Gebietsreform: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Category:Rechtswissenschaft]]

Version vom 14. November 2022, 05:55 Uhr

1. Begriff, Einordnung in verschiedene Formen von Verwaltungsreformen

Die G. als eine Form der Territorialreform betrifft den geplanten, systematischen Neuzuschnitt von Verwaltungsbezirken und Verwaltungseinheiten, vorrangig der Selbstverwaltung und grenzt sich damit von bloß punktuellen Veränderungen von Verwaltungsgrenzen ab. Theoretisch gehört auch ein Neuzuschnitt der Gliedstaaten im Bundesstaat, eine in Art. 29 GG geregelte Materie, dazu; üblicherweise wird diese Frage jedoch getrennt behandelt. Die G. ist ein Teil einer umfassend gedachten Verwaltungsreform; neben anderen Reformansätzen ist die sog.e Funktionalreform mit ihr untrennbar verbunden. Während es bei der G. um den territorialen Zuschnitt von Verwaltungseinheiten geht, behandelt die Funktionalreform den Wandel in der Aufgabenzuweisung der verschiedenen Ebenen einer gestuft gedachten Verwaltung.

G.en folgen in Deutschland üblicherweise dem Grundsatz der „Einräumigkeit der Verwaltung“, d. h. der gestufte modulare Verwaltungsaufbau passt sich jeweils in die nächsthöhere Verwaltungsstufe ein: Gemeindegebiete sprengen keine Kreisgrenzen, Kreisgebiete nicht den räumlichen Bereich eines Regierungsbezirk; letztere stellen sich als Untergliederungen von Ländern als Gliedstaaten in der Bundesstaatlichkeit dar usw.

Bei G.en stehen sich regelmäßig die Ziele der Steigerung von Verwaltungseffizienz und überkommene Traditionen und damit auch Identifikationen gegenüber: Ein oftmals technokratischer Anspruch kollidiert mit den Vorteilen von Kleinräumigkeit, von Identifikationsmöglichkeiten und räumlich gedachter Bürgernähe. Während es G.en schon immer, v. a. auch im 19. Jh. im Gefolge der Hochindustrialisierung gegeben hatte, lag der Schwerpunkt der modernen G.en als kommunale G. in dem Zeitraum etwa zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre und kann damit nur vor dem Hintergrund der seinerzeitigen Planungseuphorie verstanden werden. Einen Anstoß gab der 45. Deutsche Juristentag, der sich mit dem Gutachten Werner Webers des Themas annahm. Ein durchaus technokratischer Zugriff, der von der Plan- und Machbarkeit auch von Verwaltungsstrukturen ausging, rieb sich mit dem oftmals ausgeprägten Traditionsbewusstsein weiter Teile der Landbevölkerung. Gleichzeitig kann nicht bestritten werden, dass eine unüberschaubare Anzahl von Klein- und Kleinstgemeinden modernen Anforderungen an die staatliche wie kommunale Verwaltung kaum mehr gerecht werden konnte. Eine ausgeprägte bürgerschaftliche Protestbewegung und eine Fülle von Gerichtsverfahren begleitete die kommunale G. In der Gegenwart spielen Fragen einer G. v. a. in zwei Zusammenhängen eine Rolle: In den neuen Bundesländern als gleichsam „nachholende“ Reform auf Gemeinde- bzw. Kreisebene; in allen (Flächen-)Ländern hinsichtlich der Mittelstufe der Verwaltung, d. h. den Regierungsbezirken.

2. Kommunale Gebietsreform

Den Schwerpunkt der G.en bildete und bildet die kommunale Ebene: Die Zusammenlegung von Gemeinden und von Kreisen war bestimmend. Konzeptionell führend war in den 1960er Jahren NRW unter Innenminister Willy Weyer (FDP), wo sich in theoretischer Konzeption Aspekte der Verwaltungseffizienz mit übersteigerten Erwartungen an die Landesplanung (Raumordnung und Landesplanung) verbanden. Am radikalsten ging Hessen vor, dessen Hybris in der – später wieder aufgelösten – Gemeinde „Lahn“ Berühmtheit erhielt. Sehr unterschiedlich war die Einbeziehung von Formen kommunaler Zusammenarbeit. Eine bemerkenswerte, inzwischen auch historisch und sozialwissenschaftlich erforschte Protestwelle im ländlichen Raum war die Folge der G. im kommunalen Bereich. Sie zeigte deutlich, dass Technokraten das Identifikationspotenzial der räumlichen Ordnung in sozial-technokratischer Gestaltungs-Obsession massiv unterschätzt hatten. Erfolgreich waren die Proteste mittels Gerichtsverfahren in Einzelfällen. Die Emotionen sind inzwischen abgekühlt, das Thema historisiert.

Die Statistik gibt einen Überblick über die Dimension der Reform der 1960er/70er-Jahre.

Land 1968 1978 Prozentsatz der Verringerung
Baden-Württemberg 3 379 1 111 67,1
Bayern 7 077 2 052 71,0
Hessen 2 684 423 84,2
Niedersachsen 4 231 1 030 75,7
Nordrhein-Westfalen 2277 396 82,6
Rheinland-Pfalz 2 905 2 320 20,1
Saarland 347 50 85,6
Schleswig-Holstein 1 378 1 132 17,9

Tab. 1: Verringerung der Gesamtzahl der Gemeinden zwischen 1968 und 1978

Land 1968 1978 Verringerung in Prozent
Baden-Württemberg 9 9 0
Bayern 48 25 47,9
Hessen 9 6 33,3
Niedersachsen 15 9 40,0
Nordrhein-Westfalen 37 23 37,8
Rheinland-Pfalz 12 12 0
Saarland 1 0 100,0
Schleswig-Holstein 4 4 0

Tab. 2: Verringerung der Zahl der kreisfreien Städte zwischen 1968 und 1978

Land 1968 1978 Verringerung in Prozent
Baden-Württemberg 63 35 44,4
Bayern 143 71 50,4
Hessen 39 20 48,7
Niedersachsen 60 37 38,3
Nordrhein-Westfalen 57 31 45,6
Rheinland-Pfalz 39 24 38,5
Saarland 7 6 14,3
Schleswig-Holstein 17 11 35,3

Tab. 3: Verringerung der Zahl der Landkreise zwischen 1968 und 1978

(Quelle: W. Thieme/G. Prillwitz: Durchführung und Ergebnisse der kommunalen Gebietsreform, 1981, 78ff.)

3. Rechtsprobleme

Seit Ende der 1960er Jahre waren zunächst die Landesverfassungsgerichte, dann – in geringerem Umfang – auch das BVerfG mit der gerichtlichen Kontrolle von G.en befasst. Der VerfGH Rheinland-Pfalz setzte mit Urteil vom 17.4.1969 den Auftakt (VGH 2/69): Die (hier: landesverfassungsrechtliche) Garantie kommunaler Selbstverwaltung schütze nicht die Existenz der konkreten einzelnen Gemeinde, sondern nur Gemeinden als solche. Für Gesetze, die kommunale G. anordneten, gelte ihre strikte Gemeinwohlorientierung (Gemeinwohl) sowie die Pflicht, die betroffenen Gebietskörperschaften anzuhören. Es handele sich um eine legitime Aufgabe des Parlaments, dem ein Prognose- und Einschätzungsspielraum zustehe. Die gerichtliche Überprüfung beschränke sich auf die Kontrolle, ob die räumliche Neuordnung von systemgerechten Erwägungen getragen sei. Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit wurde dabei innerhalb der Garantie kommunaler Selbstverwaltung zur Konkretisierung der Rechtfertigungsanforderungen der Gemeinwohlorientierung bemüht; der Sache nach handelte es sich um die Ausbildung operabler Prüfungskriterien für einen praktisch konturenlosen Prüfungsmaßstab. Der nordrhein-westfälische VerfGH schloss sich dieser Linie an (OVGE 26, 270 und 286). Das am Rande mit diesen Fragen befasste BVerfG schwankte in der Beurteilung (einerseits übereinstimmend BVerfGE 50, 50; 86, 90; deutlich zurückhaltender BVerfGE 107, 1). Im Zuge der G.en in den neuen Länder nach 1990 ragt das Urteil des LVerfG Mecklenburg-Vorpommern vom 26.7.2007 heraus (LVerfG 9/06). Hinsichtlich der Kreisreform in diesem Bundesland wird die Bürgernähe als gleichwertiges Gegenlager zu den Gesichtspunkten der Verwaltungseffizienz anerkannt. Landkreise, in denen die zentralen Einrichtungen nur erschwert und mit beträchtlichem Aufwand räumlich erreichbar seien, entbehren danach ihrer Legitimation. Verwaltungseffizienz ist damit nicht mehr Leitgesichtspunkt, sondern nur noch Abwägungsbestandteil bei der gerichtlichen Kontrolle.

4. Aktuelle Fragen

In der Gegenwart stellt die demographische Entwicklung in ländlich geprägten Gebieten und die asymmetrische Entwicklung von städtischen und ländlichen Räumen die Frage nach der G. neu und verschärft die Problematik: Welche Grenzen eines ökonomisch sinnvollen Rückbaus von Infrastruktur und damit auch Verwaltungsräumen stößt an welche Grenzen, die jetzt vorwiegend als tatsächliche Chancen demokratischer Teilhabe verstanden werden?