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Version vom 14. November 2022, 06:01 Uhr
Der Grundsatz von T. und G. (siehe auch Generalklausel) lässt sich wegen seiner Unbestimmtheit und Weite abstrakt kaum fassen, in diese Richtung zielende Definitionsversuche blieben willkürlich. Anderseits greift es zu kurz, T. und G. als Leerformel ohne inhaltlich-informative Vorgaben zu verstehen, weil das Prinzip bei der Anwendung im Einzelfall konkrete Formen annimmt, die über Zeit und Raum hinweg in ihrer rechtsystematischen Stellung und Funktion erstaunlich beständig sind. Eine inhaltliche Annäherung scheint aus a) semantischer, b) historischer, c) systematischer und d) teleologischer Perspektive möglich:
a) Die in der ersten Hälfte des 14. Jh. entstandene Paarformel T. und G. fasst zwei Ausdrücke mit weitgehend synonymer Bedeutung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zusammen: „T.e“ meint subjektiv die Bereitschaft zur Einhaltung eines Versprechens und objektiv Zuverlässigkeit, „G.“ das Vertrauen auf die T.e des anderen Teils. Der Wortlaut kann jedoch nur ein erster Anhaltspunkt sein, der Sinngehalt der Formel geht weit über den ihrer Einzelelemente hinaus.
b) Anknüpfungspunkt der römischen Juristen war die im religiösen Kontext und wohl unter Einflüssen der stoischen Philosophie entstandene fides als das beständige und aufrichtige Worthalten (Cicero, off. 1, 23, 1). Diese wurde bald um das Adjektiv bonus erweitert und damit vor einen breiteren, weil nicht mehr religiös rückgebundenen und auch außerrechtliche Vorstellungen und die Verkehrssitte beachtenden Wertungshorizont gestellt. Mit den im 3. Jh. v. Chr. aufkommenden bonae fidei iudicia (Klagen nach guter T.e) wurde die bona fides gleichermaßen Geltungsgrundlage und Beurteilungsmaßstab von Schuldverhältnissen. Durch die klassische Vertragslehre (Vertrag), welche sie auf die psychologische Überzeugung von der Rechtmäßigkeit einer Position („guter G.“) reduzierte und den Niedergang des eng mit ihr verbundenen Formularprozesses, verlor sie an Bedeutung und wurde im Frühmittelalter von der breiter konzipierten, wenn auch kaum unterscheidbaren, aequitas (Billigkeit) verdrängt. Die lange Blüte der aequitas, welche sich, neben der im Hochmittelalter einsetzenden Aristoteles-Rezeption, v. a. mit ihrer Komplementarität zur christlichen Glaubenstreue und zu den Naturrechtskonzeptionen (Naturrecht) der Frühen Neuzeit erklären lässt, endete im 18. Jh., an der Schwelle zum Kodifikationszeitalter, als die Kritik an der freien Rechtsschöpfung zunahm. Die Pandektenwissenschaft wie auch die Kodifikationen des 19. Jh. stützten sich begrifflich wieder auf die bona fides bzw. die inhaltlich mittlerweile vollkommen mit ihr verschmolzene Formel von T. und G. Interpretiert als grundlegendes Vertrauensprinzip konnte und wurde T. und G. vom Richter weit im gesamten Obligationenrecht und auch entgegen abweichender Parteiinteressen angewendet. In § 242 BGB hat sie einen gesetzlichen Anker gefunden. Ihr rechtlicher Gehalt und damit der Grund, Umfang und Maßstab des richterlichen Eingriffes wurde schnell Gegenstand einer intensiven Debatte, in welcher sich eine weite, weniger auf die Lückenhaftigkeit der Leistungspflicht und den (mutmaßlichen) Parteiwillen als auf die Ungerechtigkeit des Schuldverhältnisses allg. abstellende gesellschaftliche Auffassung endgültig durchsetzte. Diese bot der Rechtsprechung umfassende Spielräume, welche sie in der angespannten wirtschaftlichen Situation der Jahre 1914–1923 immer weiter, und bei zunehmender Kritik, ausreizte (sog.er Aufwertungskampf). Während des Nationalsozialismus wurde die gesellschaftliche Interpretation weiter zugespitzt: T. und G. wurde nicht mehr als rein privatrechtlicher Ausgleichsmaßstab verstanden, sondern als Ableitung des obersten Rechtsprinzips „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ auf die Interessen des „Volksganzen“ bezogen. Damit ging der Grundsatz wie automatisch jeder anderen Regelung vor, und konnte vom nur in diesem Sinne freien Richter zur Umgestaltung der Rechtsordnung nach nationalsozialistischen Vorstellungen genutzt werden. Nach 1945 wurde die Norm zwar nicht mehr offen politisch instrumentalisiert, die gesellschaftliche Deutung aber wurde fortgeführt: An die Stelle der nationalsozialistischen Anschauung traten in der DDR die „Grundsätze der sozialistischen Moral“; in der BRD wurde die Formel zu einer „Einbruchstelle“ von Verfassungsprinzipien in das Privatrecht. Nach dem Mauerfall wurde T. und G. genutzt, um Unbilligkeiten des DDR-Rechts und infolge des unerwarteten Umbruches zu bewältigen.
c) T. und G. steht als allg.er Rechtsbegriff in einem bes.n Verhältnis zum Recht: Als Fundament jeder Rechtsordnung, Maßstab der Einzelbestimmung und sozialethisches Prinzip hat er vor-, über- und außerrechtlichen Charakter (Justus Wilhelm Hedemann bezeichnet T. und G. deshalb als „königliche Regel“ [Hedemann 1913: 10]). Zugleich ist er insb. in Gestalt des § 242 BGB Teil des geltenden Rechts, also Rechtsnorm, nicht nur Rechtsgedanke.
d) Daran anknüpfend bietet sich eine zweigeteilte Betrachtung der Funktionen von T. und G. an. Aus einer pflichtenbezogenen, das einzelne Schuldverhältnis in den Blick nehmenden Perspektive kann § 242 BGB bestehende Rechte und Pflichten konkretisieren (Konkretisierungsfunktion), wenn auch durch die zunehmende Kodifikation von Fallgruppen deutlich eingeschränkt, erweitern, also zusätzliche Nebenpflichten begründen (Ergänzungsfunktion) sowie korrigieren und damit urspr.e Rechte beschränken (Korrekturfunktion). Gewissermaßen quer dazu liegt eine wortlautfernere, systembezogene Perspektive: T. und G. kommt hier auf inhaltlicher Ebene eine Gerechtigkeitsfunktion zu, deren Kern zwischen den Polen der Abmilderung unbilliger Härten (Billigkeitsfunktion), der Realisierung eines sozialen Ideals (Sozialfunktion) und der Durchsetzung des „objektiven Geistes der Werteordnung“ bzw. der Interessen der Gemeinschaft (Gesellschaftsfunktion) gesucht wird. Auf einer Wirkungsebene ist T. und G. Bekenntnis des Gesetzgebers und Appell an Richter und Rechtssubjekte, v. a. aber Auslegungsmaßstab des Richters für den Einzelfall. Mit Verweis auf § 242 BGB kann dieser den Sachverhalt in seiner Gesamtheit würdigen und hat damit gewisse „Lösungsfreiheiten“, wenn konkrete Realitäten und notwendig starre, allg.e Regelungen aufeinanderprallen. Als Mittel richterlicher Rechtsfortbildung sorgt T. und G. so für die Anpassungsfähigkeit des Rechts an sich wandelnde soziale Verhältnisse und Wertevorstellungen und damit für dessen Aktualität und Anwendbarkeit schlechthin. Zugleich birgt die Berufung auf T. und G. die Gefahr, dass gesetzgeberische Wertungen durch politische Programme überspielt oder individuelle Beliebigkeiten verwässert werden. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass dieses Spannungsfeld zwischen richterlicher Entscheidungsflexibilität (Freiheit) und einer beständigen und damit verlässlichen Rechtsordnung insgesamt (Sicherheit [ Rechtssicherheit ]), einem Spannungsfeld, bei dem beide Pole gleichermaßen zu Gerechtigkeit wie Ungerechtigkeit führen können, durch eine gewisse Selbstbeschränkung des Richters und insb. die Bildung von Fallgruppen aufgelöst werden kann.
Literatur
D. Looschelders/D. Olzen: § 242, in: J. von Staudinger: Komm. zum BGB, §§ 241–243, 132015, 339–735 • T. Duve/H. P. Haferkamp: § 242, in: J. Rückert/M. Schmoeckel/R. Zimmermann (Hg.): Historisch-kritischer Komm. zum BGB, Bd. 2, Teilbd. 1, 2007, 274–364 • O. Behrends: Die bona fides im mandatum, in: M. Avenarius/R. Meyer-Pritzl/C. Möller (Hg.): Institut und Prinzip, Bd. 2, 2004, 806–838 • S. Whittaker/R. Zimmermann (Hg.): Good Faith in the European Contract Law, 2000 • D. Nörr: Die Fides im römischen Völkerrecht, 1991 • J. W. Hedemann: Die Flucht in die Generalklauseln, 1933 • Ders.: Werden und Wachsen im Bürgerlichen Recht, 1913.
Empfohlene Zitierweise
T. Duve, C. Schüppel: Treu und Glauben, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Treu_und_Glauben (abgerufen: 21.11.2024)