Soziale Netzwerke

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Der Begriff S. N. hat vier voneinander unterscheidbare Bedeutungen. Erstens werden darunter – im Zuge der Etablierung des Web 2.0 – Online-Communities verstanden; zweitens Kooperationsformen zwischen Organisationen, insb. Unternehmen. Drittens wird der Begriff i. S. v. Networking und sozialem Kapital verwendet. Und viertens bilden S. N. eine forscherische Perspektive auf soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge schlechthin.

1. Soziale Netzwerke als Online-Communities

Die mittlerweile prominenteste Verwendung des Begriffs S. N. bezieht sich auf Phänomene der Social Media. Hierbei handelt es sich um Anwendungen des sog.en Web 2.0, die ganz gezielt Plattformen der Selbstpräsentation der Nutzer und des vielfältigen Austauschs zwischen ihnen ermöglichen. Damit einher gehen ebenso neue Formen des Kennenlernens, der enträumlichten Kontaktpflege, der Unterstützung und der Partizipation wie auch Phänomene der Fragmentierung des Internets (Echokammern), der Fake News, hate speech, Überwachung und Radikalisierung.

Faktisch handelt es sich um soziotechnische Netzwerke, da die technische Infrastruktur der Plattformen erheblichen Einfluss auf die Faktizität, die Form und den Inhalt der Beziehungen in diesen S.n N.n besitzt. Dadurch dass die Kodierung von Informationen in Bits und Bytes die analoge Welt in manipulierbare Zahlenwelten verwandelt, eröffnen sich bei den digitalen Medien umfassende informationsbezogene Gestaltungsmöglichkeiten, die nach Tony Feldman vier Charakteristika aufweisen:

a) Interaktivität: Medienkonsumenten werden im Web 2.0 gleichzeitig auch Medienproduzenten.

b) Viralität: Informationen können gleichzeitig von einer großen Anzahl von Nutzern geteilt und ausgetauscht werden.

c) Dichte/Komprimierbarkeit: Informationen können komprimiert und so transferiert werden.

d) Unbefangenheit: Alles Mögliche kann digitalisiert werden, womit eine Indifferenz gegenüber dem Inhalt zum Ausdruck kommt, die sich auch in der beliebigen Kombinierbarkeit der Inhalte spiegelt.

Wie Alexander Galloway und Eugene Thacker in ihrer Analyse von S.n N.n auf der „mikrotechnischen Ebene nichthumaner Maschinenpraktiken“ (2014: 290) herausarbeiten, bildet das Protokoll das Prinzip der politischen Kontrolle in der digitalen Sphäre. Dabei kommt den Protokollen – wie z. B. den Internetprotokollen IP/TCP – eine Doppelfunktion zu: Sie sind einerseits eine Apparatur, die soziotechnische Netzwerke ermöglichen, und andererseits Regelwerke, die Aufgaben und Abläufe in dieser Apparatur steuern. Protokolle treten als raffinierte Systeme von „dezentalisierter Kontrolle“ (Galloway/Thacker 2014: 292) dadurch in Erscheinung, dass sie technisch den Raum des Internets kontrollieren und den Datenfluss regulieren. S. N. lassen sich nach A. Galloway und E. Thacker prinzipiell nur noch mittels derartiger Protokolle wirkungsvoll kontrollieren.

Für Lev Manovich lassen sich die Social Media-Netzwerke durch die fünffache Spezifik ihrer Inhalte, die er Objekte neuer Medien nennt, hinreichend beschreiben:

a) Digitalität: Alles, auch Analoges bzw. Materielles, erfährt eine binäre Repräsentation.

b) Modularität: Inhalte können in unabhängige Elemente aufgelöst werden, die neu miteinander kombiniert werden können.

c) Automation: Algorithmen können digitalisierte Daten automatisch transformieren.

d) Variabilität: Der digitalisierte, modulare Inhalt kann in unbegrenzbar vielen Variationen und Kombinationen existieren.

e) Transcodierbarkeit: Objekte neuer Medien überschreiten die Grenzen des Digitalen und beeinflussen alle anderen Realitätssphären.

Die beliebige, situationsgebundene Kombinierbarkeit digitalisierter, modularer Inhalte in diesen S.n N.n führt für L. Manovich zu einem Welt- und Selbstverständnis, welches das vormals vorherrschende Paradigma des Narrativs – die Erzählung, das Ursache-Wirkungs-Denken, die klassische Beweisführung – ablöst. Realität ist dann ein sich situativ und unmittelbar einstellendes Netzwerkphänomen aus materiellen, psychischen, sozialen und digitalen Elementen, das sich dynamisch verändert (Virtuelle Realität). Für Manuel Castells steht das Internet ebenfalls für eine neue Form der Gesellschaft: für die Netzwerkgesellschaft.

2. Soziale Netzwerke als ökonomische Koordinationsform

Auf Walter Woody Powell und Oliver Eaton Williamson geht eine Debatte der vergangenen Jahrzehnte zurück, die nachhaltig das Verständnis von Netzwerken als zentrale ökonomische Koordinationsform geprägt hat. W. W. Powell diskutiert die wirtschaftswissenschaftliche Transaktionskostentheorie kritisch, wonach ein Unternehmen bei jeder seiner Aktivitäten (EDV-Abteilung, Produktionsabschnitte, Marketing etc.) zu entscheiden habe, ob sie innerhalb der Organisation realisiert oder über den Markt eingekauft wird. Die betreffenden Entscheidungen beruhen jeweils darauf, welche der beiden Koordinationsformen – Organisation oder Markt – die geringeren Kosten verursacht. Beim Markt regeln Angebot und Nachfrage alles Weitere, d. h. zu welchem Preis ein Tausch erfolgt. Der Preis fungiert dabei als Koordinationsmittel. Die Koordinationsform Markt ist spontan und weitgehend voraussetzungslos. Die beteiligten Akteure stehen in keiner Abhängigkeit zueinander. Der Markt ist also flexibel und bedarf keiner Erwartungssicherheit. Demgegenüber ist das Erbringen einer Leistung innerhalb einer Organisation hochgradig erwartungssicher, aber eben auch im Verhältnis zum Markt sehr unflexibel. Die beteiligten Akteure stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander, da sie ausgeprägt arbeitsteilig und mit klar definierten Aufgaben und Entscheidungsmöglichkeiten ausgestattet sind. Die Abläufe innerhalb einer Organisation sind weitgehend routinemäßig organisiert. Koordinationsmittel sind Anweisung und Macht. Kurzum, diese Koordinationsform ist formal-bürokratisch.

W. W. Powell kritisiert bei beiden Koordinationsformen, dass sie zu wenig die soziale und kulturelle Eingebettetheit der Austauschprozesse berücksichtigen. Ferner entstehen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre immer mehr Unternehmensnetzwerke. Gemeint sind temporäre Zusammenschlüsse von Wirtschaftsakteuren, um gemeinsam eine distributive, strategische, innovative und/oder finanzielle Leistung zu erbringen – ansonsten sind die Unternehmen unabhängig voneinander (im Unterschied zu Joint Ventures). W. W. Powell plädiert dafür, S. N. als dritte Koordinationsform auf gleicher Augenhöhe mit Markt und Organisation zu veranschlagen. Denn ein Soziales Netzwerk ist durchaus vergleichbar flexibel wie der Markt, und gleichzeitig bietet es eine ähnliche Erwartungssicherheit wie Organisationen durch Aufbau und Pflege von Vertrauen.

Bei der Governanceforschung besteht im Hinblick auf den Koordinationsmechanismus im S.n N. kein Konsens. Während W. W. Powell (1990) Vertrauen als zentral ansieht, sind es für O. E. Williamson (1991) spezifische Vertragsbeziehungen bezüglich der beteiligten ökonomischen Akteure und für Renate Mayntz Aushandlungen in Organisationsnetzwerken. Auch Macht und generalisierte Reziprozität werden in diesem Zusammenhang angeführt.

3. Soziale Netzwerke als Beziehungsmanagement

Eine dritte Verwendungsweise des Begriffs S. N. bezieht sich auf den strategischen Aufbau von Beziehungen und deren Nutzung seitens einzelner Akteure. Umgangssprachlich spricht man auch von Networking. In der sozialwissenschaftlichen Forschung firmiert eine solche Betrachtung von S.n N.n unter dem Begriff soziales Kapital (Sozialkapital), das den zu erwartenden Nutzen beschreibt, den ein Akteur aus seinem Netz sozialer Beziehungen zieht. Beziehungen werden dabei als Zugangsmöglichkeiten zu materiellen und immateriellen Ressourcen (z. B. Unterstützung) angesehen.

Das wohl prominenteste Konzept sozialen Kapitals liegt mit Pierre Bourdieu vor. Ihmgemäß besitzen soziale Akteure verschiedene Kapitalformen – das ökonomische, das kulturelle sowie das soziale Kapital. Diese Formen seien prinzipiell gleichwertig, da sie einerseits miteinander konvertiert werden könnten und andererseits alle dazu dienten, die Position einer Person im S.n N. zu erhalten bzw. zu verbessern. Das soziale Kapital ist damit das Produkt seiner Investitionsstrategien auf Basis seiner verfügbaren Kapitalien. Gelinge es einem Akteur, ein dauerhaftes Netz an Beziehungen aufzubauen, so fungiere dieses Soziale Netzwerk als eine Art Sicherheit für die Kreditwürdigkeit seiner Person. Die Höhe seines sozialen Kapitals ist – gemäß P. Bourdieu – zum einen von der Ausdehnung des S.n N.s und zum anderen von dem Umfang desjenigen sozialen Kapitals abhängig, das diejenigen besitzen, mit denen der Akteur in Beziehung steht.

Robert David Putnam hebt stärker die gemeinschaftsorientierten Leistungen des sozialen Kapitals hervor: In S.n N.n lernen Akteure jene Tugenden und Verhaltensdispositionen, welche die Kommunikation, Kooperation und das Vertrauen innerhalb wie außerhalb des Sozialen Netzwerks erhöhen, und damit soziales Kapital generieren.

4. Soziale Netzwerke als Paradigma

Beziehen sich die bislang vorgestellten drei Begriffsverständnisse von S.n N.n auf jeweils einen mehr oder weniger klar umrissenen Gegenstand, verweist das nun zu diskutierende Verständnis auf eine spezifische Art und Weise, soziale Phänomene zu beobachten und methodisch zu erforschen. Insb. die formale Netzwerkanalyse ist dabei ein entscheidender Treiber dieser interdisziplinären Forschungsrichtung. Dergemäß sind S. N. soziale Gebilde, die aus Knoten und Kanten/Relationen bestehen. I. d. R. werden dabei soziale Akteure (Individuen, Gruppen, Organisationen, Staaten etc.) als Knoten repräsentiert. Die Kanten stehen dann für soziale Beziehungen, wobei hier auch unterschiedliche Beziehungsformen gleichzeitig untersucht werden können. Es gibt allerdings von dieser gebräuchlichen Verwendungsweise auch abweichende Zuordnungen: So werden bei Ereignisnetzwerken soziale Ereignisse als Knoten modelliert und die Kanten stehen dann für Zusammenhänge zwischen diesen Ereignissen. Des Weiteren hat die sog.e bi- bzw. multimodale Netzwerkanalyse eine parallele Untersuchung von Akteursnetzwerken mit semantischen Netzwerken ermöglicht. Bei letzteren werden kulturelle Phänomene (Events, Werte, Stile etc.) als Knoten modelliert und über Akteure miteinander in Zusammenhang gebracht.

Insb. durch Harrison Colyar White hat die Netzwerkforschung paradigmatischen Charakter erhalten, indem er eine relationale Theorie des Sozialen unter Einbezug kultureller Faktoren (Kultur) vorgelegt hat. Dieser Theorie gemäß bilden nicht Identitäten (soziale Akteure, Institutionen etc.) den Ausgangspunkt für soziale Phänomene, sondern relationale Ereignisse in turbulenten sozialen Dynamiken führen zu Inseln der Ordnungen, innerhalb derer sich Identitäten etablieren können. H. C. White nennt diese relationalen Ereignisse Kontrollprojekte, die sich sowohl auf die gezielte Gestaltung einer Relation beziehen können als auch auf ihre kulturell geprägte Deutung (z. B. die strategische Kennzeichnung einer Beziehung als Freundschaft). Diese Theorie erhebt den Anspruch, alles Soziale mittels der Netzwerkforschung beschreiben und mit den Methoden der Netzwerkanalyse erforschen zu können. Weitere wichtige Konzepte bilden von Mark S. Granovetter das Konzept der Stärke schwacher Beziehungen, wonach neue Informationen eher von lose verknüpften Personen stammen als von engen Kontakten, sowie Ronald Stuart Burts Konzept der strukturellen Löcher, demgemäß es von strategischem Vorteil ist, Gatekeeper von zwei ansonsten kaum verknüpften Nentzwerken zu sein. Ferner hat die Actor Network Theory für erhebliche Aufmerksamkeit gesorgt, da sie bei ihrer Analyse soziotechnischer Phänomene menschliche und technische Entitäten auf gleicher Augenhöhe behandelt. Gegenwärtig erfährt die Netzwerkforschung im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Gesellschaft und Big Data-Analysen einen weiteren Aufmerksamkeitsschub, da sie neben dem text mining und machine learning zur wichtigsten Methode bei der Analyse digitaler Daten avanciert.