Biopolitik
1. Begriff
B. im engeren Sinne betrifft öffentliche Diskussion und rechtliche Regelung von Problemen, die das menschliche Leben in seiner Existenz betreffen. B. im weiteren Sinne schließt die landwirtschaftliche Gentechnik und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen ein. Zu weit ist eine Definition von B. als gesellschaftliche Thematisierung und Regulierung der Anwendung moderner Naturwissenschaften und Technik auf den Menschen, weil sie den Unterschied zwischen der Gestaltung der Lebensumstände und der Manipulation des menschlichen Lebens verwischt. Gegenstand der B. im engeren Sinne sind einerseits die klassischen Probleme: Abtreibung und Euthanasie; andererseits Probleme, die erst mit der assistierten Reproduktion im letzten Viertel des 20. Jh. entstanden: embryonale Stammzellenforschung, PID, Klonen von Menschen, Genchirurgie und nicht zuletzt die assistierte Reproduktion selbst. Bis zum letzten Drittel des 20. Jh. waren Abtreibung und Euthanasie in den meisten Kulturen und Rechtsordnungen als Tötungsdelikte strafrechtlich sanktioniert. Von B. ist deshalb erst seit Beginn des 21. Jh. die Rede.
2. Philosophische Debatte
Im Mittelpunkt der philosophischen Debatte steht die anthropologische Frage (Anthropologie): Was ist der Mensch, dessen Leben durch die Möglichkeiten der Biomedizin vom Subjekt zum Objekt wird? Welche Macht hat der Mensch über sich selbst? Welche Grenzen sind der Forschungsfreiheit gesetzt? Wem kommen Würde und Recht auf Leben zu? Welche Probleme ergeben sich aus der Vorstellung, die menschliche Natur gentechnisch optimieren zu können? Kann es Eigentumsansprüche auf menschliche Embryonen geben? Verschwindet die Differenz zwischen Person und Sache? Entsteht eine neue Zweiklassengesellschaft – hier die Klasse der Produzenten und dort die Klasse der zertifizierten Produkte? Galt es bisher als selbstverständlich, dass das Dasein der Spezies Mensch gut und wünschenswert ist, so steht plötzlich die Legitimität des Menschen zur Debatte.
Der Ursprung der B. wird in der philosophischen Diskussion mit der Veränderung politischer Machtstrukturen (Macht) in Verbindung gebracht. Herrschaft gründe nicht mehr nur auf der Souveränität des politischen Machthabers, der den Ausnahmezustand definieren und die Untertanen in den Tod schicken könne, sondern auf der Manipulation des auf den Körper reduzierten physischen Lebens, in dem nicht mehr nur eine verwendbare, sondern eine optimierbare Ressource gesehen wird. B. ist also nicht ein Politikfeld unter anderen, sondern eine „sich ‚des Lebens‘ […] bemächtigende Politik“ (Gehring 2006: 8). Biomacht artikuliert sich im Gewande eines Wohlfahrtsstaates, der das generative Verhalten der Bevölkerung zu lenken beansprucht und die Grenzen zwischen Reproduktion und Produktion, Krankheitstherapie und Glücksproduktion, Person und Sache verschwimmen lässt. Der Beginn der B. liegt im Plädoyer von Karl Binding und Alfred Hoche für „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (1920), das der nationalsozialistischen Euthanasiepolitik (Euthanasie) den Boden bereitete. Der Zugriff der Politik auf das „nackte“ oder „bloße“ Leben, kennzeichnet aber auch demokratische Gesellschaften. Deshalb wird in der philosophischen Debatte auch an die Konvergenz der modernen Demokratie mit totalitären Systemen (Totalitarismus) erinnert. Nazismus (Nationalsozialismus) und Faschismus „bleiben bedrohlich aktuell“ (Agamben 2002: 20).
Ein wesentlicher Impuls der B. ist die Vorstellung, die menschliche Natur gentechnisch optimieren zu können. Die Molekularbiologie hat mit ihren Entdeckungen in der zweiten Hälfte des 20. Jh. viel zu dieser Vision beigetragen: „Wenn wir eines Tages ein Gen hinzufügen können, um Kinder intelligenter oder schöner oder gesünder zu machen, dann sehe ich keinen Grund, das nicht zu tun […] Wenn wir in der Lage sind, die Menschheit zu verbessern, warum nicht?“ (Watson 2005: 31). Diese Vision hat eine Reihe problematischer Voraussetzungen und Folgen. Wer definiert was eine Optimierung der menschlichen Natur ist? Wer entscheidet Kontroversen über unterschiedliche Optimierungsvorstellungen? Von zentraler Bedeutung sind diese Fragen bereits bei der PID. Welche Krankheitsdispositionen oder Behinderungen sollen den Ausschluss eines Embryos vom Transfer in die Gebärmutter rechtfertigen? Die Vision der Genoptimierung führt zur tödlichen Selektion von Embryonen in vitro, und zur Bereitschaft, Embryonen auch in utero zu töten, wenn sie Optimierungs- bzw. Gesundheitskriterien nicht entsprechen. Kinder, „deren Gene kein sinnvolles Leben zulassen […], sollten gar nicht erst geboren werden“. Deshalb solle man „bis zwei Tage nach der Geburt warten, bevor man etwas als Leben deklariert, als ein Kind mit Zukunft“ (Watson 2001: 28). Der Begriff „Mensch“ gilt als „kulturbezogener Zuschreibungsbegriff“, weshalb Forschung an Embryonen Grenzen überschreiten müsse. Dies sei „unverzichtbarer Teil unserer […] Menschenwürde“ (Markl 2001: 8): Embryonale Stammzellenforschung, mit großen Hoffnungen auf die Therapie bisher unheilbarer Erkrankungen verbunden, verstoße deshalb nicht gegen das Verbot, Menschen zu instrumentalisieren, sondern werde zur Pflicht der Wissenschaft. Gerechtfertigt werden die tödlichen Folgen für den Embryo bzw. die totipotente Zelle damit, dass sie ohnehin dem Tod geweiht seien und durch die Stammzellgewinnung wenigstens noch Nutzen für Wissenschaft oder künftige Therapien brächten. Ein nutzloser Tod aber ist kein sinnloser Tod. Die Frage, wessen Eigentum diese Embryonen sind, ob es überhaupt ein Eigentum an ihnen geben kann, wird verdrängt. Da der Embryo in vitro ein Mensch im frühesten Stadium seiner Existenz ist, verbietet es sich, ihn als Eigentum der Wissenschaft, der Gesellschaft, des Reproduktionslabors oder der Eltern zu betrachten. Eigentumsansprüche auf Menschen zu erheben, heißt sie versklaven.
Um die Legitimität des Anspruchs auf Nutzung von Embryonen zu begründen, wird in die Debatte eine Reihe von Unterscheidungen eingeführt, die den Nachweis erbringen sollen, dass der Embryo in vitro noch keine Person sei und deshalb nicht dem aus der Menschenwürde abgeleiteten Instrumentalisierungsverbot unterliege. Zu diesen Unterscheidungen zählen jene zwischen dem Embryo in vitro und dem Embryo in utero, zwischen dem Präembryo und dem Embryo, zwischen der abstrakten und der konkreten Möglichkeit der Menschwerdung oder zwischen Embryonen, die in kommunikativen Verhältnissen leben, Interessen besitzen und Empfindungen haben, und Embryonen, denen diese Merkmale abgehen. Alle Unterscheidungen dienen dem Zweck, Embryonen im jeweils minderen Status Person-Sein und Würdeschutz abzusprechen und Ansprüche von Forschungs- oder Therapieprojekten zu begründen.
Die assistierte Reproduktion stellt ein grundlegendes Prinzip freier Gesellschaften in Frage: die ontologische Gleichheit der Menschen, aus der die Rechtsgleichheit folgt. Das aus der assistierten Reproduktion hervorgehende Kind wird zwar von den Eltern gewünscht. Das unterscheidet es nicht von den meisten natürlich gezeugten Kindern. Aber es ist im Unterschied zu diesen nicht die Frucht eines ehelichen Liebesaktes, die zwar erhofft, aber nicht gemacht werden kann, sondern das Produkt des Reproduktionsmediziners und der Gametenspender. Es verdankt seine Entstehung einem technischen Verfügungs- und Herrschaftswissen, einer „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer), die schon Aristoteles als Poiesis von der Praxis als dem richtigen Handeln des Menschen im Hinblick auf sein höchstes Ziel unterschied. Als Produkt aber befindet sich der Mensch in einer existentiellen Abhängigkeit von denen, die ihn produzieren. Dies widerspricht der Symmetrie der Beziehungen, die eine wesentliche Voraussetzung für den egalitären Umgang von Personen ist. Diese Symmetrie ist die anthropologische Grundlage der Demokratie. Nicht erst die embryonale Stammzellenforschung, sondern die assistierte Reproduktion selbst führt deshalb zu einem „veränderten gattungsethischen Selbstverständnis […], das mit dem normativen Selbstverständnis selbstbestimmt lebender und verantwortlich handelnder Personen nicht mehr in Einklang gebracht werden kann“ (Habermas 2001: 76). Sie verletzt das Prinzip der Gerechtigkeit, das sich in der Goldenen Regel niederschlägt, nach der jeder von seinem Mitmenschen auf Grund seiner bloßen Existenz anerkannt werden will und nicht, weil seine Existenz dem Wunsch oder Gefallen eines anderen entspricht. Die assistierte Reproduktion führt deshalb zu einer Zweiklassengesellschaft, in der den gezeugten Geschöpfen die im Labor gemachten Produkte gegenüberstehen. Sie fördert eine eugenische Mentalität und widerspricht einem grundlegenden Prinzip freier Gesellschaften: der Gleichheit aller Menschen (Dignitas Personae). In der Politikwissenschaft wird die Frage diskutiert, ob die „biotechnologische Kolonisierung der Natur“ (Kauffmann 2011: 11) das vertragstheoretische Legitimationsmodell des liberalen Staates (Vertragstheorien) desavouiert. Nicht nur kritisch, sondern auch affirmativ wird vom „Transhumanismus“ gesprochen, der die menschliche Natur durch eine Manipulation des Gehirns mittels genchirurgischer Verfahren einerseits und Psychopharmaka andererseits in ein „posthumanes“ Stadium der Geschichte führen will.
3. Poltische Entscheidungen
Das historisch erste und politisch bedeutendste Feld biopolitischer Regulierungen ist die strafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs: die beabsichtigte und direkte Tötung eines Menschen in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz. Versuche, den Abbruch zu legalisieren, begannen in den rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften des Westens Ende der 60er Jahre des 20. Jh. in Großbritannien und den skandinavischen Ländern. Weshalb er nach einem jahrhundertelang geltenden Verbot auf die politische Agenda kam, ist nicht leicht zu beantworten. Dies lenkt den Blick auf die Einführung der hormonalen Empfängnisverhütung 1961, welche eine perfekte Beherrschbarkeit der Empfängnis suggerierte. Sie förderte bei Versagen die Bereitschaft, im Schwangerschaftsabbruch einen Notausgang aus der unerwünschten Lage zu sehen. Kampagnen zur Legalisierung bedienten sich meist des gleichen Begründungsmusters: Illegale Abtreibungen führten zu zahlreichen Todesfällen. Legalisierung und ärztliche Professionalität sollten besseren Schutz gewährleisten. Die Legalisierung erfolgte dann entweder als Fristen- oder als Indikationenregelung, die Abtreibung straffrei stellen. In den USA wird sie seit dem Urteil des Supreme Court Roe v Wade 1973 dem Recht auf Privacy untergeordnet, also zur Privatsache erklärt.
In Deutschland führte die vom „Stern“ 1971 initiierte Kampagne, die nicht auf eine Reform, sondern auf die Beseitigung des § 218 StGB zielte, 1974 zur ersten Legalisierung in Form einer Fristenregelung. Nach einem Urteil des BVerfG 1975, das die Fristenregelung als grundgesetzwidrig verwarf, folgte 1976 eine zweite Reform als Indikationenregelung. Die Wiedervereinigung führte 1992 zu einer dritten und nach einem erneuten Urteil des BVerfG 1993 schließlich 1995 zu einer vierten Reform. Eine Abtreibung erfüllt nach dem seither geltenden § 218a Abs.1 StGB keinen Straftatbestand mehr, wenn sie innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis von einem Arzt vorgenommen wird und die Schwangere einen Beratungsschein vorlegen kann. Dieser Schein verwandelt den Straftatbestand für den Arzt in eine medizinische Dienstleistung. Die Beratungspflicht sollte das ungeborene Kind besser schützen als das strafbewehrte Verbot. Diese Erwartung erfüllte sich nicht. Das StBA verzeichnet einschließlich der DDR-Statistik von 1972 bis 2016 5,8 Mio. Abtreibungen, die Realität umfasst nach plausiblen Schätzungen jedoch die doppelte Zahl. In der katholischen Kirche wurde um dieses Beratungssystem mehr als vier Jahre heftig gerungen. Auf Anweisung von Papst Johannes Paul II. beendeten die deutschen Bischöfe (Bischof), im Jahr 2000 die Mitwirkung kirchlicher Institutionen. Die Legalisierung war ein gravierender Bruch zentraler rechtsstaatlicher Prinzipien: des Verbots privater Gewaltanwendung in einem Konfliktfall und des Verbots, Unschuldige zu töten. Ein Rechtsstaat, der die Zerstörung der eigenen Konstitutionsbedingungen rechtsstaatlich regeln will, verwickelt sich in einen unlösbaren Widerspruch.
Biopolitische Entscheidungen, die das Lebensende betreffen, waren nach den Erfahrungen mit den rassenideologischen nationalsozialistischen Euthanasiegesetzen (Nationalsozialismus, Euthanasie) nicht nur in Deutschland jahrzehntelang tabu. Diese Gesetze zielten auf die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Mit dem niederländischen Gesetz zur „Überprüfung der Lebensbeendigung auf Verlangen und bei der Hilfe zur Selbsttötung“ ging die Tabuisierung der Euthanasie in Europa 2001 zu Ende. Vergleichbare Gesetze wurden in Belgien 2002 und in Luxemburg 2009 verabschiedet. Sie regeln, unter welchen Bedingungen ein Arzt einen Patienten töten oder ihm Beihilfe zum Suizid leisten darf und erheben den Anspruch, die Selbstbestimmung des Patienten zu gewährleisten. Galt der Arzt in den Niederlanden, der einen Patienten tötete, bis Anfang der 90er Jahre des letzten Jh. als Mörder, dann bis zu Verabschiedung des Euthanasiegesetzes 2001 als geduldeter Delinquent, so soll er fortan ein Wohltäter sein, der die Realisierung einer finalen Selbstbestimmung und einen schmerzfreien Tod ermöglicht. Die gut dokumentierte niederländische Entwicklung zeigt jedoch, dass die Vorstellung, Euthanasie werde nur auf Grund eines freiwilligen, wohlüberlegten und dauerhaften Wunsches des Patienten und unter Hinzuziehung eines zweiten Arztes vorgenommen, eine Illusion ist. In rund 20 % der etwa 4 500 jährlichen Fälle in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes erfolgte sie ohne Einwilligung des Patienten. Mit dem „Groningen-Protokoll“ wurde die Euthanasie 2004 auf schwer kranke oder behinderte Neugeborene und Kinder (Behinderung) im ersten Lebensjahr ausgeweitet.
In Deutschland, mehreren anderen EU-Staaten und in einigen Bundesstaaten der USA konzentriert sich die Debatte um biopolitische Entscheidungen am Lebensende auf den assistierten Suizid. Am 6.11.2015 verbot der Bundestag mittels eines neuen § 217 StGB zwar die „geschäftsmäßige“, d. h. auf Wiederholung angelegte, Suizidbeihilfe, erlaubte aber zugl. die „nicht geschäftsmäßige“ Suizidbeihilfe durch Angehörige oder nahestehende Personen. Darunter fallen auch Ärzte. Die aufschlussreiche niederländische Entwicklung zeigt eine fließende Grenze zwischen Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen, weil der Arzt bei Misslingen des Suizids zur aktiven Tötung übergeht. In Österreich und in mehreren anderen Staaten der EU ist Suizidbeihilfe der Tötung auf Verlangen gleichgestellt und verboten. Biopolitische Entscheidungen am Lebensende haben erhebliche Konsequenzen für das Selbstverständnis der Ärzte wie auch der Kranken und Pflegebedürftigen. Ärzte würden statt zu heilen oder Schmerzen zu lindern, Leben beenden. Der kranke alte Mensch würde zum Objekt, das der Gesellschaft zur Last fällt. Er könnte von der Last befreien, wenn er den Euthanasiewunsch äußert. Demographische Entwicklung (Demographie) und Kostensteigerungen im Gesundheitswesen erhöhen den Druck, sich dem Trend zum sozial- bzw. generationenverträglichen Ableben anzuschließen.
Biopolitische Entscheidungen, die an die assistierte Reproduktion anknüpfen, betreffen mehrere heftig umstrittene Felder: embryonale Stammzellenforschung, PID, Klonen, die Genchirurgie und nicht zuletzt die assistierte Reproduktion selbst, die sich nach der Geburt des ersten künstlich erzeugten Menschen 1978 in Großbritannien völlig ungeregelt ausgebreitet hatte. Der Kinderwunsch ist auf der einen Seite so stark, dass er die medizinischen und psychologischen Risiken der assistierten Reproduktion für Mutter und Kind weitgehend ignoriert. Auf der anderen Seite gilt er als so privat, dass sich der Gesetzgeber, v. a. in den USA, scheut, seiner Kontroll-, Schutz- und Regelungsaufgabe nachzukommen. Die B. steht in all diesen Feldern vor der Frage, wie biowissenschaftliche Entwicklungen und Lebensschutz zu vereinbaren sind. Das deutsche ESchG von 1990 verbot deshalb die Herstellung von Embryonen zu einem anderen Zweck als dem der Befruchtung der Frau, von der die Eizelle stammt. Das StZG von 2002 erlaubte jedoch die Forschung mit importierten Stammzellen, die vor dem Stichtag 1.1.2002 hergestellt wurden, der 2008 auf den 1.5.2007 verschoben wurde. Die Stichtagsregelung ist damit zum Spielball der Forschung geworden. Nachdem es Shinya Yamanaka und James Thomson 2007 gelungen ist, durch Reprogrammierung aus adulten Stammzellen pluripotente Zellen zu gewinnen, besteht die Hoffnung, den Konflikt zwischen Forschungsfreiheit und Embryonenschutz zumindest in der Stammzellenforschung zu lösen.
In der PID geht es darum, künstlich erzeugte Embryonen vor der Übertragung in eine Gebärmutter auf bestimmte genetische Defekte zu untersuchen. Ihre Verteidiger begründen deren in Deutschland 2011 erfolgte Legalisierung mit dem Wunsch nach einem gesunden Kind. Dafür wird die tödliche Selektion aller Embryonen mit den gesuchten genetischen Defekten in Kauf genommen und das Tor zur vorgeburtlichen Qualitätskontrolle geöffnet. Dies verletzt, so schon die Enquetekommission Recht und Ethik der modernen Medizin des Deutschen Bundestages 2002, die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG, das jedem Menschen unabhängig von Gesundheitszustand oder zu erwartender Lebensdauer zusteht. Es widerspricht auch dem Diskriminierungsverbot Behinderter (Behinderung) in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und in Art. 7 der UN-Konvention über die Rechte Behinderter.
Alle Kontroversen in der embryonalen Stammzellenforschung und in der PID haben ihren Ausgangspunkt in der assistierten Reproduktion. Sie war, so die DFG in ihren Empfehlungen zur Forschung mit menschlichen Stammzellen 2001, der „Rubikon“, mit dessen Überschreiten die B. in das Dilemma zwischen Lebensschutz und Forschungsfreiheit geriet. Es lässt sich nur überwinden, wenn die assistierte Reproduktion selbst in Frage gestellt wird.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
M. Spieker: Biopolitik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Biopolitik (abgerufen: 21.11.2024)