, etwa im Gefahrenabwehrrecht mit der Androhung und Verhängung von Zwangsgeld. Ferner können S.en privatrechtlich zur Sicherung der Erfüllung vertraglicher Ansprüche vereinbart werden.
2. Internationales Recht
Das Recht der EU (Europarecht) kennt S.en in Form von Geldbußen bei Verstößen von Unternehmen gegen das europäische Kartell- und Fusionsrecht. Diese Geldbußen sind nicht strafrechtlicher Art (Art. 23 Abs. 5 VO [EG] 1/2003), haben aber gleichwohl einen repressiv-punitiven Charakter und sind damit auf schuldhaftes Fehlverhalten bezogen. Präventiver Zweck ihrer Androhung wie auch Verhängung ist die Stabilisierung der faktischen Geltung materieller Wettbewerbsregeln (Wettbewerbsrecht) und formeller Verfahrensvorschriften. Daneben können als S. alle von den Institutionen der EU angeordneten Zwangsmaßnahmen erachtet werden, insb. das Zwangsgeld, das von der Europäischen Kommission zur Erzwingung eines förmlich angeordneten Verhaltens festgesetzt werden kann.
Das Völkerrecht kennt als S. die Reaktion auf eine Völkerrechtsverletzung Maßnahmen, die den verantwortlichen Staat durch (verhältnismäßige) Nachteilszufügung zur Einstellung seines völkerrechtswidrigen Verhaltens bewegen sollen. Hierbei wird zwischen Retorsion und gewaltfreier Repressalie unterschieden. Retorsion ist eine völkerrechtlich (erlaubte) Maßnahme – z. B. Verbot von Außenwirtschaftsgeschäften, Aussetzung freiwilliger Entwicklungshilfe, Abbruch diplomatischer Beziehungen, Ausweisung von Diplomaten –, die vom betroffenen anderen Staat als unfreundlicher Akt empfunden werden soll. Als Repressalie ist demgegenüber die Vergeltung von Unrecht durch einen an sich verbotenen Eingriff in einzelne Rechtsgüter des betreffenden Staates – z. B. Blockade, Sperrung von Botschaftskonten – anzusehen, um auf diese Weise eine Wiedergutmachung zu erreichen. Als Sonderform der Repressalie kommt auch die Möglichkeit in Betracht, auf Vertragsverletzungen der Gegenseite mit Erfüllungsverweigerung, Suspendierung oder Kündigung zu antworten (Art. 60 WVRK). Völkerrechtliche S.en können zudem durch satzungsgemäße Beschlüsse internationaler Organisationen verhängt werden. So kann etwa der Einsatz von S.en durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (Art. 39 ff. der UN-Charta) kollektive Maßnahmen friedlicher oder militärischer Art gegen den Friedensstörer zum Gegenstand haben.
Mit der Einrichtung des IStGH in Den Haag (2002) wurde die Möglichkeit einer individuellen Verurteilung für Kriegs- und Staatsverbrechen eröffnet, die traditionell dem betreffenden Staat zugerechnet wurden. Das hierzu grundlegende „Römische Statut“ von 1998 wurde von 139 Staaten (ohne USA und China) ratifiziert. Der Strafgerichtshof fällte nach 10 Jahren sein erstes Urteil (ICC, Urteil vom 14.3.2012, Prosecutor v Thomas Lubanga Dyilo). Auch die sog.e stellvertretende Weltrechtspflege durch nationale Gerichte beruht auf internationalen Vereinbarungen, etwa auf den Gebieten des Drogen- und Menschenhandels oder des Luft- und Seeverkehrs. Diese Rechtspflege, die auch die Geltendmachung von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen bei Menschenrechtsverletzungen erfasst, versteht sich als staatliche Intervention in Stellvertretung der Weltgemeinschaft zur Durchsetzung universell verbindlicher Normen.
3. Sozialwissenschaften
Im Rahmen der Funktionsanalyse gesellschaftlicher Strukturen umfasst der sozialwissenschaftliche Begriff der S. jede von der Gesellschaft oder ihren einzelnen Gruppen angedrohte oder getroffene Maßnahme gegen regelwidriges Verhalten, durch die ausgedrückt wird, dass abweichendes Verhalten (Devianz) nicht hingenommen wird. Solche Reaktionen können formalisiert (z. B. Rechtsfolgen) wie auch diffuser Natur (wie Spott, gesellschaftliches „Schneiden“ oder Boykott) sein. Im Kontext der sozialen Kontrolle erhält der sozialwissenschaftliche Begriff der S. komplementär zu dem negativen Aspekt der Nachteilszufügung noch den positiven Aspekt der Belohnung als ein zur Regelbefolgung motivierender Faktor. Bei der Verinnerlichung und verbindlichen Übernahme einer Verhaltensregel kann das im Falle der Regelabweichung auftretende Schuldgefühl als innere S. bezeichnet werden.
Literatur
K. F. Gärditz: Überstaatliche Strafgewalt – Weltstrafrecht, in: HStR, Bd. 11, 32013, § 245 • C. Waldhoff: Vollstreckung und Sanktionen, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hg.): Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 3, 22013, § 46 • H. Peters: Devianz und soziale Kontrolle, 32009 • T. Geiger: Die Rechtsnatur der Sanktion, 2006 • O. Behrends u. a. (Hg.): Corpus Iuris Civilis, Bd. 1, 21997 • M. Böse: Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1996 • G. Spittler: Norm und Sanktion, 1967 • P. Laband: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4 Bde., 51911–14 • T. Mommsen: Römisches Strafrecht, 1899.
Empfohlene Zitierweise
U. Kindhäuser: Sanktion, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sanktion (abgerufen: 27.11.2024)