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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:11 Uhr
1. Begriff
Kontrolle (K.) prüft die Richtigkeit von Handlungen oder wirkt auf sie hin. P. K. kann in zwei Richtungen wirken: Regierende üben sie über die Regierten aus, was Diktaturen kennzeichnet. Umgekehrt können die Regierten die Regierenden kontrollieren, etwa nach den Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit (Rechtsstaat), Gewaltenteilung und Demokratie sowie durch kritische Medien. Um diese Wirkung p.r K. geht es hier.
2. Politische Kontrolle als Aufsicht über fremde Amtsführung und als Mitregieren
„Aufsicht über fremde Amtsführung“ (Bäumlin 1966: 244) ist die bekannteste Form p.r K. Gemessen wird das Verhalten eines anderen an dafür vorgesehenen Maßstäben, anhand deren Kritik geübt und auf Korrekturen gedrängt wird. Gegebenenfalls wird angemessene Bestrafung für Fehlverhalten („Sanktion“) gefordert, u. U. sogar die Amtsentfernung. Auf diese Weise kontrolliert im präsidentiellen Regierungssystem die Legislative die Regierung mitsamt den – der Regierung unterstellten – Exekutivbehörden. Gleiches tut im parlamentarischen Regierungssystem die Opposition gegenüber Regierung, regierungstragender Parlamentsmehrheit sowie Regierungsapparat. Vielleicht noch wichtiger ist die zweite Form p.r K. durch Mitwirkung bzw. Mitregieren: Wessen Unterstützung für eine Handlung notwendig ist, der kontrolliert den Handelnden („Zwei-Schlüssel-Prinzip“, „Vier-Augen-Prinzip“). Auch im präsidentiellen Regierungssystem kontrolliert die Legislative so die Regierung: Ohne Budgetzuweisungen oder erforderliche gesetzliche Grundlagen kann diese nicht agieren. Im parlamentarischen Regierungssystem ist K. durch Mitregieren sogar die typische Kontrollform regierungstragender Fraktionen, ausgeübt von deren Fachpolitikern gegenüber „ihren“ Ministerien, von Fraktionsführern gegenüber „ihren“ Teilen der Regierung, und wechselseitig von den Koalitionspartnern (Koalition).
Während im präsidentiellen Regierungssystem beide Kontrollformen von der ganzen Legislative in variablen Akteurskonstellationen sowie mit wechselnden Prioritätensetzungen ausgeübt werden, gibt es im parlamentarischen Regierungssystem eine klare Zuweisung beider Kontrollarten: K. durch Mitregieren üben die regierungstragenden Fraktionen, K. als Aufsicht über fremde Amtsführung obliegt der Opposition. Ersteres vollzieht sich möglichst so, dass weder die Opposition noch die Öffentlichkeit Ansatzpunkte für „Zerstrittenheit“ finden. Folglich bleibt diese K. durch Mitregieren meist öffentlich unsichtbar, ist aber überaus wirkungsvoll – zumindest, wenn sie nicht durch das Zusammenwirken des Regierungschefs mit einer ihm ergebenen Fraktionsführung ausgehebelt wird. Umgekehrt ist die von der Opposition ausgeübte Aufsicht über die Amtsführung der Regierung öffentlich sichtbar, doch zunächst einmal wirkungslos. Üblicherweise scharen sich nämlich die regierungstragenden Fraktionen um jeden angegriffenen Regierungspolitiker, allerdings unter dem Vorbehalt, er werde keine weiteren öffentlich überzeugenden Angriffspunkte bieten. Solche Solidarität erschöpft sich im Lauf der Zeit. Ggf. wird das angegriffene Regierungsmitglied den Rücktritt entweder vollziehen, zumindest anbieten, oder wenigstens nahegelegt bekommen. Klugerweise vernebelt die Regierungsmehrheit den Zusammenhang mit der Oppositionskritik. Ebenso verfährt ein Regierungslager, wenn die Opposition Schwachpunkte ausfindig macht: Sie werden intern bereinigt, nachdem vor der Öffentlichkeit Kritik im Wesentlichen zurückgewiesen worden ist. Auf diese Weise entsteht aber der Eindruck, ausgerechnet im parlamentarischen Regierungssystem werde wirksame Regierungs-K. gerade nicht vom Parlament ausgeübt.
3. Formen
Zu unterscheiden ist politisch nach Theodor Eschenburg zwischen Richtungs- und Leistungs-K. Richtungs-K. meint, dass die politische Gesamtlinie einer Regierung kontrolliert wird. Dies geschieht einesteils „von innen“ durch Mitregieren, indem die regierungstragenden Fraktionen oder die für eine parlamentarische Mehrheit gerade noch erforderlichen innerparteilichen Veto-Gruppen prüfen, ob der politische Kurs auf den einzelnen Politikfeldern wirklich so ist, wie man ihn für richtig oder wenigstens akzeptabel hält. Andernfalls signalisiert man, dass sich erwünschte Geschlossenheit nicht herstellen oder eine erforderliche Mehrheit nicht schmieden lasse. Das bewirkt entweder politische Richtungsänderungen oder eine Regierungskrise. Regierungstragende Parteien werden derlei K. möglichst intern und ohne öffentliches Aufheben unternehmen, um keine Kritik an schädlicher Zerstrittenheit aufkommen zu lassen.
Andernteils vollzieht sich Richtungs-K. „von außen“ durch oppositionelle Parteien, die den Kurs der Regierung anhand derer eigenen – etwa in Koalitionsverträgen und Regierungserklärungen bekundeten – Absichten überprüfen, oder ihn an ihren alternativen Vorstellungen vermeintlich besserer Politik messen. Diese Art p.r K. ist dann bes. wirkungsvoll, wenn eine Regierung von ihren ursprünglichen Gestaltungsabsichten abweicht, etwa weil die gesetzten Ziele unrealistisch oder die genutzten Mittel wirkungslos waren. Oppositionsparteien werden dann den unzureichenden Realitätssinn oder die mangelnde Prinzipientreue der Regierung herausstellen. Insgesamt werden sie versuchen, im Wechselspiel mit öffentlicher Meinung, demoskopischen Umfragen und „Nebenwahlen“ politischen Druck auf das Regierungslager auszuüben.
Leistungs-K. bezieht sich auf die konkreten Auswirkungen der Regierungstätigkeit: ob eine Regierung ihre Ziele wirklich erreicht, ob die Exekutive in der Praxis so zuverlässig und fehlerfrei arbeitet, wie erwartet. Auch hier kontrollieren die regierungstragenden Kräfte offensichtlich intern, die oppositionellen öffentlich. Reale Probleme und Fehler führen stets zu großem Druck auf das Regierungslager. Dessen rationale Reaktion besteht darin, oppositionelle Kritik nach außen zu relativieren oder zurückzuweisen, sie intern aber ernstzunehmen und ihre Ansatzpunkte zu beseitigen. Solches Rollenspiel ist zwar für die Lern- und Leistungsfähigkeit des politischen Systems vorteilhaft, führt aber leicht zur Ausprägung heuchlerischer Züge auf beiden Seiten. Diese führen zu Entfremdung unglaubwürdiger Politik von der Bevölkerung und zeitigen Legitimitätszweifel.
Rechtliche K. war solange die einzige geordnete Form p.r K., wie es weder eine kritische Medienöffentlichkeit noch direkten parlamentarischen Zugriff auf die Regierung gab. Ihre anschaulichste Form ist die Ministeranklage (impeachment). Im präsidentiellen Regierungssystem der USA gibt es sie als Kontrollinstrument gegenüber dem Präsidenten, als eine Art „Verfassungsfossil“ auch in Deutschland mit der Möglichkeit, den Bundespräsidenten vor dem BVerfG anzuklagen. Rechtliche K. einzelner Regierungsmitglieder hat aber nur sehr eingeschränkten Nutzen, weil sie sich allein auf Rechtsbrüche beziehen kann, nicht aber auf ihre Politik. Im Rahmen eines Obrigkeitsstaates, der sich von Amts wegen die „richtige Politik“ zuschreibt, mag die Vorstellung noch nachvollziehbar sein, eine Regierung nur auf Rechtsbrüche zu kontrollieren. Doch im Rahmen eines demokratischen Verfassungsstaates entspringt das Recht auf wirksame p. K. dem legitimen Wunsch, die Regierung auch von einer Politik abzuhalten, die rein rechtlich nicht zu beanstanden wäre.
Mit dem Aufkommen von Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer abstrakten Normen-K. wurde eine weitere Form einer als Rechtsstreit durchgeführten p.n K. sehr wichtig. Denn nun können oppositionelle Akteure, sofern sie am Verfassungsgericht klageberechtigt sind, dort prüfen lassen, ob ein von der regierungstragenden Mehrheit beschlossenes Gesetz oder eine Handlung der Regierung mit den – vom Gericht auszulegenden – höherrangigen Verfassungsnormen vereinbar ist. Gerade der materielle Rechtsstaat bietet solcher abstrakten Normen-K. vielerlei Ansatzpunkte. Sie erlauben die Fortsetzung eines verlorenen politischen Kampfs mit verfassungsjuristischen Mitteln.
4. Wirkungsweisen
Bei allen Unterschieden sind den Instrumenten p.r K. drei Züge gemeinsam. Erstens wirken sie stets so, dass dem Regierungslager bzw. den eigenen Regierungsmitgliedern glaubhaft Schaden für den Fall in Aussicht gestellt wird, dass bestimmte Dinge getan oder unterlassen werden. Die Instrumente p.r K. funktionieren auf der Grundlage von – gegebenenfalls durch Erfahrung erlernten – rationalen Interessenkalkülen politischer Akteure. Zweitens entfalten sie ihre Wirkung meist schon durch Antizipation ihrer Verwendung, also durch die Vorauswirkung ihrer Existenz und Nutzbarkeit. Deshalb ist aus der Häufigkeit oder Seltenheit der Anwendung bestimmter Kontrollinstrumente nicht unmittelbar auf deren Wichtigkeit zu schließen. Die Entfernung selbst eines lange Zeit ganz unbenutzten Kontrollinstruments kann nämlich jenes rationale Verhaltenskalkül verändern, dessen Bestandteil es zuvor war. Weil aber die meisten politischen Kontrollinstrumente ihren wichtigsten Nutzen über solche öffentlich kaum sichtbare Vorauswirkung entfalten, wird ihre Wirksamkeit regelmäßig unterschätzt. Drittens sind gerade jene informellen Prozesse wichtig, die aufgrund formaler Möglichkeiten überhaupt erst zustande kommen.
5. Instrumente
Am besten sind die parlamentarischen Möglichkeiten p.r K. entwickelt. Ältestes Kontrollmittel ist das Budgetrecht. Sein Entstehungsgrund ist, dass eine Regierung für ihre Politik stets Geld braucht, dieses aber oft nicht selbst schöpfen kann. Früher erbat sich der Fürst auf Ständeversammlungen die erforderlichen Sach- und Finanzmittel von jenen Großen und Reichen im Land, die über sie verfügten. Heute muss eine Regierung die Finanzen in Form eines detaillierten Haushaltsplans vom Parlament erbitten, kann ohne genehmigten Haushaltsplan viele ihrer Tätigkeiten nicht rechtskonform durchführen und muss deshalb gegenüber Parlament und Öffentlichkeit ihre Politik erklären, also zur kritisch-kontrollierenden Diskussion stellen.
Das zweite Mittel parlamentarischer K. ist die Nutzung von Pressionspotential. Es beginnt schon mit dem parlamentarischen Budgetrecht. Unter demokratischen Bedingungen aber wächst die Wirkung dieses Mittels deshalb, weil es für sehr viele politischen Entscheidungen Mehrheiten braucht: im Parlament, in der eigenen Partei, im Staatsvolk. Zu Mehrheiten gelangt man aber nur in einem Prozess des Gebens und Nehmens, also durch Kompromissbildung (Kompromiss). Dabei gewinnen jene Minderheiten, auf deren Zustimmung man gerade angewiesen ist („Veto-Gruppen“), klar überproportionalen Einfluss. Gleiches gilt für jene Teilnehmer am politischen Prozess, die nicht nur organisations- und konfliktfähig sind, sondern obendrein machtvolle Medienunterstützung zu mobilisieren vermögen.
Drittes Instrument parlamentarischer K. ist die Einforderung von Verantwortung und der Gang an die Öffentlichkeit. Jemandem verantwortlich zu sein, heißt nämlich, ihm auch auf unangenehme Fragen antworten oder besser zu vermeidende Folgen befürchten zu müssen, wenn die Antworten den Fragenden oder dessen Anhänger nicht überzeugen. Die – verfassungsgeschichtlich erst spät errungene – Verantwortlichkeit einer Regierung vor dem Parlament meint etwa, dass man Regierungsmitglieder zu Antworten auf Fragen von Parlamentariern zwingen kann sowie in der Lage ist, bei unbefriedigenden Antworten den entsprechenden Regierungsmitgliedern – oder der Regierung insgesamt – politischen Schaden zuzufügen: durch ausbleibende Unterstützung, durch die Verweigerung von Haushaltsmitteln, durch Aufstachelung massenmedialer Kritik. Geht es um letztere, so bieten sich folgende Möglichkeiten an: skandalisierende Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, öffentlichkeitswirksame Plenardebatten (in Deutschland etwa „Aktuelle Stunden“), Große und Kleine Anfragen, sowie mündliche und schriftliche Fragen an die Regierung, auf welche diese mündlich im Plenum oder schriftlich antworten muss. Ergänzt werden diese Instrumente durch kampagnentaugliche Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit von Fraktionen, Parteien, einzelnen Politikern und zivilgesellschaftlichen Gruppen (Zivilgesellschaft), und zwar entweder mittels der klassischen Medien oder über das Internet.
Literatur
H. Gast/M. Grottke/M. Kittl: Politische Kontrolle in der Gesetzgebung. Zu Rolle und Einfluss von Medien, Interessengruppen und Oppositionsparteien bei Anpassungsentscheidungen. Eine Fallstudie, in: ZG 29/1 (2014), 43–66 • W. J. Patzelt: Parlamentarische Kontrolle. Begriffe, Leitgedanken und Erscheinungsformen, in: B. Eberbach-Born u. a. (Hg.): Parlamentarische Kontrolle und Europäische Union, 2013, 23–48 • J. D. Grynaviski: Partisan bonds. Political reputations and legislative accountability, 2010 • K.-U. Meyn: Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982 • R. Bäumlin: Die Kontrolle des Parlaments über Regierung und Verwaltung, in: ZSchweizR 100/3 (1966), 165–319 • T. Eschenburg: Staat und Gesellschaft in Deutschland, 31965.
Empfohlene Zitierweise
W. Patzelt: Politische Kontrolle, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Politische_Kontrolle (abgerufen: 24.11.2024)