Netzwirtschaft
Die nationale N. umfasst alle privaten und öffentlichen Unternehmen, die zur Gewinnerzielung oder Daseinsvorsorge für die auf dem Gebiet eines Staates lebende Bevölkerung netzgebundene, langlebige und raumübergreifende physische technische Infrastrukturen betreiben und/oder mittels dieser menschengeschaffenen Systeme produzierte Leistungen eigenständig vermarkten. Hierbei werden als Infrastruktur(en) Einrichtungen bezeichnet, deren landesweite Verfügbarkeit für die wirtschaftliche Kooperation und das Zusammenleben von Personen und Organisationen in einem Staat unerlässlich ist. Zur technischen Infrastruktur zählen netzbasierte Bereiche (Verkehrswege [Fahrzeug- und Wasserstraßen, Schienen], Elektrizitäts-, Telekommunikations- sowie Wasser- und Energieträgernetze). Zur sozialen Infrastruktur gehören die Bereiche Sicherheit, Bildung, Gesundheit und Kultur, die aufgrund des fehlenden Betriebs technischer Netze nicht der N. zugeordnet werden.
Die für die N. konstitutiven technischen Netze sind komplexe verzweigte Systeme, in denen jeweils Kanten i. S. v. geographische Entfernungen überbrückenden Wegen (physisch-materiell wie Gasleitungen oder nur durch eine bestimmte Lage gekennzeichnete, aber nicht körperlich greifbare Routen wie Funkstrecken) und Knoten i. S. v. Sachanlagen zur Eröffnung, Unterbrechung, Veränderung oder Beendigung von von Transportvorgängen über Kanten komplementär verknüpft werden.
Von technischen Netzen zu unterscheiden sind soziale Netz(werk)e, die Personen oder Organisationen als Mitglieder umfassen, die wiederholt ihr Lebens- bzw. Arbeitsverhalten durch Informationsaustausch miteinander koordinieren. Hierbei können sie auf Betreiber von Plattformen zur Ermöglichung direkter Interaktionen zwischen Mitgliedern über technische (Telekommunikations-)Netze zurückgreifen, müssen es aber nicht.
Zu den „klassischen“ Sektoren der N. gehören die Elektrizitäts-, Gas- und Eisenbahntransport- sowie Telekommunikationswirtschaft. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen seit Gründung der BRD 1949 zumindest zeitweise jeweils vertikal integrierte marktmächtige Unternehmen tätig waren, die als Eigentümer für die Betriebsfähigkeit und funktionale Weiterentwicklung des sektoralen Netzes sorgten und parallel netzbasierte Dienste Endkunden offerierten. Diese Integration ist zwar auch in der deutschen Wasserver- und -entsorgungswirtschaft anzutreffen. Sie ist aber dennoch aufgrund von nicht im freien Wettbewerb vergebenen Monopolen und des Fehlens von Anbietern von nationaler Bedeutung nicht als ein Kernbereich der deutschen N. zu klassifizieren. Hingegen trifft das für die N. im engen Sinn charakteristische Merkmal der unternehmensinternen Integration von Netzbetrieb und -nutzung zur Vermarktung von Diensten nicht auf den Postbereich und Verkehrssektoren zu. Dort betreiben Anbieter allenfalls virtuelle, aber keine physischen Netze, da sie zwar die Netzknoten (z. B. Flughafen), aber nicht die Netzkanten kontrollieren, die in Deutschland nicht den Anbietern, sondern dem Staat gehören (z. B. Straßen, Wasserwege) oder öffentliche Güter unter hoheitlicher Aufsicht (z. B. Luftverkehrsrouten) sind.
Über die zuvor diskutierten Sektoren hinaus werden z. T. umfassender sämtliche Anbieter von Leistungen, bei denen nachfrageseitige direkte oder indirekte Netz(werk)effekte oder -externalitäten für deren Vermarktung eine große Relevanz haben, der N. zugeordnet. Solche Wirkungen liegen vor, wenn die Zahl der Nachfrager einer Leistungskategorie durch Veränderungen von Informationsaustauschoptionen oder Qualitätsmerkmalen der jeweiligen Leistung oder anderer komplementärer Angebote merklich positiv oder negativ den Nutzen aller Nachfrager dieser Leistung oder bei zweiseitigen Märkten weiterer Angebote beeinflusst. Beispiele für Unternehmen mit Netzeffekten sind Anbieter von Festnetztelefonanschlüssen oder Suchhilfen im Internet. Gegen diese Sicht spricht, dass positive Netzeffekte abgesehen vom Telekommunikationssektor in keinem N.-Bereich in nennenswerter Stärke auftreten.
Netzbasierte Infrastruktur(sektor)en weisen ökonomisch bedeutsame Besonderheiten auf. Hierzu gehören:
a) Hohe, nicht in kleinen Schritten realisierbare Investitionen in Sachanlagen, die unabhängig vom Ausmaß der späteren Nutzung von Leistungskapazitäten durch Kunden bereits vor Vermarktungsbeginn zu tätigen sind und im Fall der Geschäftsaufgabe nicht kostendeckend veräußert oder für andere Zwecke wiederverwendet werden können.
b) Unterproportionaler Anstieg der Kosten für Inputfaktoren mit zunehmender räumlicher Kundendichte, Ausdehnung von Netzkanten und Leistungskapazität des Netzes.
c) Verbesserte Ausschöpfung der Kapazitäten von unteilbaren Ressourcen durch Produktion und Vermarktung verschiedener Leistungen unter Rückgriff auf dasselbe Netz.
d) Disaggregierbarkeit von Netzebenen.
e) Existenz von „monopolistischen Flaschenhälsen“.
Die letzten beiden Charakteristika werden im Folgenden erläutert. Herrschende Meinung ist, dass sich wirtschaftlich und juristisch die vier netzbasierten Sektoren jeweils mindestens in die zwei Ebenen der Infrastruktur und der Dienstleistungen, die mittels des technischen Netzes erbracht werden, zerlegen lassen. Infrastrukturbetreiber können ihre Anlagen dazu verwenden, um sie gegen Entgelt anderen Unternehmen temporär zur Verfügung zu stellen, die ihrerseits diese Vorleistungen veredeln und an Endkunden vermarkten. Alternativ oder parallel haben die Netzbetreiber die Option, selbst Endkunden Dienste anzubieten. Durch sektorspezifische ökonomische Regulierung soll sichergestellt werden, dass in einer Netzindustrie das Infrastrukturunternehmen, das dort in der Vergangenheit oft als Monopolist agierte, anderen Unternehmen, die auf der Dienstebene in den Wettbewerb treten wollen, die Mitbenutzung seines Netzes zu Bedingungen gestattet, die Konkurrenten eine profitable Geschäftsentwicklung ermöglichen. Um negative Eingriffsfolgen zu vermeiden, sind die Zugangsansprüche von Wettbewerbern auf solche „monopolistischen Flaschenhälse“ zu begrenzen, die für sie nicht durch andere Einrichtungen ersetzbar und nicht in wirtschaftlich tragfähiger Weise „duplizierbar“ sind. Welche Infrastrukturteile als Flaschenhälse zu qualifizieren und zu welchen Preisen sie bereitzustellen sind, ist heftig umstritten. Entspr.e Entscheidungen zum sachlichen Umfang und zu den wirtschaftlichen Bedingungen des Netzzugangs werden in Deutschland von der BNetzA für die Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen getroffen. Sie ist als selbständige Bundesoberbehörde im Bundeswirtschaftsministerium verankert. Juristische Eckpunkte für das Handeln des Regulierers werden im Elektrizitäts- und Gassektor durch das EnWG, im Telekommunikationssektor durch das TKG und im Eisenbahnsektor durch das AEG sowie das ERegG festgelegt.
Literatur
E. Gawel/N. Bedtke: Effizienz und Wettbewerb in der deutschen Wasserwirtschaft zwischen „Modernisierung“ und „Regulierung“, in: ZögU 38/2–3 (2015), 97–132 • A. Groebel: Ökonomische Rationalität des europäischen Regulierungsrechts, in: F. Bien/M. Ludwigs (Hg.): Das europäische Kartell- und Regulierungsrecht der Netzindustrien, 2015, 171–186 • T. Höppner: Die Regulierung der Netzstruktur, 2009 • G. Knieps: Netzökonomie, 2007.
Empfohlene Zitierweise
T. Gerpott: Netzwirtschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Netzwirtschaft (abgerufen: 23.11.2024)