Staatsgebiet
1. Staat und Staatsgebiet
„Ohne Land kein Staat“ (Bluntschli 1861: 209). Das Vorhandensein eines S.es ist nicht nur eine konstitutive Voraussetzung für die Qualifizierung eines politischen Gemeinwesens als Staat im (völker-)rechtlichen Sinne (neben Staatsvolk und Staatsgewalt: „Drei Elemente Lehre“, Jellinek 1914: 39; Art. 1 b) Montevideo-Konvention [1933]). Raumbezogenheit, Raumwirksamkeit und Raumgestaltungswillen bilden vielmehr – als Ergebnis eines komplexen Entwicklungsprozesses vom mittelalterlichen Personenverband zur modernen Gebietskörperschaft – das „identitätsprägende Merkmal neuzeitlicher Staatstätigkeit“ (Vitzthum 2004: 164) und territorial definierte Souveränität damit die „Kernidee“ (Di Fabio 1998: 2), die „grundlegendste sachliche Wesenskonkretisierung“ (Smend 1928: 86) des modernen Flächenstaates schlechthin. Trotz Beseitigung physischer Grenzkontrollen und einer sich auf allen Ebenen intensivierenden grenzüberschreitenden Kooperation muss so auch eine transmoderne Staatstheorie die fortdauernde Wichtigkeit der Territorialität souveräner Staaten anerkennen. Nach wie vor gilt uneingeschränkt: „Wie immer wir über das Wesen des Staates denken, wir vermögen ihn uns nicht ohne Gebiet vorzustellen“ (Sieger 1919: 3).
Zur vollumfänglichen Erfassung der Bedeutung des Raumes für den Staat bedarf es einer Kombination verschiedener theoretischer Ansätze („Objekt-/Eigenschafts-“ „Raum-“ und „Kompetenztheorien“), die insb. im späten 19./frühen 20. Jh. intensiv diskutiert worden sind: Für den Staat ist „sein“ Gebiet richtigerweise nicht nur notwendiges Element seiner Existenz, sondern auch „sowohl Kompetenzbereich wie Gegenstand und Grundlage seiner Herrschaft“ (Vogel 1987: 3394). Einer nicht zuletzt im Licht der jüngeren deutschen Geschichte zu Recht als verhängnisvoll empfundenen geopolitischen Überhöhung der Bedeutung des staatlichen Territoriums (Geopolitik) und seiner räumlichen Lage (u. a. Friedrich Ratzel/Karl Haushofer) ist damit eine klare Absage erteilt.
Das gleichermaßen Identität stiftende wie Differenz schaffende räumliche Gegensatzpaar Inland/Ausland ist nach wie vor mit einem festen Assoziationsgehalt versehen und hat seinen positivrechtlichen Niederschlag auch in einer Vielzahl (nationaler und internationaler) Rechtsnormen gefunden: Staatliche Herrschaft entfaltet sich damit bis heute ganz überwiegend (nur) auf dem eigenen S. – die (extraterritoriale) Ausübung von Staatsgewalt auf fremdem S. bleibt die stets rechtfertigungsbedürftige Ausnahme.
2. Dimensionen des Staatsgebietes
Das S. ist ein dreidimensionaler Raum. Dieser bildet zwar nicht notwendig, aber heute doch regelmäßig ein zusammenhängendes Ganzes (Ausnahme z. B. deutsche Exklave Büsingen, umgeben von Schweizer S.). Auf die Größe kommt es dabei nicht an (kleinster Staat [0,44 km2]: Vatikanstaat; kleinster UN-Mitgliedstaat [2,03 km2]: Monaco). Hinreichend für das Vorhandensein eines S.es ist die Existenz eines unbestrittenen Kerngebietes; einer präzisen, unbestrittenen Grenzfestsetzung bedarf es hingegen nicht. Neben einem Teil der Erdoberfläche und – soweit vorhanden – einem angrenzenden Meeresstreifen (innere Gewässer, Küstenmeer), umfasst das S. auch die Luftsäule (Luftraum) über diesen Räumen (Art. 1 Chicago Konvention [1944], Art. 2 UN-Seerechtskonvention [1982]) sowie deren Untergrund. Künstlich geschaffene Landgebiete (z. B. Polder) und Inseln (nicht aber „landlose“, d. h. nur über künstliche Pfeiler mit dem Meeresboden verbundene Installationen wie z. B. Ölplattformen) können das auf natürliche Weise entstandene S. ergänzen, nicht aber ersetzen. Nicht zum S. gehören Meereszonen, in denen der Küstenstaat (nur) über einzelne souveräne Rechte zur exklusiven Nutzung verfügt (sogenannte Funktionshoheitszonen, insb. AWZ, Festlandsockel).
Das S. stellt keinen „natürlichen“ Raum dar, sondern wird in Existenz und Umfang erst durch teilweise sehr alte und (daher) nicht immer einfach und zweifelsfrei nachweisbare Rechtsnormen konstituiert und begrenzt. Die Festlegung der Grenzen des S.es benachbarter Staaten erfolgt mittels völkerrechtlicher Verträge (selten auch Gewohnheitsrecht). Der Anspruch auf ein Küstenmeer (maximal zulässige Breite nach Völkerrecht: 12 Seemeilen) ist durch (einseitige) Erklärung geltend zu machen. Im Hinblick auf die vertikale Begrenzung des S.es gibt es bisher keine rechtlich verbindliche Regelung. Die Grenze des S.es zum Weltraum wird überwiegend in einer Höhe von ca. 100 km verortet (Kármán Linie: Flugdynamische Kriterien). Im Erdinnern setzt sich das S. theoretisch trichterförmig bis zum Erdmittelpunkt fort, wo das S. aller Staaten damit einen gemeinsamen Grenzpunkt finden würde. Faktisch wird man das S. aber auf den Raum beschränken müssen, in dem zumindest die theoretische Möglichkeit der Ausübung staatlicher Gebietshoheit besteht. Dies ist derzeit bis zu einer Tiefe von ca. 20 km anzunehmen, womit das S. tatsächlich nur einen winzigen Ausschnitt der gesamten Erdkugel umfasst (Erdradius ca. 6 371 km).
Den Cyberspace, also den Raum der digitalen Daten und Dienste, wird man richtigerweise nicht als eine „vierte Dimension“ des S.es begreifen können, handelt es sich hierbei doch um ein virtuelles Gebilde, das sich mit klassischen physikalischen Raumkategorien (Länge, Breite und Höhe, Begrenztheit) nicht erfassen lässt. Das schließt indes nicht aus, dass der Staat seinen Herrschaftsanspruch auch auf bestimmte Teile dieses Raumes sui generis sollte erstrecken können. Die aktuelle Diskussion über das ob und wie einer Regulierung internetbasierter Aktivitäten ist geprägt durch das Spannungsfeld zwischen einem territorial verstandenen Souveränitätsanspruch einerseits und einem hiermit nicht (notwendig) kongruenten Anspruch auf Souveränität im Netz („technologische Souveränität“) andererseits. S. und „Internet Territorium“ wird man denn wohl auch weniger als Komplementäre denn als Aliud begreifen müssen.
3. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet
Der Umfang des S.es unterliegt immer wieder Veränderungen. Bei den Gebietserwerbsgründen unterscheidet man zwischen Annexion (heute wegen des Gewaltverbots kein wirksamer Erwerbstitel mehr), Okkupation (effektive Einverleibung eines bisher herrenlosen Gebietes mit Erwerbswillen), Zession (einvernehmlicher Gebietsübergang, üblicherweise in Vertragsform; z. B. Tausch Helgoland/Sansibar, 1890), Ersitzung (Erwerb durch Zeitablauf und Duldung) und Adjudikation (Entscheidung einer internationalen Institution). Der Verlust von S. tritt in spiegelbildlicher Weise ein (Ausnahme: Okkupation), kann aber auch durch Sezession (Abspaltung eines Gebietes mit dem Ziel staatlicher Unabhängigkeit) oder Dereliktion (einseitiger Verzicht) erfolgen.
Auch Naturereignisse können sowohl zu einer Vergrößerung des S.es führen (Anschwemmung, natürliche Bildung von Inseln), als auch zu dessen Verkleinerung (Überschwemmung, Untergang von Inseln), die bis zum vollständigen Verlust des S.es und damit zum Ende der Existenz eines Staates führen kann. Der Anstieg des Meeresspiegels infolge des Klimawandels macht letzteres Szenario für flache Inselstaaten (z. B. Malediven, Seychellen, Tuvalu) mittelfristig nicht ganz unrealistisch.
4. Das deutsche Staatsgebiet
Mangels bundesunmittelbarem (z. B. Elsass-Lothringen von 1871–1919) oder bundesfreiem (z. B. weite [Ost-]Gebiete Preußens und Österreichs bis 1866/71) Gebiet, besteht das deutsche S. heute aus der Summe des Gebietsbestandes der (16) Bundesländer. Diese bilden damit die exklusiven territorialen „Bausteine“ des deutschen Staates (so implizit auch die Präambel des GG [explizit noch Art. 2 Abs. 1 WRV]). Der territoriale status quo kann durch einfaches Bundesgesetz geändert werden (für lediglich sehr kleine Grenzkorrekturen s. Art. 29 Abs. 7 GG), wenn auch unter qualifizierten Voraussetzungen („interne“ Gebietsänderungen: Volksentscheid [Art. 29 Abs. 2 GG]; „externe“ Gebietsänderungen: Anhörungsrecht des betroffenen Landes [Art. 32 Abs. 2 GG]). „Andere Teile Deutschlands“ (so noch Art. 23 S. 2 GG a.F. [bis 1990]) existieren seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist die Einheit Deutschlands (Deutsche Einheit) damit auch in territorialer Hinsicht vollendet.
Literatur
N. Bergmann: Versinkende Inselstaaten. Auswirkungen des Klimawandels auf die Staatlichkeit kleiner Inselstaaten, 2016 • M. L. Mueller: Gibt es Souveränität im Cyberspace?, in: Journal of Self-Regulation and Regulation 1 (2015), 64–80 • D.-E. Khan: Territory and Boundaries, in: B. Fassbender/A. Peters (Hg.): The Oxford Handbook on the History of International Law, 2014, 225–249 • W. Graf Vitzthum: Staatsgebiet, in: HStR, Bd. 2, 32004, 163–191 • D.-E. Khan: Die deutschen Staatsgrenzen. Rechtshistorische Grundlagen und offene Rechtsfragen, 2004 • U. Di Fabio: Das Recht offener Staaten. Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, 1998 • R. Goedhart: The Never Ending Dispute: Delimitation of Air Space and Outer Space, 1996 • K. Vogel: Staatsgebiet, in: R. Herzog u. a. (Hg.): Evangelisches Staatslexikon, 31987, 3394 • M. Dauses: Die Grenze des Staatsgebietes im Raum, 1972 • R. Jennings: The Acquisition of Territory in International Law, 1963 • W. Schoenborn: La nature juridique du territoire, in: Recueil des cours 30 (1929), 81–189 • R. Smend: Verfassung und Verfassungsrecht, 1928 • R. Siegert: Staatsgebiet und Staatsgedanke, in: Mitteilungen der geographischen Gesellschaft in Wien 62 (1919), 3–17 • G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 1914 • J. C. Bluntschli: Land, in: ders./C. L. T. Brater (Hg.): Deutsches Staats-Wörterbuch, Bd. 6, 1861, 209–213.
Empfohlene Zitierweise
D. Khan: Staatsgebiet, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staatsgebiet (abgerufen: 24.11.2024)