Schweizerisches Zivilgesetzbuch
1. Entstehung und Inhalt
Im Schweizerischen ZGB und im OR ist einheitlich seit dem 1.1.1912 das Privatrecht der Schweiz kodifiziert. Zuvor galten kantonale Privatrechtsgesetzbücher, die in der Westschweiz in Anlehnung an den französischen Code Civil, in Bern, Aargau, Luzern und Solothurn nach dem Vorbild des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs verfasst worden waren; in einigen Kantonen fehlte eine Kodifikation (so z. B. in Basel, St. Gallen und Appenzell). Das Zürcher Privatrechtsgesetzbuch war von Johann Caspar Bluntschli verfasst worden, der ein Schüler Friedrich Carl von Savignys war, weshalb hier die Anlehnung an das gemeine Recht Deutschlands stark hervortrat. Das Privatrechtsgesetzbuch hat einigen anderen Kantonen als Modell gedient (z. B. Thurgau, Glarus und Graubünden). Für seinen Entwurf konnte Eugen Huber, der geniale Jurist, auf die Sammlung und Sichtung des (kantonischen) Rechts für das schweizerische ZGB in seinem monumentalen Werk „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“ (1886–93) zurückgreifen. An dem von E. Huber verfassten Entwurf des ZGB und an der Revision des Bundesgesetzes über das Schweizerische Obligationenrecht von 1881 arbeitete seit Beginn des 20. Jh. eine Kommission unter seiner Leitung.
Die äußerliche Trennung von ZGB und OR hat allein historische Gründe. Den Charakter einer einheitlichen Kodifikation unterstrich man, indem man das OR als fünftes Buch des ZGB bezeichnete. Das ZGB folgt dem Pandektensystem und besteht aus vier Büchern: Personenrecht, Familienrecht, Erbrecht und Sachenrecht. Das gesondert publizierte fünfte Buch ist das OR.
2. Charakteristik
In allg.en Charakteristiken wird die Einfachheit und Klarheit des Gesetzes gelobt (simplex sigillum veri) und die Tatsache hervorgehoben, dass es im Wesentlichen aus einer Feder stammt, aus einem Guss ist. Das Gesetz vermeidet die technische Sprache des BGB und bezahlt bessere Verständlichkeit und mehr Volksnähe gelegentlich mit geringerer Präzision. Anders als das BGB kennt das ZGB z. B. keine Fiktionen. So lautet etwa Art. 40 nicht, dass das im Zeitpunkt des Erbfalls noch nicht geborene, aber schon gezeugte Kind als bereits geboren gilt (wie § 1923 BGB formuliert), sondern schlicht, dass das Kind vor der Geburt unter dem Vorbehalt rechtsfähig ist, dass es lebendig geboren wird. Volkstümlichkeit offenbart sich in kurzen, gelegentlich sogar sprichwortähnlichen Formulierungen, wie „Heirat macht mündig“ (so der der Herabsetzung des Mündigkeitsalters zum Opfer gefallene Art. 15).
Das ZGB ist bei aller Originalität und helvetischen Besonderheiten im Familien- und im ehelichen Güterrecht sowie im Grundpfandrecht – man denke etwa an die obsolete Gült (Art. 847), die Gemeinderschaft (Art. 336) oder die wieder abgeschaffte Heimstätte (Art. 349 ff. a. F.) – auf weiten Strecken, insb. des Mobiliarsachenrechts und des Grundstückrechts mit dem wichtigsten, parallel entstandenen Pandektengesetzbuch, dem BGB, verwandt. Es war die erste Kodifikation der Eidgenossenschaft und ist noch heute eines der modernsten Zivilgesetzbücher der Welt. Nach dem Urteil Franz Wieackers ist das ZGB „die reifste Frucht der deutschsprachigen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts“ (Wieacker 1967: 491). Dies gilt jedenfalls, wenn man das an den Dresdner Entwurf angelehnte Obligationenrecht von Walther Munzinger einbezieht, der auch als Vorlage für den Allgemeinen Teil und das Schuldrecht des BGB gedient hat. So besteht eine starke Ähnlichkeit und Verwandtschaft zwischen OR und BGB. Es ist deshalb richtig, dass das Bundesgericht im Rahmen der Rechtsvergleichung die deutsche Rechtsprechung verstärkt heranzieht, was vice versa leider nicht geschieht. ZGB und OR sind in der Verwendung abstrakter Begriffe weit zurückhaltender als das BGB. Das OR enthält einen allg.en Teil, in dem allg.e, für Obligationen bzw. Verträge geltende Vorschriften, das Delikts- und das Bereicherungsrecht normiert sind. Für das BGB hat man sich zu einer viel weitergehenden Abstraktion entschlossen: Neben einem allg.en Teil des Schuldrechts gibt es dort einen Allgemeinen Teil des BGB, in welchem eine Rechtsgeschäftslehre kodifiziert ist (§§ 104 ff. BGB), die nicht nur für alle Verträge des Schuld- und Sachenrechts, des Familien- und Erbrechts gilt, sondern schlechthin für alle Rechtsgeschäfte, z. B. für Testamente. Die Vor- und Nachteile eines solchen Konzepts liegen auf der Hand. Bei zutreffender Abstraktion erzielt man insofern einen Rationalisierungsgewinn, als man bestimmte Normen nicht wiederholen muss. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr einer falschen Verallgemeinerung. Mit steigendem Abstraktionsgrad ist eine zunehmende Inhaltsleere der Begriffe verbunden. Dies fördert die Tendenz zur Ausweitung des Anwendungsgebiets abstrakt genereller Normen. Es bedeutet zum anderen fehlende Anschaulichkeit und Lebensnähe.
Schließlich sind auch für ZGB und OR eine gewisse Elastizität und Flexibilität typisch, die dem Richter ausdrücklich ein Ermessen einräumt (vgl. dazu Art. 4 ZGB und etwa Art. 39 Abs. 2, 47, 375 Abs. 2, 422 Abs. 1 OR). Man hat in diesem Zusammenhang von einem offenen System und einem „Richtlinienstil“ gesprochen. Ein weiteres Beispiel ist die elastische Regel von Art. 43 Abs. 1 OR, nach welcher der Richter den Umfang der Schadensersatzpflicht nach den Umständen und insb. nach der Größe des Verschuldens bestimmen kann; vgl. dagegen das Alles-oder-nichts-Prinzip von § 249 BGB.
3. Einfluss
ZGB und OR hatten auf etliche spätere Kodifikationen anderer Länder Einfluss. Dazu zählen etwa Italien und Griechenland. Auch das chinesische Gesetzbuch von 1929 ist vom ZGB beeinflusst und erneut das chinesische Privatrecht nach dem Ende der Mao-Diktatur seit 1978. Einflüsse lassen sich auch im Vorderen Orient und in Nordafrika nachweisen. Ein Sonderfall ist die Türkei, wo man 1926 im laizistischen Staat des Mustafa Kemal Atatürk das ZGB und das OR (ohne das 1907 unverändert übernommene und erst 1936 novellierte Gesellschaftsrecht) en bloc rezipiert hat, ungeachtet der unterschiedlichen historischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse und unter Abschaffung des islamischen Rechts der Scharia, was gewissermassen ein revolutionärer Akt war. In den letzten Jahrzehnten wurde das türkische ZGB einer Revision unterzogen.
Literatur
M. M. Inceoglu/Y. M. Atamer: Das neue türkische Obligationenrecht vom 11. Januar 2011 – ein Überblick zu den wichtigsten Änderungen, in: ZBJV 149/1 (2013), 67–80 • H. Honsell: 100 Jahre schweizerisches Obligationenrecht, in: ZSchweizR 130/2 (2011), 5–115 • H. Honsell: Rezeption der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Schweiz, in: A. Heldrich/K. J. Hopt (Hg.): 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. 2, 2000, 927–942 • K. Zweigert/H. Kötz: Einführung in die Rechtsvergleichung, 31996 • E. Bucher: Hundert Jahre schweizerisches Obligationenrecht: Wo stehen wir heute im Vertragsrecht?, in: ZSchweizR 102/2 (1983), 251–383 • E. Kramer: Die Lebenskraft des schweizerischen Obligationenrechts, in: ZSchweizR 102/1 (1983), 241–276 • H. Merz: Das schweizerische Obligationenrecht von 1881. Übernommenes und Eigenständiges, in: H. Peter/E. W. Stark/P. Tercier (Hg.): Hundert Jahre Schweizerisches Obligationenrecht, 1982, 3–30 • F. Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 21967 • E. Huber: Erläuterungen zum Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, 21914 • Ders.: System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts, 4 Bde., 1886–93.
Empfohlene Zitierweise
H. Honsell: Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Schweizerisches_Zivilgesetzbuch (abgerufen: 24.11.2024)