Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)

Version vom 16. Dezember 2022, 06:07 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK))
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

1. Rechtliche Grundlagen

Die EMRK ist das älteste Vertragswerk seiner Art im Rahmen des regionalen Menschenrechtsschutzes. In unmittelbarem Anschluss an die Gründung des Europarats im Jahr 1949 wurde die EMRK in dessen Rahmen ausgearbeitet. Sie wurde am 4.11.1950 in Rom unterzeichnet und trat am 3.9.1953 in Kraft. Zählte die EMRK am Beginn des Jahres 1990 noch 22 Mitgliedstaaten, so hat sich die Zahl in den 90er Jahren bis heute mit 47 Staaten mehr als verdoppelt. Daneben entwickelte sich die Konvention in den knapp sechzig Jahren ihres Bestehens auch inhaltlich weiter: insgesamt 16 ZP sind zur Ratifikation aufgelegt worden. Das 1. ZP vom 20.3.1952, das 4. ZP vom 16.9.1963, das 6. ZP vom 28.4.1983, das 7. ZP vom 22.11.1984, das 12. ZP vom 4.11.2000 und das 13. ZP vom 3.5.2002 erweiterten den Grundrechtsbestand. Das 11. ZP vom 11.5.1994 hat das Rechtsschutzsystem der EMRK einer grundlegenden Neuregelung unterworfen. Das 14. ZP vom 13.5.2004 zielte in erster Linie auf eine Entlastung des EGMR ab.

2. Rechte und Freiheiten

Die EMRK begründet für die Vertragsstaaten die Verpflichtung, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in ihrem Text sowie im 1., 4., 6., 7., 12. und 13. ZP niedergelegten Rechte und Freiheiten zuzusichern (Art. 1 EMRK), und dies insb. ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens oder der Geburt (Art. 14 EMRK). Der allgemeine Gleichheitssatz des 12. ZP ergänzt das beschränkte Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK und erweitert dessen Anwendungsbereich auf Rechte, die durch die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gewährleistet werden. Dieses Protokoll wurde jedoch nur von einer Minderheit von Staaten ratifiziert.

Hinsichtlich ihres Aufbaus lassen sich in einer Grobgliederung zwei Gruppen von EMRK-Rechten unterscheiden, zum einen Menschenrechte mit primär abwehrrechtlichem Charakter, zum anderen die sogenannten Verfahrensgarantien. Die Abwehrrechte umfassen im Kern die Fundamentalgarantien (Recht auf Leben, ergänzt um das Verbot der Todesstrafe sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten; Folterverbot und Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung; Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit), die Rechte der Person (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens; Recht auf Eheschließung und Familiengründung; Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Recht auf Bildung), die politischen und gemeinschaftsbezogenen Grundrechte (Freiheit der Meinungsäußerung; Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; aktives und passives Wahlrecht), die Garantie der persönlichen Freiheit, das Recht auf Freizügigkeit sowie die Eigentumsgarantie. Zu den Justiz- und Verfahrensgarantien gehören das Recht auf ein faires Verfahren i. S. v. Art. 6 EMRK, der Grundsatz nullum crimen sine lege, das Verbot der Doppelbestrafung und -verfolgung, das Recht auf Überprüfung von Strafurteilen, das Recht auf Entschädigung bei Fehlurteilen, Verfahrensgarantien in Ausweisungsverfahren sowie das Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz im Falle der Verletzung eines in der EMRK garantierten Rechts.

Die genannten Rechte und Freiheiten gelten nicht uneingeschränkt. Bei den Abwehrrechten folgt die Prüfung der Grundrechtsbeschränkungen dem dreistufigen Schema von Schutzbereich, Eingriff und (soweit es sich nicht um die vorbehaltlos gewährleisteten Rechte des Art. 3 EMRK sowie der Art. 3 und 4 4. ZP handelt) Rechtfertigung des Eingriffs. Am präzisesten ist das normative Programm für die Rechtfertigung in den Art. 8 bis 11 EMRK vorgegeben. Neben dem Vorliegen eines legitimen Ziels muss der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft“ notwendig sein. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie er in vergleichbarer Form auch bei vielen Grundrechten nationaler Verfassungen Bedingung zulässiger Eingriffe ist. Die in diesem Rahmen stattfindende Prüfung weist aber einige Besonderheiten auf: Zum einen hat das Kriterium der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft auch die Funktion, einen systematischen Zusammenhang für die Auslegung der Konventionsrechte herzustellen, der bei nationalen Verfassungen durch das Staatsorganisationsrecht selbstverständlich ist. Dabei ist im Unterschied zum nationalen Verfassungsrecht kein konkretes System zu berücksichtigen, sondern der Standard europäischer Demokratien insgesamt. Zum anderen verweist der EGMR im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit in st.r Rspr. auf einen Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten (margin of appreciation), der Hand in Hand mit einer europäischen Kontrolle durch den EGMR gehen müsse. Dabei handelt es sich um ein Instrument des Gerichtshofs zur Variation seiner Kontrolldichte je nach betroffenem Grundrecht und Lebensbereich, dem der Fall zuzuordnen ist.

Bei den Verfahrensgarantien geht es dagegen regelmäßig um die Einhaltung detaillierter verfahrensrechtlicher Vorgaben, obwohl sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und mit ihm die Abwägungsvorgänge auch hier immer mehr durchsetzen. Wichtigstes Beispiel ist das Recht auf Zugang zu Gericht, dessen Verletzung mit der Frage nach dem legitimen Ziel und der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung geprüft wird (st. Rspr. des EGMR seit Golder v GB, 1975).

Schließlich kann ein Mitgliedstaat das Ausmaß seiner völkerrechtlichen Verpflichtung nach der EMRK mit Ausnahme des notstandsfesten Kerns der Art. 2, 3, 4 Abs. 1 und 7 EMRK im Falle eines Kriegs oder eines anderen öffentlichen Notstands reduzieren (Art. 15 EMRK). In der bisherigen Praxis haben Großbritannien, Griechenland, Irland, die Türkei, Albanien, Armenien und Frankreich zu diesem Instrument gegriffen, und zwar überwiegend, um einzelne Verfahrensgarantien nach den Art. 5 und 6 EMRK außer Kraft zu setzen.

3. Die Stellung der EMRK im Recht der Mitgliedstaaten

Die Stellung der EMRK im Recht der Mitgliedstaaten und im Besonderen ihr Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht sind uneinheitlich. Insgesamt lassen sich drei Gruppen von Staaten unterscheiden: Staaten, in denen die EMRK Bestandteil der Verfassung ist oder einen vergleichbaren Status genießt; Staaten, in denen die EMRK im Rang über den Gesetzen, nicht aber im Verfassungsrang steht; schließlich Staaten, in denen die EMRK selbst nur im Rang eines einfachen Gesetzes steht, gleichwohl aber als Hilfe für die Auslegung nationaler Grundrechte herangezogen wird. Nach dem GG kommt der EMRK – wie jedem anderen völkerrechtlichen Vertrag – nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu (Art. 59 Abs. 2 GG). Das BVerfG hat aber die Auslegung der Grundrechte des GG in den letzten Jahren sukzessive sehr weitgehend für die Berücksichtigung der EMRK-Garantien und der hierzu ergangenen Rspr. des EGMR geöffnet und eine deutlich EMRK-affinere Tonlage eingeschlagen. Im Görgülü-Beschluss (2004) hatte das BVerfG noch betont, dass die EMRK ihre Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des GG entfalte und eine Unterwerfung unter nicht deutsche Hoheitsakte, die jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogen sei, nicht angestrebt werde. In der Sicherungsverwahrungsentscheidung (2011) heißt es nun, dass die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG Ausdruck eines Souveränitätsverständnisses sei, das eine Einbindung in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung voraussetze und erwarte. Die „Berücksichtigung“ der EMRK und der Rspr. des EGMR ist v. a. im Bereich der Verfahrensgarantien erfolgt. Hier hat das BVerfG die insb. in Art. 5, 6 und 7 EMRK garantierten Rechte und ihre Auslegung durch den EGMR herangezogen, um aus dem Rechtsstaatsprinzip einzelne Verfahrensrechte zu entwickeln (z. B. etwa den Grundsatz der Unschuldsvermutung).

4. Das Rechtsschutzsystem

Das Rechtsschutzsystem der EMRK wurde mit dem Inkrafttreten des 11. ZP im Jahr 1998 und des 14. ZP im Jahr 2010 grundlegend reformiert. Die Menschenrechtskommission wurde abgeschafft. Die Rechtskontrolle über die Einhaltung der Verpflichtungen aus der EMRK und ihren ZP ist dem EGMR vorbehalten, der seine Aufgaben als ständiger Gerichtshof wahrnimmt (Art. 19 EMRK). Die Aufgaben des Ministerkomitees im Rahmen der EMRK wurden auf die Überwachung der Einhaltung der Urteile des EGMR nach Art. 46 Abs. 2 EMRK beschränkt.

4.1 Der EGMR

Die Zahl der Richter des EGMR entspr. derjenigen der Vertragsparteien der EMRK (Art. 20 EMRK). Sie vertreten nicht einen der Mitgliedstaaten, sondern agieren als unabhängige Mitglieder des EGMR. Die Richter müssen hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung hoher richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein (Art. 21 Abs. 1 EMRK). Sie werden von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats für jeden Mitgliedstaat mit Stimmenmehrheit aus einer Liste von drei Kandidaten gewählt, die vom Mitgliedstaat vorgeschlagen werden (Art. 22 EMRK). Ein unabhängiger Expertenausschuss überprüft die Qualität der Kandidaten.

Der EGMR wird in vier verschiedenen Spruchkörpern tätig (Art. 26–31 EMRK): durch Einzelrichter, durch Ausschüsse mit drei Richtern, durch Kammern mit sieben Richtern und durch eine Große Kammer mit 17 Richtern. Das Verfahren der Menschenrechtsbeschwerde ist in den Art. 33–46 EMRK geregelt. Der EGMR kann sowohl von den Mitgliedstaaten (im Wege der Staatenbeschwerde – Art. 33 EMRK) als auch von Privatpersonen (im Wege der Individualbeschwerde – Art. 34 EMRK) angerufen werden. Dabei ist Gegenstand einer Individualbeschwerde die behauptete Verletzung eines Konventionsrechts durch einen der Mitgliedstaaten. Sinn der Staatenbeschwerde dagegen ist es, der Staatengemeinschaft Europas eine Wächterfunktion hinsichtlich der Einhaltung des europäischen Menschenrechtsschutzes zuzuweisen. Die Staatenbeschwerde spielt (schon zahlenmäßig) nur eine geringe Rolle in der Straßburger Praxis.

4.2 Rechtswirkungen der Urteile

Die Vertragsstaaten verpflichten sich gem. Art. 46 Abs. 1 EMRK, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des EGMR zu befolgen. Im Hinblick auf die Wirkung der Entscheidungen lässt sich zwischen einer Rechtskraftwirkung für die beteiligten Parteien und einer Orientierungswirkung im Übrigen unterscheiden. Mit dem 14. ZP wurden zwei neue Möglichkeiten zur besseren Umsetzung von Urteilen des EGMR eingeführt, und zwar die Möglichkeit der authentischen Interpretation der Urteile durch den Gerichtshof und ein besonderes Verfahren bei Verstößen der Staaten gegen die Pflicht zur Befolgung von Urteilen.

Für die Rechtswirkungen von EGMR-Urteilen in Deutschland hat das BVerfG grundlegende Aussagen im Görgülü-Beschluss aus dem Jahr 2004 und in seinem Sicherungsverwahrungsurteil aus dem Jahr 2011 getroffen. Danach erstreckt sich die Bindungswirkung einer Entscheidung des EGMR auf alle staatlichen Organe. Zur Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG gehöre auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR. Diese Pflicht erfordere von dem zur Entscheidung berufenen Gericht, von der zuständigen Behörde und vom Gesetzgeber, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den jeweiligen Willensbildungsprozess einfließen. Ausdrücklich verweist das BVerfG auf die Möglichkeit einer Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten, wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK festgestellt hat und das innerstaatliche Urteil auf dieser Verletzung beruht. Das BVerfG selbst berücksichtigt Entscheidungen des EGMR als Auslegungshilfe auch dann, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen. Insofern verweist das BVerfG ausdrücklich auf die jedenfalls faktische Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rspr. des EGMR für die Auslegung der EMRK auch über den konkret entschiedenen Fall hinaus zukommt.

5. Ergebnisse und Ausblick

Sechzig Jahre EMRK und eine Vielzahl von Entscheidungen des EGMR (sowie der EKMR) haben dazu beigetragen, den Schutz der Grundrechte in Europa zu verbreitern und zu verstärken. Die Reihe wichtiger Entscheidungen gegen Deutschland reicht von den Caroline-Fällen (2004 und 2012), die umgangsrechtlichen Urteile (Elsholz v Deutschland, 2000) über die mittlerweile zahlreichen Urteile zur Sicherungsverwahrung (M v Deutschland, 2009) bis hin zu vielfältigen Entscheidungen zum kirchlichen Arbeitsrecht (Schüth v Deutschland, Obst v Deutschland, beide 2010). Nicht immer führen Spannungen zwischen deutscher Rspr. und EGMR-Entscheidungen zu Verurteilungen Deutschlands. Häufig ist es ein Prozess des „Rspr.s-Dialogs“ nach einer Abfolge von innerstaatlichen und Straßburger Entscheidungen zum selben Rechtsproblem. An dieser Stelle ist es häufig das BVerfG, das die Spannungen judikativ verarbeitet.

Trotz der insgesamt positiven Bilanz sind die Schwächen des Rechtsschutzsystems der EMRK nicht zu übersehen. Mit dem 11. und 14. ZP ist nur ein Zwischenschritt hin zu einer weitergehenden Strukturreform erfolgt. Angesichts der weiterhin hohen Belastung werden weitere Reformmaßnahmen notwendig sein. Die zwischenzeitig auf über 130 000 angestiegene Zahl anhängiger Beschwerden wird nicht nur auf der Ebene des Filtermechanismus und bei der Behandlung der gleichartigen Beschwerden weitere Maßnahmen erfordern, sondern auch im Bereich der Organisation des Gerichtshofs und der grundsätzlichen Art und Weise des Umgangs mit Beschwerden. Inwiefern der Interlaken-Prozess und die Ergebnisse der Brighton-Konferenz dazu beitragen werden, die Herausforderungen des EGMR durch die Beschwerdeflut zu meistern, bleibt abzuwarten.

Der Beitritt der EU zur EMRK ist seit über 20 Jahren politisches Ziel der Union und seit dem Vertrag von Lissabon rechtliche Verpflichtung (Art. 6 II EUV), für die auch die EMRK geändert werden musste. Mit dem 14. ZP wurde die EMRK-Mitgliedschaft vom Erfordernis der Mitgliedschaft einer Vertragspartei im Europarat gelöst. Art. 59 Abs. 2 EMRK lässt nun den Beitritt der EU ausdrücklich zu. Das negative Gutachten des EuGH zum Beitritt (Gutachten 2/13 vom 18.12.2014) hat der Erreichung eines kohärenten Grundrechtsschutzes und dem Anstieg des Schutzniveaus den Weg versperrt. Aber auch nach dem Gutachten gilt: Der Beitritt der EU zur EMRK ist unionsrechtlich zulässig und zur Vermeidung völkerrechtlicher Konflikte für die Mitgliedstaaten geboten. Gelingt das nicht, müsste die Rechtsschutzlücke, die der Beitritt beseitigen sollte, durch Verfassungsgerichte und EGMR in Verdichtung bisheriger Ansätze geschlossen werden. Der EGMR hat den EU-Mitgliedstaaten und der EU seit dem Bosphorus-Urteil das Privileg einer zurückgenommenen Kontrolle bei Grundrechtseingriffen zugestanden, die in Erfüllung unionsrechtlicher Verpflichtungen ergingen, und dies mit dem „Interesse an internationaler Kooperation“ (EGMR 30.6.2005, Ziffer 155) begründet. Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR das Gutachten des EuGH zum Anlass einer Rspr.s-Änderung nimmt.