Lager
I. Sozialethik
Abschnitt druckenAus sozialethischer Sicht sind L. gegenwärtig v. a. im Kontext von Flucht und Vertreibung sowie von Migration und historisch in Form von Arbeits-, Straf- und Konzentrations-L.n relevant. Im Nachdenken bisher weitgehend vernachlässigt ist – jenseits verantwortungsethischer Reflexionen auf die Bedeutung des Erinnerns für Demokratien – der institutionenethische Status von L. als Orten des Gedenkens an die systematische Ermordung der europäischen Juden (Shoa) und an die Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes, die in der BRD und in Polen auf dem Gelände ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungs-L. entstanden sind. Ebenso ist die sozialethische Reflexion von Protestcamps, etwa in der Refugees- oder in der Klimabewegung, bis dato schwach ausgeprägt.
1. Orientierende Skizze
Sozialethische Beiträge zu L.n verstehen sich in der Regel als L.-Kritik, die eine spezifische Form der Modernekritik darstellt. Dabei ist die genaue Definition dessen, was einen Raum oder einen Ort zu einem L. macht, nicht trivial. Über eine Erschließung der räumlich-sozialen Realität der die gegenwärtige Wahrnehmung dominierenden Flüchtlings.-L. lässt sich zunächst feststellen, dass ein L. ein umgrenztes, von der übrigen Umgebung separiertes Gebiet darstellt und meist von einem Zaun oder einer Mauer umgeben ist. Zu- und Ausgang unterliegen der Kontrolle durch Sicherheitskräfte, die ihrerseits nationalen oder kommunalen Behörden wie auch privaten Sicherheitsfirmen angehören können. D. h., die Bewegungsfreiheit der Bewohner und Bewohnerinnen ist massiv eingeschränkt (Agier 2008: 29; Agier 2011: 185 f.). Die Integrität der Privatsphäre sowie die Erfüllung der Grundbedürfnisse sind stark gefährdet: Häufig mangelt es an Rückzugsmöglichkeiten, an sauberem Trinkwasser, sanitären Einrichtungen sowie Zugang zu Bildung und Arbeit. Oft wird auch von einer prekären Sicherheitslage, insb. für Frauen und Kinder, berichtet (Agier 2008: 65-72). Dies betrifft den mangelhaften Schutz vor physischer Gewalt und Übergriffen wie auch vor Gefahrenlagen wie Bränden, extremen Witterungsbedingungen oder Wetterereignissen. Immer wieder gelingt es den Insassen aber auch, z. T. durch drastische Maßnahmen wie Hungerstreiks, das Zunähen der Lippen oder Selbstverbrennungen, gegen die Verhältnisse im L. aufzubegehren und die (welt-)gesellschaftliche Öffentlichkeit auf ihre Lage aufmerksam zu machen.
L. sind integraler Bestandteil und zentrale Institutionen der globalen Moderne. Die Weltbevölkerung ist auf eine abstrakte Weise an sie gewöhnt und zugleich sind einem großen Teil, v. a. im Globalen Norden, deren Existenz, Zweck und Funktion kaum bewusst. Zwar hat der Zuwachs an L.n seit 2015 auf europäischem Boden für eine höhere Präsenz in Medienberichterstattung und öffentlicher Wahrnehmung gesorgt (Agier 2019: 128 f.). Einen Beitrag dazu haben auch symbolträchtige Besuche hochrangiger Politiker oder kirchlicher Würdenträger geleistet, wie z. B. die Reisen von Papst Franziskus nach Lampedusa zu Beginn seiner Amtszeit im Juli 2013 oder auf Lesbos im Dezember 2021. Doch zu einem vertieften Verständnis tragen weder mediale Aufmerksamkeit noch symbolische Handlungen bei. Obwohl L. in der Gegenwart v. a. im Kontext des globalen Migrationsregimes zu betrachten sind, müssen sie mindestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. als Strategien der Steuerung großer Menschenmassen gelten. L. modernen Typs begegnen als Kriegsgefangenen-L. im Bürgerkrieg in den USA sowie im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als Reaktion auf die empfundene Notwendigkeit, eine große Zahl von Menschen wegzuschließen und auf diese Weise erzwungene Migration zu steuern (Thiel/Jahr 2017). Im Zeitalter des Kolonialimperialismus (Imperialismus, Kolonialismus) werden in einigen britischen und deutschen Kolonien Konzentrations-L. eingerichtet – zum Zweck der Kontrolle und Disziplinierung der kolonisierten Bevölkerung durch Inhaftierung, Umerziehung und zur Beschaffung von Arbeitskräften. In ihnen kommen aufgrund von Mangelversorgung, systematischer Vernachlässigung, Krankheiten und Gewalt tausende Menschen ums Leben (Kreienbaum 2015). Nach dem Ersten Weltkrieg und der Neuordnung der europäischen Staatenwelt in Mittel- und Osteuropa nimmt das Problem millionenfacher Staatenlosigkeit neue Dimensionen an, auf welche die Nationalstaaten mit Internierungs-L.n für Staatenlose und Flüchtlinge reagieren. In der stalinistischen Sowjetunion sind Straf- und Arbeits-L. bereits eine Herrschaftsmethode des Regimes. Die fraglos verheerendste Form der L. stellen die Vernichtungs- und Konzentrationslager im nationalsozialistischen Deutschland dar, die die zentralen Orte des Menschheitsverbrechens der Shoa und der systematischen Qual, Erniedrigung und Ermordung von Andersdenkenden, Sinti und Roma und sogenannten „Asozialen“ sind (Arendt 2017: 918 f.).
Im Kontext des europäischen Asylregimes sind L. vor allem „Werkzeuge migrationspolitischer Regierungspraktiken. Sie sollen Kontrolle, Ordnung, Regulation herstellen.“ (Devlin u. a. 2021: 10) Sie befinden sich i. d. R. an den Grenzen der europäischen Union. Doch auch die Erstaufnahmeeinrichtungen der Staaten ohne EU-Außengrenze, wie die BRD, erweisen sich oft als L. Häufig mit euphemisierenden Bezeichnungen wie Aufnahme-, Transit- oder Ankerzentrum versehen handelt es sich hierbei um Orte der Prekarisierung und Immobilisierung (vgl. Engler 2021: 37-38). Menschen, die sich dort aufhalten, werden in ihren Handlungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten eingeschränkt und von gesellschaftlichen Institutionen und sozialer Teilhabe weitgehend ausgeschlossen. Meist kommen sie höchstens mit den bürokratischen Verwaltungsstrukturen des Asylregimes in Kontakt (vgl. Engler 2021: 33). Obgleich formell durch kurze Aufenthaltsfristen und Kapazitätsgrenzen in ihrem Wirkungsbereich begrenzt, überschreitet die durchschnittliche Aufenthaltsdauer und Zahl der Bewohner*innen die festgelegten Grenzen um ein Vielfaches. So hielten sich zum Zeitpunkt des Brandes im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos 12.600 Menschen auf, obwohl das Lager auf eine Bewohner*innenzahl von 2.800 ausgelegt ist.
2. Menschenrechtsethische Sondierungen
Für das sozialethische Denken stellen die historischen und zeitgenössischen Belege für die Zugehörigkeit von L.n zur globalen Moderne eine fundamentale Provokation dar, bedeuten sie doch eine grundsätzliche Infragestellung des normativen Selbstverständnisses der Weltgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg: dem (wenn auch umstrittenen und vielfach verletzten) Prinzip allgemein gültiger, in der gleichen Würde und Freiheit aller Menschen gründender und durch völkerrechtliche Konventionen kodifizierter Rechte (Völkerrecht). Insofern sind L. auf ethischer Ebene zuvörderst ein menschenrechtsethisches Problem, wobei mitunter nach den unterschiedlichen L.-Typen zu differenzieren ist. Die sozialethische Sondierung lässt sich auf vier lagerkritische Problemstellungen konzentrieren.
Schon aus der oben skizzierten Charakterisierung ergeben sich insbesondere mit Blick auf die Flüchtlings-L. der Gegenwart zahlreiche Rückfragen zum Status einzelner Menschenrechte und damit zur Menschenrechtslage in den L.n. Die Kombination aus Überbelegung und Mangelversorgung sorgt mindestens für eine Unsicherheit der Gewährleistung, eher für eine systematische Gefährdung der Menschenrechte auf einen angemessenen Lebensstandard, Gesundheit und ärztliche Versorgung (Art. 25 AEMR), auf Arbeit (Art. 23 AEMR) und Bildung (Art. 26 AEMR). Aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und des meist monate- oder jahrelangen Aufenthalts sind auch die Rechte auf Bewegungsfreiheit (Art. 13 AEMR) und Asyl (Art. 14 AEMR) faktisch weitgehend aufgehoben. Immer wieder wird auch auf das Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verwiesen, dem die L. zuwiderlaufen. Das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (Art. 3 AEMR) ist ebenso prekär. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Unterbringung in L.n den vollen Anspruch auf alle in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkündeten Rechte (Art. 2 AEMR) und auf eine soziale und internationale Ordnung zur vollen Verwirklichung eben dieser Rechte (Art. 28 AEMR) konterkariert. Zwar ist die AEMR kein verbindliches Dokument internationalen Rechts, wohl aber durch Internationale Pakte und Konventionen völkerrechtlich verbindlich kodifiziert. Insofern zeigt die hier angeführte Liste deutlich die strukturelle Menschenrechtsproblematik des internationalen, menschenrechtsorientierten und völkerrechtsbasierten Flüchtlingsregimes an.
Zugleich wird darin schon angedeutet, dass nicht nur ein fundamentaler Gegensatz zwischen Menschenrechten und L.n besteht. Vielmehr sind die Menschenrechte auf vielfältige Weise mit dem L.-System im internationalen Flüchtlingsregime verknüpft. Gerade in Notlagen infolge von Umweltkatastrophen, Kriegen, Bürgerkriegen und bewaffneten Konflikten werden L. in Reaktion auf damit verbundene Fluchtbewegungen als provisorische Unterkünfte unter Beteiligung der internationalen Gemeinschaft und mit Unterstützung durch zivile Hilfsorganisationen eingerichtet. L. sind also zunächst rudimentäre Schutzorte, die menschenrechtliche Mindeststandards im Sinne der Erfüllung der Grundbedürfnisse und der Überlebenssicherung in Ausnahmesituationen gewährleisten sollen. In diesem Sinne sind L. aber eben keine Provisorien, sondern dauerhafte Einrichtungen als ein Mittel der Wahl, humanitäre Nothilfe zu leisten und zu organisieren (Agier 2016: 53). Insofern können L. auch als Produkt eines bestimmten Menschenrechtsverständnisses interpretiert werden.
Dem gegenüber steht jedoch eine Deutung von L.n als extralegalen Räumen. Diesem Ansatz liegt die Auffassung zugrunde, dass L. nicht auf eine Regularisierung eines Aufenthalts auf einem bestimmten Territorium zielen, sondern gerade außerhalb eines geordneten Rechtsrahmens stehen (Loick 2021: 349). Wiederum spielt das Recht dabei eine ambivalente Rolle, d. h. Extralegalität bedeutet nicht die vollständige Abwesenheit von Recht, sondern dessen ungeordnete, chaotische Anwendung: Die Bewohner und Bewohnerinnen der L. können für ihr Handeln in den L.n verantwortlich gemacht, sprich: angeklagt werden. Faktisch ist es ihnen jedoch schwer bis nahezu unmöglich, ihre Rechte als Menschen geltend zu machen (Loick 2021: 352). Diese Sichtweise verweist auf einen Analyseansatz, der L. als totalitäre Elemente der globalen Moderne versteht. Im Kontext der Totalitarismusforschung gelten L. als voll ausgebaute Institutionen der totalen Herrschaft Totalitarismus, in denen die Ziele der vollständigen Beherrschung von Menschen gewissermaßen unter Laborbedingungen erprobt und exerziert werden. Zwischen Internierungs-L.n für Staatenlose, sowjetischen Straf- und Arbeits-L.n und nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungs-L.n bestehen diesem Forschungsansatz zufolge zwar kategoriale Unterschiede. Doch bestimmte Merkmale wie die systematische Vernachlässigung und die breitflächige Abschottung und Isolation von der Gesellschaft sind bereits in Flüchtlings- und Staatenlosen-L.n sichtbar. Umstritten ist dabei jedoch, ob es sich hierbei gewissermaßen um notwendige Prozesse der globalen Moderne handelt, die in der ursprünglichen Verknüpfung von Recht und Souveränitätsprinzip (Souveränität) angelegt sind (Agamben 2019: 39), oder ob L. als historische Formation nicht auch mit modernen Mitteln kritisiert und überwunden werden können. Hierbei müsste dann als Leitmotiv die „Angst vor den Konzentrationslagern“ (Arendt 2017: 914) dazu verhelfen, „den politisch wesentlichsten Maßstab für die Beurteilung von politischen Ereignissen in unserer Zeit einzuführen, nämlich: ob sie einer totalen Herrschaft dienen oder nicht.“ (ebd.) In jedem Fall erscheint angesichts des weiteren Ausbaus einer L.-Struktur in der europäischen Migrationspolitik im ersten Viertel des 21. Jh. eine erhöhte Sensibilität für diese inhärente, totalitäre Struktur von L.n geboten.
Einen wirklich aussichtsreichen ethisch-politischen Umgang mit dem L.-Phänomen hat die politische Praxis bisher noch nicht gefunden. Einstweilen lassen sich drei Strategien unterscheiden (1) die gewaltsame Räumung und Zerstörung, die meist bei irregulären L.n zum Einsatz kommt; (2) die selten angewandte langfristige „Umwidmung“ zu einem anerkannten Ort mit so etwas wie offiziellem Stadtcharakter und (3) das am weitesten verbreitete Abwarten, das eben häufig eine kontrollierte Vernachlässigung und organisierte Perspektivlosigkeit darstellt. Dennoch werden einige konstruktive Vorschläge in der Forschung geäußert. Eher wirtschaftsliberal geprägt ist die Idee, L. in Sonderwirtschaftszonen umzuwandeln, um so den Bewohnern ein selbstständiges Auskommen zu ermöglichen und sie an ökonomischer Entwicklung partizipieren zu lassen (Betts/Collier 2017: 211-244). Auf einen Zugewinn an Rechtssicherheit setzen von zivilgesellschaftlichen Gruppen und engagierten Anwälten und Anwältinnen unterstützte Verfahren strategischer Prozessführung. In den vergangenen Jahren sind hierbei häufig Erfolge etwa in der Aussetzung von Abschiebungen in EU-Staaten, bei denen einen menschenunwürdige Unterbringung in L.n zu erwarten war, zu verzeichnen gewesen (Thym 2020: 991 f.; 1013). Und schließlich finden sich auch Verweise auf die Praktiken und Formen des Zusammenlebens von communities, die durch eine subversive Alltagspraxis, kreativen Widerstand oder Akte der Verweigerung Wege in eine Welt ohne L. weisen können und somit die Frage nach einer grundsätzlichen Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse auf die Tagesordnung setzen (Loick 2021: 359 f.).
Literatur
J. Devlin/T. Evers/S. Goebel (Hg.): Praktiken der (Im-)Mobilisierung. Lager, Sammelunterkünfte und Ankerzentren im Kontext von Asylregimen, 2021 • J. Devlin/T. Evers/S. Goebel: Einleitung, in: ebd., 7-23 • A.-M. Engler: Flüchtlingslager jenseits der Ausnahme vom Recht denken. Theoretische Schlaglichter und aktuelle Debatten, in: ebd., 27-47 • D. Loick: Das Anrecht auf Grausamkeit. Recht und Affekt; Moria; abolitionistische Strategien, in: KJ 54/3 (2021), 348-360 • M. Agier: Lagerwelten. Von Dadaab bis Moria: Wie aus Provisorien für Geflüchtete ein Dauerzustand wird, in: S. Mahlke (Hg.): Atlas der Globalisierung, 2019, 128-129 • H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus – Imperialismus – totale Herrschaft, 202017 • A. Betts/P. Collier: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist, 2017 • J. Thiel/C. Jahr: Begriff und Geschichte des Lagers (2017), URL: https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/246175/begriff-und-geschichte-des-lagers/, (abger.: 24.2.2023) • M. Agier: Borderlands. Towards an Anthropology of the Cosmopolitan Condition, 2016 • J. Kreienbaum: Ein trauriges Fiasko. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900-1908, 2015 • M. Agier: Managing the Undesirables. Refugee Camps and Humanitarian Government, 2011 • Ders.: On the Margins of the World. The Refugee Experience Today, 2008.
Empfohlene Zitierweise
J. Könning: Lager, I. Sozialethik, Version 24.10.2023, 11:50 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Lager (abgerufen: 21.11.2024)