Standortwettbewerb
1. Definition
Als S. wird die Konkurrenz von Staaten oder Regionen (Standorten) um die Ansiedlung von Unternehmen und mobilen Produktionsfaktoren (etwa hochqualifizierter Arbeit und Kapital) bezeichnet. Da die Ansiedlung von Unternehmen zusätzliche Beschäftigung, Kaufkraft und Steuereinnahmen generiert, haben sowohl wohlfahrtsoptimierende Staaten als auch Staaten, die das Steueraufkommen maximieren wollen, einen Anreiz sich am S. zu beteiligen und zu versuchen, weitere Unternehmen ins Land zu holen. Dies gilt auch für die Ansiedlung mobiler Produktionsfaktoren, die die Produktivität immobiler Produktionsfaktoren, etwa geringqualifizierter Arbeit, steigern und sich dadurch ebenfalls positiv auf die Wohlfahrt und/oder die Steuereinnahmen des entsprechenden Standorts auswirken können. Mögliche Mittel, um die Attraktivität des eigenen Standortes zu erhöhen, umfassen dabei die Geldpolitik (Währungskrieg), die Handelspolitik (Handelskrieg) und die Steuergesetzgebung (Steuerwettbewerb) sowie die Infrastruktur-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik. Die Staaten stehen dabei in einer strategischen Interaktion zueinander und müssen ihre Politik aneinander ausrichten: Die optimale Politik im S. ist von den Politiken der übrigen Staaten abhängig. Die resultierende Attraktivität eines Standortes wird auch als Wettbewerbsfähigkeit bezeichnet und definiert sich aus einer Reihe von Standortfaktoren, die (wirtschafts-)politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer oder geografischer Natur sein können.
2. Wettbewerbsfähigkeit
Wettbewerbsfähigkeit im makroökonomischen Sinne bezeichnet die aggregierte Fähigkeit einer Volkswirtschaft, profitabel zu produzieren und wird über eine Reihe von Standortfaktoren wesentlich beeinflusst. Sie kann durch zwei grundlegende Aspekte politisch beeinflusst werden: Zum einen kann der Wert der eigenen Währung durch einen Abwertungswettlauf (kompetitive Abwertung) gemindert werden, indem staatlicherseits systematisch Fremdwährungen aufgekauft werden oder die Geldmenge der eigenen Währung erhöht wird. Dadurch sinkt der Wechselkurs der eigenen Währung, die Importe verteuern sich und die eigenen Exporte werden auf dem Weltmarkt preiswerter. Durch das entstandene Handelsbilanzdefizit steigt der Anreiz zur Produktion im Inland und der Standort wird attraktiver. Die kompetitive Abwertung lohnt sich zunächst für ein Land, sofern nicht andere Länder entspr. reagieren und ihrerseits abwerten. In diesem Fall kommt es zu einem schädlichen Währungskrieg, in dem am Ende alle schlechter gestellt sind. Ein Beispiel für eine kompetitive Abwertung stellt aktuell die VR China dar, die enorme Devisenreserven hortet (Juni 2020: 3,4 Billionen US-Dollar).
Zum anderen können die Lohnstückkosten beeinflusst werden. Diese ergeben sich aus der um die Produktivitätsentwicklung bereinigten Lohnentwicklung. Steigen die Löhne langsamer als die Produktivität, so verbilligt sich der Faktor Arbeit für die Unternehmen, eine Produktion wird lohnenswerter und das Land gewinnt an Wettbewerbsfähigkeit. Dieser Vorwurf wird insb. der BRD seit der Einführung des Euro von Seiten anderer Euro-Mitgliedsstaaten gemacht, die weniger wettbewerbsfähig sind. Normalerweise würde das Ausland auf eine solche Lohnzurückhaltung („Lohndumping“) mit einer Abwertung der eigenen Währung reagieren, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Diese Möglichkeit besitzen Staaten innerhalb einer Währungsunion jedoch nicht.
Größere Aufmerksamkeit erhielt Ende der 2010er Jahre im Rahmen der Handelspolitik des US-Präsidenten Donald John Trump auch die Möglichkeit protektionistischer Maßnahmen. Diese gehen auf die Optimalzolltheorie zurück, die seit den 1950er Jahren verstärkt diskutiert wird und derzufolge hinreichend große Staaten Zölle erheben können, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und die Wohlfahrt im Inland zu verbessern. Aufgrund ihrer Größe können diese Länder den Weltmarktpreis durch ihren Zoll senken und die ToT (das Verhältnis des Export- und Importgüterpreisniveaus) zu ihren Gunsten verbessern. Das Preisniveau und die Unternehmensgewinne im Inland steigen, während die Konsumenten geschädigt werden. Es entsteht ein Wohlfahrtsverlust, der bei hinreichend starker Reaktion des Weltmarktpreises jedoch durch die Zolleinnahmen (über-)kompensiert wird und zu einer Wohlfahrtsverbesserung im Inland (ggf. zu Lasten des Auslandes) führt. Dieser Effekt schwächt sich jedoch deutlich ab oder kehrt sich sogar um, wenn andere Staaten ihrerseits Zölle erheben und es zu einem Handelskrieg kommt.
3. Standortfaktoren
Die Wettbewerbsfähigkeit eines Standortes wird wesentlich durch sogenannte Standortfaktoren beeinflusst. Diese sind Kriterien, die bei der Ansiedlung eines Unternehmens oder von Niederlassungen eine entscheidende Rolle spielen (können). Dabei können grundsätzlich politisch beeinflussbare und nicht beeinflussbare Standortfaktoren unterschieden werden. Nicht beeinflussbar sind dabei etwa die Vegetation und das Klima sowie die geographische Erreichbarkeit eines Standortes. Diese Faktoren sind zwar für die Ansiedlung von Unternehmen relevant, können im S. aber nicht staatlicherseits genutzt werden, um die eigene Attraktivität zu erhöhen.
Auf institutioneller Ebene ist eine verlässliche Wirtschaftsordnung essenziell, die v. a. politische Stabilität und Rechtssicherheit ermöglicht, um im Unternehmenskontext eine verlässliche Planbarkeit auch in der mittleren und langen Frist zu ermöglichen. Geldpolitisch kommen einem Standort eine hohe Preisniveaustabilität und ein stabiler Wechselkurs zugute, um etwaige Risiken (v. a. in Bezug auf Inflation und Wechselkurs) zu minimieren.
Über die steuer- und wirtschaftspolitische Gesetzgebung kann ein Staat wesentlichen Einfluss auf die Produktionskosten nehmen. Nicht zuletzt ist auch entscheidend, ob der Markteintritt bspw. durch bürokratische Hürden, die Definition von Standards oder Konzessionen (Markteintrittsbarrieren) erschwert oder sogar durch Subventionen und staatliche Zuschüsse erleichtert wird.
Eine Schlüsselposition kommt der Infrastrukturpolitik zu. Seit jeher und insb. seit der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) erhöht eine Anbindung an das Straßen- und Schienennetz die Attraktivität eines Standortes. Im Zeitalter fortschreitender Digitalisierung sind zusätzlich eine Anbindung an das Stromnetz und eine verlässliche Stromversorgung genauso wichtig wie der flächendeckende und leistungsfähige Internetzugang.
4. Steuerwettbewerb
Ein besonderes Augenmerk liegt in der Diskussion um den S. auf dem Steuerwettbewerb. Die modelltheoretische Untersuchung des Steuerwettbewerbs analysiert die Besteuerung mobiler Produktionsfaktoren (v. a. Kapital) und damit verbundene Veränderungen der Steuersätze, des Steueraufkommens und der Wohlfahrt in einer offenen Volkswirtschaft. Bezugspunkt ist dabei immer der Fall einer geschlossenen Volkswirtschaft, also einer Welt, in der Produktionsfaktoren nicht über Grenzen hinweg bewegt werden können. Die wissenschaftliche Diskussion vertiefte sich trotz vereinzelter Vorläufer erst in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren und begann mit der Analyse des symmetrischen Steuerwettbewerbs. Die identisch angenommenen Staaten wollen sich gemäß diesen Theorien gegenüber anderen Standorten besser stellen, indem sie ihre Steuersätze auf Kapital niedriger setzen, als sie es in einer geschlossenen Volkswirtschaft täten. Es entsteht ein Unterbietungswettbewerb (race to the bottom), in dem am Ende alle Staaten in der Gesamtbetrachtung suboptimal niedrige Steuersätze definieren, die mit einem zu geringen Steueraufkommen und folglich einer Unterversorgung mit öffentlichen Gütern verbunden sind. Eine Harmonisierung der Besteuerung, also eine supranationale Definition der Steuersätze, würde die effiziente Lösung erreichen.
Die Erkenntnisse aus der Theorie des symmetrischen Steuerwettbewerbs wurden in der Folge für asymmetrische Kontexte modifiziert, indem der Steuerwettbewerb in einem Szenario mit unterschiedlich großen Staaten theoretisch betrachtet wurde. Ein wesentliches Ergebnis hieraus ist, dass Staaten mit geringer Einwohnerzahl ihre Steuersätze noch unter das Niveau größerer Staaten absenken. Es kommt zu einer internationalen Verschiebung des Kapitals in kleine Länder, wodurch dort die Bemessungsgrundlage steigt und es sogar bei ineffizient niedrigen Steuersätzen zu einer Überversorgung mit öffentlichen Gütern kommen kann. Diese ineffizient hohe Bereitstellung öffentlicher Güter geschieht auf Kosten des Auslands, weshalb im transnationalen politischen Diskurs auch der Vorwurf des Steuerdumpings formuliert wird. Diese Erkenntnisse sind eng verknüpft mit der Forschung zu sogenannten Steueroasen, also i. d. R. tatsächlich kleineren Staaten, die durch eine niedrige Besteuerung Kapital aus dem Ausland anziehen und sich häufig einer Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung widersetzen.
In den 1990er Jahren wurde die theoretische Steuerwettbewerbsliteratur zunehmend um Aspekte aus der Neuen Politischen Ökonomie ergänzt. Einerseits gibt es eine lebhafte Diskussion um die Konsequenzen des Steuerwettbewerbs, wenn Staaten nicht mehr als Wohlfahrtsmaximierer, sondern als Steueraufkommensmaximierer (Leviathan) betrachtet werden. Der Steuerwettbewerb mit seinen Tendenzen die Steuersätze zu senken, kann nun die Ausbeutungsneigung des Staates disziplinieren und so ausgehend von einer zu hohen Besteuerung im Fall ohne Steuerwettbewerb zu einer Annäherung an das effiziente Besteuerungsniveau führen. Andererseits beziehen neuere Ansätze seit den 2000er Jahren die Bildung von Interessengruppen und ihre Einflussnahme auf die Steuergesetzgebung ein und gelangen zu ambivalenten Resultaten.
Es ist fraglich, inwieweit sich die theoretischen Ergebnisse in der Realität beobachten lassen. Die empirische Literatur beschränkt sich häufig auf die Untersuchung industrialisierter Staaten, in denen die Mobilität der Produktionsfaktoren und insb. von Kapital in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen ist. Im OECD-Durchschnitt ist das Unternehmensteueraufkommen langfristig sogar leicht angestiegen: Während es im Jahr 1965 bei etwa 2,1 % des BIP lag, hatte es im Jahr 2015 einen Wert von 2,8 % erreicht. Dennoch sanken die Regelsteuersätze seit den 1980er Jahren. Diese Entwicklungen lassen sich zum einen durch eine Ausweitung der Bemessungsgrundlage und zum anderen durch eine im Zeitverlauf gestiegene gesamtwirtschaftliche Gewinnquote erklären. Der internationale Steuerwettbewerb, um Unternehmen ins Land zu holen, scheint sich jedoch seit den 1980er Jahren intensiviert zu haben.
5. Globalisierungskritik
Angesichts einer zunehmenden grenzüberschreitenden Mobilität von Produktionsfaktoren und der damit einhergehenden Verflechtung nationaler Volkswirtschaften im Zuge der Globalisierung wurde Kritik an Staaten laut, die sich am S. beteiligten. Globalisierungskritiker bemängeln, dass es durch die Öffnung von Volkswirtschaften und die dadurch gestiegene Mobilität gewisser Produktionsfaktoren und insb. des Kapitals zu einer asymmetrischen Belastung relativ immobiler Produktionsfaktoren und insb. der Arbeit kommen kann. Zudem wird kritisiert, dass dadurch die Steuereinnahmen zurückgehen und soziale und ökologische Standards abgesenkt werden, um Unternehmen die Ansiedlung möglichst zu erleichtern. Aus Sicht des einzelnen Staates kann ein solches Handeln Sinn ergeben, da er sich damit gegenüber seinen Konkurrenten besser stellen kann. Jedoch gilt das dann für alle Staaten, die auf die niedrigeren Steuersätze und Standards der übrigen Staaten ihrerseits mit einer Absenkung der Steuersätze und Standards reagieren würden. Im Wettbewerb um die mobilen Produktionsfaktoren würden Anbieter von immobilen Produktionsfaktoren (v. a. geringqualifizierte Arbeitnehmer) belastet, auf die nun ein größerer Anteil des Steueraufkommens entfallen würde. Kritiker verweisen im Zuge dessen darauf, dass diese Gruppen häufig seit der Jahrtausendwende keine nennenswerten Zuwächse bei ihren Realeinkommen verbuchen konnten und es zu erheblichen ungleichheitsverstärkenden Verteilungswirkungen kommt.
Auf einer grundsätzlicheren Ebene formuliert Dani Rodrik ein Globalisierungstrilemma, das in einer Dreiecksbeziehung zwischen Souveränität, Demokratie und Globalisierung besteht. Demnach sind in letzter Konsequenz immer nur jeweils zwei Komponenten davon miteinander vereinbar. Die Globalisierung stellt die Staaten vor Sachzwänge, denen sie sich letztlich nicht entziehen können. Dadurch schrumpfen die demokratischen Gestaltungsspielräume und Reaktionsmöglichkeiten von Nationalstaaten im globalisierten S.: Damit sich überhaupt noch Unternehmen ansiedeln, haben Staaten oft keine andere Wahl als bspw. den Arbeits- und Kündigungsschutz zu lockern und Unternehmen- und Kapitalsteuersätze zu senken.
Dieser Kritik kann zweierlei entgegnet werden: Erstens wird implizit unterstellt, dass die Staaten die Wohlfahrt maximieren und daher in geschlossenen Volkswirtschaften effiziente Steuersätze definieren. Findet in der Ausgangssituation jedoch eine ineffiziente Überbesteuerung durch einen Staat statt, der die Steuereinnahmen über das wohlfahrtsoptimale Maß hinaus maximieren möchte, können sinkende Steuersätze infolge des Steuerwettbewerbs auch als willkommene Disziplinierung eines „raffgierigen“ Leviathans interpretiert werden. Zweitens profitieren Unternehmen nicht nur von niedrigen Steuern und Abgaben, sondern auch von hohen Staatsausgaben, etwa in Bereichen der Infrastruktur, der Bildung und bei Subventionen bspw. für Forschung und Entwicklung. Wird eine dauerhafte Neuverschuldung des Staates bspw. durch eine Schuldenbremse (Staatsverschuldung) ausgeschlossen, haben auch die Unternehmen selbst ein indirektes Interesse an einer zumindest moderaten Besteuerung. Sie werden ihren Standort entspr. nicht unbedingt an den minimalen Kosten ausrichten, sondern ggf. Standorte präferieren, die sich durch eine höhere Staatsquote auszeichnen und in einem höheren Maß öffentliche Güter produzieren. Sie suchen also ein optimales Bündel an Einnahmen und Ausgaben i. S. Charles Mills Tiebouts, wodurch die Wohlfahrt unter gewissen Annahmen sogar gesteigert werden kann. Diese Überlegung widerspricht allerdings der möglicherweise verkürzten Logik der Globalisierungskritiker, die den S. als Unterbietungswettbewerb auffassen, in dem Standards und Steuern in jedem Fall zurückgefahren werden und Staaten an Handlungsfähigkeit einbüßen.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
S. Winter: Standortwettbewerb, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Standortwettbewerb (abgerufen: 21.11.2024)