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Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr
S. hat mehrere alltagssprachliche und wissenschaftliche Bedeutungen, die sich nur teilweise überlappen und in der Geschichte der Sozialwissenschaften, insb. der Ethnologie, Soziologie und Politikwissenschaft, wiederholt revidiert wurden.
1. Sprache und koloniales Erbe
Alltagssprachlich wurde und wird der Ausdruck S. pauschal und oft abwertend für alle Gesellschaften verwendet, die im kolonialen Denken (Kolonialismus) als vormodern, vorindustriell oder allg. als Zeugen einer vergangenen Entwicklungsstufe der Menschheit galten. Diese ausgrenzende Verwendung zeigt sich in seiner W urzel Stamm (englisch tribe, französisch tribu) und seiner Generalisierung als ethnischer oder politischer Einheit, die Objekt kolonialer Herrschaft oder später nachholender Modernisierung durch Entwicklungszusammenarbeit war oder ist. S.en waren Gesellschaften, die nicht der Gegenwart angehörten und die wesentlich anders organisiert waren als die eigene, moderne Gesellschaft. Mit Hilfe dieses Gegenbildes versicherten sich die Kolonialmächte der eigenen Überlegenheit. Die koloniale Sicht auf außereuropäische Gesellschaften als dem Gegenüber des Globalen Nordens, bzw. das imaginierte Andere der westlichen Moderne wurde unter dem Etikett der S. in eine scheinbar natürliche Dichotomie gegossen, mittels derer (post-)koloniale Akteure (Postkolonialismus) aus „entwickelten“ Ländern Interventionen in das Leben der Menschen legimitieren zu können glaubten.
Seit der Dekolonialisierung der Ethnologie und, in geringerem Maße, der Soziologie in den 1980er und 90er Jahren wird der Begriff S. heute nur noch selten verwendet oder rundweg abgelehnt. Dazu trug auch die vehemente Ablehnung durch Intellektuelle und Wissenschaftler aus dem Globalen Süden bei, die sich durch den Begriff herabgewürdigt sahen.
2. Das strukturfunktionalistische Modell
In der modernen, klassisch-strukturfunktionalistisch geprägten Ethnologie britischer Prägung wurden unter S.en in einem engeren Sinne solche verstanden, deren wichtigsten sozialen Verbände sich durch verwandtschaftliche Abstammung konstituieren. Dieser liegen oft unilineare Deszendenzregeln zugrunde, d. h. die Zugehörigkeit wird entweder in matri- oder patrilinearer Linie bestimmt. Analog zum Englischen werden sie als Lineages bezeichnet, welches in der deutschsprachigen Ethnologie das ältere Stamm oder Linie verdrängt hat. Die Größe einer Lineage folgt der genealogischen Tiefe, d. h. der Zahl der Generationen seit dem letzten, allen Mitgliedern gemeinsamen Vorfahren. Als sozialer Verband wird in einer Lineage Solidarität aller Mitglieder zu allen Mitgliedern erwartet. Abweichendes Handeln wird nötigenfalls sanktioniert, wobei die Älteren, die dem Vorfahren näher stehen, in aller Regel Macht über die Jüngeren ausüben. Die erwartete solidarische Grundhaltung äußert sich als amity, d. h. präskriptiver Altruismus, sowie in einer Ökonomie, in der moralische Verpflichtungen gegenüber anderen Mitgliedern derselben Lineage vor individueller Gewinnmaximierung stehen. Kulturell werden Lineages häufig als ein sozialer Körper vorgestellt, dessen Gedeihen oder Verletzung immer alle Mitglieder trifft.
Der durch Abstammung definierten Mitgliedschaft und Solidarität nach innen steht die Reziprozität des Tausches zwischen den Lineages als sozialen Verbänden gegenüber. Arbeitsleistungen, Waren, Geld werden als Pflichten gegenüber anderen Lineages aufgerechnet und meist genau ausgeglichen. Dadurch werden Beziehungen und oft dauerhafte Allianzen geschaffen. Ein wichtiges Mittel, eine solche Allianz zu verstetigen, sind vielfach Ehen bzw. im strukturalistischen Duktus der Tausch von Frauen. Dabei sind Regeln zu befolgen. Häufig darf zwischen zwei Lineages in einer Generation nur eine eheliche Verbindung geschlossen werden, so dass die Gabe einer Frau erst in der nachfolgenden Generation erwidert werden kann. Derartige Allianzen können mithin eine große zeitliche Tiefe erreichen und integrieren in der Summe die einzelnen Lineages gesellschaftlich.
Andere Institutionen, die die einzelnen Lineages aneinander binden, können hinzutreten, existieren jedoch nicht in allen S.en. Dazu gehören Altersklassen, die Männer und Frauen gleichen Alters aus verschiedenen Lineages in Verbänden zusammenfassen, die quer zu den verwandtschaftlich konstituierten Abstammungsgruppen stehen. Mitgliedschaft in Altersklassen ist oft obligatorisch und nach Geschlechtern getrennt, so dass junge Männer und Frauen bereits früh lernen, über die Grenzen ihrer Lineages zu kooperieren. Der Eintritt ist i. d. R. rituell überhöht und kommt dann einer Initiation gleich, in der Rechte und Pflichten gelernt und die Ethik eines anerkannten erwachsenen Mitglieds der Gesellschaft vermittelt werden. Dabei stehen religiöse Grundüberzeugungen im Dienste der verwandtschaftlichen Organisation. Sie bestätigen einerseits die dominierende Rolle der Alten, die den Vorfahren näher stehen, und erlauben andererseits den Jungen, während der rituellen Passage in das Erwachsenenalter diese Normen für eine eng begrenzte Zeit zu unterlaufen. Klassische Beispiele solcher S.en sind die Weidewirtschaft betreibenden Nuer, Südsudan, und die vom Ackerbau lebenden Tallensi, Ghana.
3. Historisch-materialistische Perspektiven
S.en sind durch eine Balance der Rechte und Pflichten der Menschen zu ihren grundlegenden sozialen Verbänden und Institutionen charakterisiert. Der generellen Solidarität zur eigenen Lineage stehen immer die individuellen reziproken Verpflichtungen zu anderen Lineages gegenüber, aber auch zu Institutionen wie den Altersklassen, die quer zu den Abstammungsgruppen den Einzelnen zur Zusammenarbeit mit Mitgliedern anderer Lineages verpflichten. Macht wird innerhalb der eigenen Abstammungsgruppe ausgeübt, aber zwischen den Verwandtschaftsverbänden kann Herrschaft weitgehend vermieden werden. Aus einer kritischen, historisch-materialistischen Perspektive sind Lineages zugl. Produktions- und Konsumeinheiten, die v. a. die Stellung der Alten sichern, welche mittels verwandtschaftlicher Autorität über die Arbeitskraft der Jüngeren verfügen. Da in den oft landwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsweisen von S.en die Arbeitskraft des Haushalts (und nicht der Zugang zu Land) der limitierende Faktor ist, muss deren verwandtschaftliche Organisation als Teil der politischen Ökonomie verstanden werden. Eine solche häusliche Produktionsweise ist durch die verwandtschaftlichen Verhältnisse legitimiert, deren vermeintlich natürlichem Charakter eine doppelte ideologische Funktion zukommt: er rechtfertigt die Ausbeutung der Jungen durch die Alten sowie die der Frauen durch die Männer.
So ungleich die Allokation der Arbeitskraft innerhalb der Lineages ist, so wenig führt sie jedoch zu einer Herrschaft einzelner Verwandtschaftsverbände. Da die Größe der Abstammungsgruppen durch annähernd gleiche genealogische Tiefe reguliert wird, haben sie etwa die gleiche Zahl von Mitgliedern und damit ähnliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Dadurch und zusammen mit den reziproken Verpflichtungen ist es einzelnen Verbänden kaum möglich, eine dominante politische Stellung zu erreichen. Die Balance der Institutionen mit ihren einander ausgleichenden Rechten und Pflichten garantiert politische Stabilität, die auch als „ordered anarchy“ (Evans-Pritchard 1940: 5) oder „regulierte Anarchie“ (Sigrist 1967) bezeichnet wird. S.en bedürfen mithin nicht notwendig zentraler politischer Institutionen wie eines Häuptlingstums oder eines außerweltlich legitimierten Herrschers, z. B. eines sakralen Königs.
S.en ohne zentrale politischen Institutionen sind als staatenlose, segmentäre oder akephale, wörtlich „kopflose“, Gesellschaften bezeichnet worden. Es sind nicht die einzigen Gesellschaften ohne Staat oder politische Herrschaft. Auch Wildbeutergesellschaften sind akephal bzw. staatenlos, lassen sich aber genauso wenig als S.en beschreiben wie die meisten Händlergesellschaften, industriellen und städtischen Gesellschaften. Sie haben meist ein flexibles, offenes Verwandtschaftssystem, dem die nach Abstammung gebildeten sozialen Verbände fehlen.
Was S.en bemerkenswert macht, ist deren relative Größe. Aus der Geschichte sind Siedlungen mit 5 000 oder noch mehr Einwohnern ohne zentrale politische Institutionen bekannt. Deren bloße Existenz war eine Herausforderung des kolonialen Denkens und später der modernen politischen Theorie. Die hobbessche Grundannahme, dass jede menschliche Gesellschaft eines staatlichen Gewaltmonopols, des Leviathans, bedürfe, damit der Mensch nicht in den Naturzustand zurückfiele und jeder wieder des anderen Wolf werde, wird von S.en widerlegt. Dass Anarchie (Anarchie, Anarchismus), wörtlich „Herrschaftslosigkeit“ nicht gleich Chaos und soziale Anomie bedeutet war ein zentraler empirischer Befund der politischen Anthropologie. Entspr. fasziniert waren anarchistische Theoretiker von Gesellschaften, denen es am Rande des kapitalistischen Weltsystems gelang, eine solche politische Ordnung zu bewahren.
4. Postkoloniale Ansätze
Segmentäre bzw. akephale Gesellschaften bilden seit dem späten 19. Jh. ein zentrales Thema der politischen Anthropologie. Mit dem Zweifel an dem modernen Modell institutioneller Balance rückten im ausgehenden 20. Jh. neue Aspekte in den Vordergrund. Anarchische Gesellschaften zeichnet häufig eine spontane und heftige Ablehnung jedweder Herrschaft aus. Solche kollektiven Intentionen – und nicht die systemisch begründete Balance zwischen den sozialen Verbänden – sind mitunter als Voraussetzungen verstetigter anarchischer S.en bezeichnet worden. Andernfalls werde eine S. früher oder später zentrale politische Institutionen entwickeln. Stammesälteste würden zunächst zu sog.en big men oder grands hommes, deren dominante Stellung jedoch noch auf persönlicher Autorität beruht. Dem folgten Herrscher, die chiefs, chefs oder Häuptlinge, die ihr Amt vererbten, und schließlich der Staat.
Diesem linearen Modell politischen Wandels wurde umgehend widersprochen. Ihm steht die These gegenüber, dass S.en sich nur unter den Bedingungen befriedeter, etablierter Staatlichkeit zu den ausbalancierten Formen entwickeln konnten, die das strukturfunktionalistische Modell und die anarchistische Perspektive als autonom auszeichneten. Die regulierte Anarchie sei linker Romantik (Politische Romantik) entsprungen. Die empirische Forschung zeigt jedoch auch, dass soziale Formationen durchaus akephale Strukturen von S.en (wieder) annehmen können, also sich von zentraler Herrschaft abwenden. Solche sozialen Räume können eng begrenzt oder diffus und weit gestreut sein. Sie entstehen auch heute. In vielen Gebieten, in denen kriegerische Auseinandersetzungen geführt werden, können sich segmentäre gesellschaftliche Formationen immer dort bilden, wo es den Menschen gelingt, sich veralltäglichter Gewalt zu entziehen. Die 2012 als Rojava bekannte autonome Region in Nordostsyrien kann in diesem Sinne gedeutet werden.
Ein weiterer Einwand richtete sich gegen das institutionelle Modell selbst, denn die Lineages sind oft im alltäglichen Leben der Menschen kaum sichtbar. Die Existenz der Lineages ist gleichsam an Situationen gebunden, in denen der Rückgriff auf sie es den Akteuren erlaubt, bestimmte individuelle oder kollektive Rechte einzufordern bzw. politische Ansprüche zu erheben. Einem Akteur ist es möglich, in einer gegebenen Situation auf verschiedene Rollenmodelle zurückzugreifen, die ihm als separate Register durch seine Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Verbänden offen stehen. In der konventionellen Formulierung heißt das, dass er bspw. entweder als Mitglied einer Lineage oder einer Altersklasse handeln kann. Dabei (re-)produziert er durch sein Handeln erst jene institutionellen Strukturen, die ihm im klassischen Modell nur vorgegeben sind. Der Gegensatz zwischen Struktur und individuellem Handeln wird in dieser Perspektive aufgelöst. Demnach sind S.en verstetigte Praktiken, die nicht ohne die Handelnden bestehen. Die Menschen haben daher auch die freie Wahl, zu solchen Praktiken zu greifen, wann immer sie ihnen vorteilhaft erscheinen – oder sie zu verwerfen. Der Weg in die staatlich verfasste Gesellschaft (Staat) ist keine Einbahnstraße.
Literatur
J. Scott: The Art of Not Being Governed, 2009 • D. Graeber: Fragments of an Anarchist Anthropology, 2004 • M. Strathern/M. Godelier (Hg.): Big Men and Great Men, 1991 • H. Barclay: People Without Government, 1990 • J. Fabian: Time and the Other, 1983 • M. Godelier: La production des grands hommes, 1982 • C. Meillassoux: Femmes, greniers et capitaux, 1975 • P. Clastre: La société contre l’État, 1974 • M. Fried: The Evolution of Political Society, 1967 • C. Sigrist: Regulierte Anarchie, 1967 • J. Middleton/D. Tait (Hg.): Tribes Without Rulers, 1958 • M. Fortes: The Web of Kinship Among the Tallensi, 1949 • Ders.: The Dynamics of Clanship Among the Tallensi, 1945 • E. Evans-Pritchard: The Nuer, 1940 • É. Durkheim: De la division du travail social, 1893.
Empfohlene Zitierweise
T. Förster: Stammesgesellschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Stammesgesellschaft (abgerufen: 24.11.2024)