Industrieökonomik
1. Industrieökonomik und Wettbewerbspolitik
Bereits die Frage, was denn die Disziplin der I. eigentlich ausmacht kann zu heftigen Kontroversen führen. George Joseph Stigler, einer der Pioniere auf diesem Gebiet, verwies auf die Notwendigkeit rigoroser mikroökonomischer Analysen, insb. einer Preis- oder Allokationstheorie kombiniert mit detaillierten Studien zur empirischen Messung von Kostenkurven, Marktkonzentration etc. Er verwies aber auch auf den erforderlichen Bezug zum Wettbewerbsrecht und praktischer Wettbewerbspolitik. Ausgehend von diesem mikroökonomisch fundierten Ansatz wird deutlich, dass der I. theoretische Wettbewerbskonzepte zugrunde liegen müssen, die über das Modell des vollkommenen (atomistischen) Wettbewerbs hinausgehen. Das Vorliegen von Größenvorteilen (Skalenerträge) bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, Produktdifferenzierung und die unternehmerische Suche nach Innovationspotenzialen für neue Produkte und Produktionsprozesse führen zu unterschiedlichen wettbewerbspolitischen Leitbildern und darauf aufbauenden Wettbewerbskonzeptionen des potenziellen Wettbewerbs, des monopolistischen Wettbewerbs und des Innovationswettbewerbs. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Bedeutung von Marktmacht und den damit einhergehenden Aufgaben der Wettbewerbsbehörden. Bei der Erörterung der Frage, ob auf einem relevanten Markt Unternehmen Marktmacht besitzen, lassen sich verschiedene Ansätze unterscheiden. Aus Sicht der Wettbewerbspolitik liegt Marktmacht vor, falls die langfristigen Charakteristika eines Marktes (z. B. Produktions- und Nachfragebedingungen) ökonomische Gewinne ermöglichen, ohne dass diese durch aktiven oder potenziellen Wettbewerb wegkonkurriert werden. Das Vorliegen einer fallenden Nachfragefunktion mit einer damit einhergehenden Suche nach wettbewerblichen Preisstrukturen stellt dagegen kein Marktmachtproblem dar, auch wenn die Preise über den Grenzkosten liegen. Insb. sind Grenzkostenpreise bei Vorliegen von Größenvorteilen nicht in der Lage die Gesamtkosten zu decken, so dass auch im Wettbewerb die Preise über den Grenzkosten liegen können. Die Unterscheidung zwischen einer ökonomischen Definition von Marktmacht bei Vorliegen von Preisen über Grenzkosten und einer politikbasierten Definition von Marktmacht bei Preisen oberhalb der Durchschnittskosten ist aus der Perspektive einer wettbewerbspolitikorientierten I. nicht zielführend. Die Aufgabe der Wettbewerbspolitik besteht darin, stabile Marktmacht mit Hilfe industrieökonomischer Methoden aufzudecken und darauf aufbauendes wettbewerbsschädliches Verhalten mit geeigneten wettbewerbspolitischen Maßnahmen zu disziplinieren.
2. Das Marktmachtproblem
2.1 Das Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma
Die traditionelle I. untersuchte ausgehend von den grundlegenden Hypothesen von Joe Staten Bain anhand einer Vielzahl von empirischen Studien den Zusammenhang zwischen Marktkonzentration, Marktzutrittsschranken und ökonomischen Gewinnen. Die Vorstellung eines stabilen „kausalen“ Zusammenhangs zwischen hoher Marktkonzentration, bedeutsamen Größenvorteilen und langfristig positiven ökonomischen Gewinnen wurde jedoch seit den 1970er Jahren zunehmend kritisch betrachtet. Zum einen wurde auf die fehlende Stabilität des Kausalzusammenhangs zwischen Marktstruktur und ökonomischen Gewinnen verwiesen. Zum anderen wurde konzeptionelle Kritik aufgrund fehlender preistheoretischer Fundierungen zu Grunde liegender empirischer Untersuchungen geübt. Nichtsdestotrotz hat das Struktur-Verhaltens-Ergebnis-Paradigma in der Folgezeit im Rahmen der praktischen Wettbewerbspolitik eine gewisse Bedeutung erlangt, da hohe Marktanteile als hinreichend für die Rechtfertigung der Beweislastumkehr in Wettbewerbsverfahren erachtet werden. Beispielsweise geht § 18 Abs. 4 GWB davon aus, „dass ein Unternehmen marktbeherrschend ist, wenn es einen Marktanteil von mindestens 40 Prozent“ aufweist. Die als marktbeherrschend eingestuften Unternehmen sind daraufhin in einem Wettbewerbsverfahren verpflichtet selbst nachzuweisen, dass sie einem funktionsfähigen Wettbewerb ausgesetzt sind. Ein Versäumnis dessen birgt für Unternehmen die Gefahr, dass ihr Marktverhalten dem Vorwurf einer missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung ausgesetzt wird (GWB § 19 Abs. 1, Abs. 2).
2.2 Spieltheoretische Ansätze
Seit den 1980er Jahren haben spieltheoretische Oligopolmodelle (Spieltheorie) in starkem Maße Einzug in die industrieökonomische Disziplin gefunden. Der Fokus liegt dabei auf der Modellierung von strategischem Verhalten bei der Wahl von Preis- und Produktstrategien, bei Innovationsaktivitäten, Wahl von Produktstandards, Entscheidung für Fusionen etc. Obgleich die Lit. zu spieltheoretischen Oligopolmodellen inzwischen umfangreich ist, sind keine Ansätze bekannt, die eine zuverlässige Lokalisierung von stabiler Marktmacht in Industrien zuverlässig ermöglichen. Es gibt i. d. R. verschiedene Alternativen, ein spieltheoretisches Modell zu formulieren, hierzu zählen unterschiedliche Annahmen über die Anzahl der Unternehmen, die Regeln des Spiels und dessen Länge und über das Verhalten der Unternehmen am Markt. Hinzu kommt, dass innerhalb eines gewählten Modellansatzes oftmals eine Vielzahl von anreizkompatiblen (gleichgewichtigen) Lösungen existiert. Eine allg.e Oligopoltheorie, welche die systematische Abhängigkeit des Marktverhaltens und der Marktperformance von der Marktstruktur erklären könnte, existiert bisher nicht.
2.3 Wettbewerb und Antitrust Politik in innovativen Industrien
Die Problematik einer zuverlässigen Lokalisierung stabiler Marktmacht stand in der Vergangenheit auch im Zentrum verschiedener großangelegter und langandauernder Anti-Trust-Fälle (z. B. AT&T, IBM, Microsoft oder Google). Eine wichtige Erkenntnis aus diesen Fällen besteht darin, dass Marktmacht in innovativen Industrien bes. schwierig zu ermitteln ist. Wegen der innovativen Dynamik verschwimmen die Marktgrenzen; Marktzutrittsstrategien durch konkurrierende Plattformen werden bedeutsam und innovatives Produktdesign ist schwer zu unterscheiden von strategischen wettbewerbsbehindernden Innovationen. Innovative Industrien sollten trotz dieser Schwierigkeiten bei der Umsetzung industrieökonomischer Konzepte nicht grundsätzlich von einer aktiven Wettbewerbspolitik befreit werden.
3. Wettbewerbsstrategien und Marktmacht
Abgesehen vom Per-se-Verbot von Kartellen und dem Verbot vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen verfolgt das europäische Wettbewerbsrecht einen zweistufigen Ansatz, der sich auch in der industrieökonomisch fundierten Wettbewerbsökonomie widerspiegelt. In der ersten Stufe gilt es zu untersuchen ob ein oder mehrere Unternehmen gemeinsam Marktmacht besitzen und eine damit einhergehende marktbeherrschende Stellung innehaben. Wird das Vorliegen von Marktbeherrschung verneint, so entfällt der Grund für eine Wettbewerbsbehörde in das Marktgeschehen einzugreifen und die Unternehmen sind völlig frei in der Wahl ihrer strategischen Entscheidungen hinsichtlich Preis- und Produktgestaltung. Wird der Tatbestand der Marktbeherrschung bejaht, so kann die Wettbewerbshörde in der zweiten Stufe aktiv in das Marktgeschehen eingreifen. Es stellen sich dann erst die Fragen, welcher wettbewerbspolitische Handlungsbedarf hinsichtlich wettbewerbsstrategischen Verhaltens bei Vorliegen von Marktmacht besteht und welche wettbewerbspolitische Intervention demzufolge angeraten ist.
3.1 Kartelle und Fusionen
Archimedischer Punkt der praktischen Wettbewerbspolitik ist das Per-se-Verbot von Kartellvereinbarungen zwischen aktiven Unternehmen einer Branche. Fusionen sind dabei nicht per-se verboten, denn ein Zusammenschluss von Unternehmen kann die Effizienz erhöhen und folglich auch den Konsumenten zugutekommen. Bei der Kartellbildung dagegen steht die Erlangung von Marktmacht mittels Preisabsprachen und Mengenaufteilungen im Zentrum. Da diese Marktmacht nicht auf einer marktmachtgenerierenden Produktionsstruktur basiert, sondern auf expliziten oder impliziten Preisabsprachen, stellt sich die Frage, ob auf diese Weise Marktmacht überhaupt erlangt und im Zeitablauf stabilisiert werden kann. Preisabsprachen sind mit erheblichen Koordinationskosten verbunden und Anreize für Unternehmen von den Kartellvereinbarungen abzuweichen führen zu einer inhärenten Instabilität von Kartellen. Auch ist der Wettbewerbsdruck von Unternehmen, die sich außerhalb des Kartells befinden, nicht zu vernachlässigen. Darüber hinaus haben Wettbewerbsbehörden eine entscheidende Funktion bei der Vermeidung des Entstehens von Kartellen (z. B. per Drohpotenzial in Form von Bestrafungskosten der Kartellmitglieder bei Aufdeckung eines Kartells) und bei der Destabilisierung bestehender Kartelle (z. B. per Mechanismen wie etwa der Kronzeugenregelung). Die Untersuchung der Bestimmungsfaktoren für die Stabilität von Kartellen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Durchsetzung des Kartellverbots durch die Wettbewerbsbehörden. Empirisch zeigt sich, dass viele Kartelle auch längerfristig überleben können.
3.2 Kampfpreisstrategien
Die Anreizstruktur einer Kampfpreisstrategie besteht darin, dass ein Unternehmen den Preis in der ersten Phase strategisch niedrig ansetzt um dadurch die Wettbewerber vom Markt zu verdrängen, um anschließend in der zweiten Phase die Preise zu erhöhen und Monopolgewinne zu erzielen. Ein solches Verdrängungsverhalten kann nur anreizkompatibel sein, wenn das Unternehmen stabile Marktmacht besitzt, damit es in der zweiten Phase entspr. hohe Gewinne erwirtschaften kann. Letztlich führt dies in konkreten Wettbewerbsverfahren zu erheblichen Kontroversen, ob ein konkretes Preissetzungsverhalten eine Kampfpreisstrategie darstellt oder Ausdruck eines wettbewerblichen Preissetzungsverhaltens ist. Aus wettbewerbsökonomischer Sicht ist es daher zielführend, wenn die Wettbewerbsbehörden der ersten Phase die größte Aufmerksamkeit zuwenden und sich nur dann mit dem Vorwurf einer Kampfpreisstrategie näher beschäftigen, wenn sie zuverlässig stabile Marktmacht bei dem beschuldigten Unternehmen lokalisieren können.
3.3 Preisdifferenzierung
Im Wettbewerbsrecht gilt das Diskriminierungsverbot. So darf ein als marktbeherrschend eingestuftes Unternehmen die Wettbewerbsmöglichkeiten anderer Unternehmen nicht in einer für den Wettbewerb auf dem Markt erheblichen Weise beeinträchtigen; so dürfen gleichartige Unternehmen ohne sachlich gerechtfertigten Grund nicht unterschiedlich behandelt werden (§ 19 GWB). Das Diskriminierungsverbot des Wettbewerbsrechts steht allerdings nicht im Widerspruch zur unternehmerischen Ausgestaltung volkswirtschaftlich erwünschter effizienter Preissysteme. Preisdifferenzierung bedeutet nun, dass Preisunterschiede sich nicht nur auf die einem Kunden direkt zurechenbaren Kosten zurückführen lassen, sondern dass auch Nachfragegesichtspunkte berücksichtigt werden. Urspr. wurden drei Typen der Preisdifferenzierung aus der Perspektive monopolistischer Marktmachtausbeutung entwickelt. Grundsätzlich ist Preisdifferenzierung bei Vorliegen von Größenvorteilen zur Sicherung der Überlebensfähigkeit von Unternehmen auf wettbewerblichen Märkten unerlässlich. Die drei Typen der Preisdifferenzierung hängen nicht von der Marktform ab. Es zeigt sich, dass Preisdifferenzierung eines Monopolisten gegenüber linearen Monopolpreisen typischerweise mit positiven Wohlfahrtswirkungen verbunden ist. Preisdifferenzierung ersten Grades (perfekte Preisdifferenzierung), bei der die individuelle Zahlungsbereitschaft der Nachfrager für unterschiedliche Produkteinheiten voll abgeschöpft wird, führt zu einer Erhöhung der Produktion, so dass die soziale Wohlfahrt (Summe von Konsumenten- und Produzentenrente) zunimmt. Preisdifferenzierung zweiten Grades, bei der bspw. die unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften von Groß- und Kleinkunden durch optionale zweiteilige Tarife abgeschöpft werden, führen sogar zu einer Pareto-optimalen Verbesserung (Pareto-Kriterium), bei der sich nicht nur der Monopolist, sondern auch die Großkunden verbessern, während sich die Kleinkunden bei der Wahl des urspr.en linearen Tarifs nicht verschlechtern. Auch bei einer Preisdifferenzierung dritten Grades, bei der unterschiedliche Konsumententypen bedient werden treten positive Wohlfahrtswirkungen gegenüber dem linearen Tarif auf, falls hierdurch zusätzliche Mengen verkauft werden können.
Literatur
G. Knieps/J. M. Bauer: The industrial organization of the Internet, in: J. M. Bauer/M. Latzer (Hg.): Handbook on the Economics of the Internet, 2016, 23–54 • G. Knieps: Wettbewerbsökonomie – Regulierungstheorie, Industrieökonomie, Wettbewerbspolitik, 2008 • M. C. Levenstein/V. Y. Suslow: What Determines Cartel Success?, in: JEL 44/1 (2006), 43–95 • F. M. Fisher: Games Economists Play: A Noncooperative View, in: RAND JE 20/1 (1989), 113–124 • R. Schmalensee/R. D. Willig (Hg.): Handbook of Industrial Organization, 1989 • J. Tirole: The Theory of Industrial Organization, 1988 • W. M. Landes/R. A. Posner: Market Power in Antitrust Cases, in: HLR 94/5 (1981), 937–997 • G. J. Stigler: The Organization of Industry, 1968 • J. S. Bain: Barriers to New Competition, 1956 • A. C. Pigou: The Economics of Welfare, 41952.
Empfohlene Zitierweise
G. Knieps: Industrieökonomik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Industrie%C3%B6konomik (abgerufen: 24.11.2024)