Sucht
I. Medizinisch-psychologische Aspekte
Abschnitt drucken1. Geschichte des Suchtbegriffs
S. (abgeleitet vom althochdeutschen Siech = Krankheit) ist seit der Reformationszeit als Begriff für den übermäßigen, unkontrollierten Konsum von Alkohol verbreitet. Erst um das Jahr 1800 wandelte sich der zuvor religiös geprägte Begriff zu einem medizinischen Krankheitsbegriff. Im angelsächsischen Bereich wird S. mit addiction („Versklavtsein“) bezeichnet. 1964 ersetzte die WHO den Begriff addiction durch dependence (Abhängigkeit). Im DSM-5, dem führenden Manual zur Klassifikation psychischer Störungen, ist seit 2013 die Rede von use disorders (deutsche Version 2014 „Gebrauchsstörungen“), um den süchtigen Gebrauch von Substanzen, aber auch den Verlust der Kontrolle über Verhaltensweisen wie Glücksspiel-S. und Medien-S. zu bezeichnen.
2. Wirtschaftsmarkt Alkohol und Drogen
Produktion und Vertrieb psychoaktiver Substanzen stellen einen nicht unwesentlichen Wirtschaftsfaktor moderner Gesellschaften dar. Der Inlandsumsatz der Alkoholindustrie belief sich im Jahr 2018 auf 11,2 Mrd. Euro. Die Einnahmen des Staates (Bund, Länder) durch Alkoholsteuern erreichten im gleichen Jahr 3,18 Mrd. Euro. Nach vorsichtigen Schätzungen errechnet sich nach Abzug der Importwerte und Vorleistungen eine Bruttowertschöpfung der Drogenwirtschaft (Heroin, Kokain, Amphetamin [außer Methamphetamin] und Ecstasy) von etwa 1,2 Mrd. Euro für Deutschland im Jahr 2010. Dies entspricht etwa 0,05 % des BIP. Cannabis ist in den Schätzmodellen nicht enthalten, so dass die Wertschöpfung des illegalen Drogenhandels in Wahrheit deutlich höher liegen dürfte. In Europa steigt in den letzten Jahren der Konsum von Psychostimulantien (Amphetamine, Kokain) kontinuierlich an, so dass im 21. Jh. diese Substanzen eine bes. wichtige Rolle auf dem Drogenmarkt spielen dürften.
Alkohol und Tabak als legale Substanzen haben die mit Abstand höchsten Gebrauchsprävalenzen in der Bevölkerung. Private Haushalte gaben 2019 durchschnittlich 24,53 Euro monatlich für alkoholische Getränke aus.
3. Akute und chronische Substanzwirkungen
Bei der Einschätzung der Folgen exzessiven Substanzkonsums wird zwischen akuten und chronischen Folgen unterschieden. Akute Folgen sind solche, die sich aufgrund einer Intoxikation unmittelbar ergeben. Je nach Substanz und Menge sind Schnelligkeit und Stärke dieser Effekte sehr unterschiedlich. Beim Alkohol ergeben sich schon ab 0,3 Promille Reaktions- und Wahrnehmungseinschränkungen. Ab ca. 0,8 Promille kommen deutliche Verhaltensänderungen hinzu. Übermäßiger Alkoholkonsum (Rauschtrinken) ist definiert als Konsum von fünf oder mehr alkoholischen Standardgetränken (ein Standardgetränk = 10 Gramm reiner Alkohol) bei Männern und vier oder mehr bei Frauen bei einer Trinkgelegenheit. 10 Gramm Alkohol entsprechen etwa 0,3 Liter Bier oder 0,15 Liter Wein.
Während die Alkoholwirkung erst nach etwa 20 Minuten spürbar einsetzt, geschieht dies bei anderen Substanzen deutlich schneller. Bei injiziertem Heroin (intravenös) oder gesnieftem Kokain (nasal) tritt eine Wirkung schon nach ca. 5 Sekunden ein und das Gehirn wird abrupt überflutet.
Die wichtigsten akuten Folgen übermäßigen Alkoholkonsums sind Gewalthandlungen, Unfälle und unerwünschte Sexualität. Gewalterfahrungen können sich sowohl auf Täter- als auch auf Opferschaft beziehen. Die benannten akuten Alkoholintoxikationsfolgen geschehen bes. im Bereich des öffentlichen Raumes. Gerade dort vollzieht sich Alkoholkonsum bes. im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Aber auch im häuslichen Bereich kommt es unter Alkoholintoxikation – bes. Alkoholabhängigkeit – zu Gewalthandlungen, bes. gegen Frauen und Kinder.
Zu den chronischen Folgen übermäßigen Alkoholkonsums zählen mehr als 140 internistisch-somatische und eine Reihe psychischer Diagnosen. Bes. Karzinom-, Herz-Kreislauf- und Lebererkrankungen zählen zu den Folgen chronischen Alkoholmissbrauchs. Im psychischen Bereich erzeugen Gewöhnung und Abhängigkeit von Substanzen (Verlangen, Unfähigkeit zu widerstehen, zwanghaftes Denken an den Konsum) ein erhöhtes Risiko für spätere S.-Erkrankungen. Außerdem können bes. Depressionen, Angststörungen, Sexual- und Schlafstörungen in der Folge chronischen Konsums auftreten. Die WHO-Empfehlung für risikoarmen Alkoholkonsum lautet dementsprechend, dass Männer an 2–3 Tagen in der Wochen maximal 30 Gramm Alkohol und Frauen maximal 20 Gramm Alkohol konsumieren sollten. Die einflussreiche British Medical Society empfiehlt für Männer maximal 24 Gramm täglich und für Frauen maximal 16 Gramm täglich. Darüber liegende Konsumhäufigkeiten und -mengen werden als riskanter Konsum bezeichnet. Es werden dann längerfristig erhöhte Quoten für somatische und psychische Krankheiten beobachtet.
4. Neurobiologie der Substanzwirkungen
Die neurobiologische Gehirnforschung (Hirnforschung) hat herausgefunden, dass psychotrope Substanzen auf direktem oder indirektem Weg ähnliche Wirkungen im Gehirn entfalten. Dies sind v. a. euphorisierende, stressreduzierende und glücksinduzierende Wirkungen, wobei dabei hauptsächlich komplexe kognitive und emotionsmodulierende Konsequenzen auftreten. Gemeinsame Wirkstrecke aller suchterzeugenden Substanzen ist das dopaminerge System, v. a. in den Gehirnregionen des ventralen Striatum und des Nucleus accumbens. Diese strukturell älteren Teile im Gehirn haben u. a. die Funktionen der Belohnung und der Emotionsgenese sowie Aufgaben im Zusammenhang mit Antrieb und Motivation. Substanzkonsum steht insofern in engem Zusammenhang mit Luststeigerung, Unlustvermeidung und Emotionsmodulation. Es entstehen Verhaltensgewohnheiten, die neurobiologisch durch Anpassungs- und Veränderungsprozesse im Gehirn begleitet werden. Hierzu zählt v. a. die Toleranzentwicklung, bei der eine Unempfindlichkeit gegenüber der missbrauchten Substanz entsteht. Dies wird dann oft vom Konsumenten durch höhere Konsummengen ausgeglichen, so dass sich eine Dosissteigerung ergibt.
5. Psychische Abhängigkeit
Die Entwicklung einer S. stellt ein komplexes psychologisches, biologisches und soziales Geschehen dar. Am Anfang steht meist der psychologische Lernprozess in Bezug auf die Substanzwirkung. Die ersten Substanzkonsumerfahrungen schaffen durch ihre i. d. R. angenehmen Wirkungen eine positive Bindung an die Substanz und deren Konsum, so dass der W unsch nach Wiederholung entsteht. Diese initialen Lernerfahrungen machen die Einübung von Selbstkontrollverhalten nötig, damit der Konsum unter der bewussten Kontrolle des Individuums steht. Dieses Kontrollverhalten kann sich späterhin automatisieren, so dass die Verhaltensabläufe implizit geschehen. Lerntheoretisch erhöht eine angenehme Konsequenz auf ein Verhalten die Wahrscheinlichkeit der neuerlichen Ausführung dieses Verhaltens (positive Verstärkung), wie andererseits das Verschwinden einer unangenehmen Ausgangbedingung durch das ausgeführte Verhalten (Konsum) ebenfalls zu einer erhöhten Konsumfrequenz führt (negative Verstärkung). Beide Verstärkungsprinzipien sind an der Entstehung von S.-Erkrankungen beteiligt. Zunächst stellt sich im Zusammenspiel mit den biologischen Wirkungen und den Veränderungen im sozialen Geschehen (z. B. Erhöhung der Geselligkeit) häufigerer Konsum ein. Dieser kann sich – insb. bei Konsumenten mit problematischen psychischen Ausgangbedingungen wie Angst oder Depression – zu regelmäßigem, gewohnheitsmäßigem Konsum weiterentwickeln. Meist schleichend und zunächst unbemerkt entsteht dann ein zunehmender Kontrollverlust über die Konsumhäufigkeit und die Konsummenge. Neben psychischen Problemen ist die Beeinflussung von Hyperstress ein wichtiges Konsummotiv, das zur S. führen kann.
6. Symptomatik
Die wichtigste Symptomatik einer S.-Erkrankung ist der zunehmende Verlust der Selbstkontrolle über Menge, Zeitpunkt und Dauer des Konsums einer Substanz oder die exzessive Ausführung von konsumbezogenen Verhaltensweisen. Insofern lässt sich eine S.-Erkrankung, ob bei Substanzsüchten oder im Bereich der Verhaltenssüchte, als eine Selbstkontroll- und Selbstregulationsstörung verstehen. Der Prozess des Verlustes der Verhaltenskontrolle, verkürzt Kontrollverlust genannt, geschieht meist schleichend, so dass der Betroffene es lange gar nicht realisiert, unbewusst verdrängt oder gar aktiv abwehrt. Späterhin kommen – vordergründig und kurzfristig selbstwertdienliche – kognitive und emotionale Prozesse hinzu, wie Verzerrungen, selektives Erinnern, Umdeutungen, Scham und externale Schuldzuweisung, die insgesamt eine schnelle Problemeinsicht verhindern. Insofern gehören zu den meisten S.-Erkrankungen als Symptome gegenüber der Umwelt – gerade in der Frühphase der Erkrankung – Verleugnung, Bagatellisierung und Mangel an Krankheitseinsicht. Im weiteren Krankheitsverlauf verschärfen und intensivieren sich die Symptome und betreffen neben mentalen und emotionalen auch psychophysiologische Bereiche, z. B. in Form von Entzugserscheinungen, Toleranzerhöhung, Dosissteigerung und unwiderstehlichem Verlangen.
Das von der WHO herausgegebene und in Deutschland zur Versorgung S.-Kranker maßgebliche Diagnosesystem ICD-11 (das ICD-11 der WHO wird voraussichtlich 2023 in Deutschland als Nachfolgesystem des seit 1991 gebräuchlichen ICD-10 eingeführt) beschreibt als Hauptsymptome der S.-Erkrankung u. a.: Verlangen, Toleranzerhöhung, Verlust der Verhaltenskontrolle, Entzugserscheinungen sowie negative Veränderung und Einengung des Lebensstils auf exzessiven oder dauerhaften Konsum. Die Störung kann in leichter, mittelgradiger oder starker Ausprägung vorliegen.
7. Schluss
Mit 1,6 Mio. Alkoholabhängigen und ca. 0,4 Mio. Drogenabhängigen stellen die S.-Krankheiten eine ernste Gefahr der Gesundheit der Bevölkerung dar. Hinzu kommen weitere ca. 6 Mio. Nikotinabhängige. Negative biographische Erfahrungen, frühe Traumatisierungen, psychische Funktionsstörungen und alltäglicher Hyperstress stellen meist die Entstehungsursachen für S. dar. Sie frühzeitig heilsam zu beeinflussen, ist die bes. wichtige Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens und des Sozialleistungssystems.
Literatur
Statistisches Bundesamt: 81000–0120: VGR des Bundes – Konsumausgaben der privaten Haushalte, 2020 • European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction: European Drug Report 2020. Trends and Developments, 2020 • C. Rummel/B. Lehner/J. Kepp: Daten, Zahlen, Fakten, in: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (Hg.): Jb. Sucht 2020, 2020, 9–32 • H. K. Seitz/F. Mueller (Hg.): Alkoholische Leber- und Krebserkrankungen, 2019 • F. Tretter: Suchtmedizin kompakt. Suchtkrankheiten in Klinik und Praxis, 32018 • K. Schaller/S. Kahnert/U. Mons: Alkoholatlas Deutschland 2017, 2017 • F. Tretter: Sucht. Gehirn. Gesellschaft, 2016 • P. Taschowsky: Illegale Aktivitäten in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung von Zigarettenschmuggel und Drogen, in: WISTA 02/2015 (2015), 28–41.
Empfohlene Zitierweise
M. Klein: Sucht, I. Medizinisch-psychologische Aspekte, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sucht (abgerufen: 24.11.2024)
II. Entwicklung, Verläufe, Risiken
Abschnitt drucken1. Entwicklungs- und Verlaufsperspektiven
S.-Erkrankungen zählen zu den bes. prävalenten psychischen Störungen in der Bevölkerung. Bei Männern stellen sie die häufigste einzelne psychische Störung überhaupt dar. So waren nach der „Deutschen Erwachsenengesundheitsstudie“ (2014) 19,4 % der erwachsenen Männer im letzten Jahr von einer substanzbezogenen Störung nach DSM-IV betroffen. Alkohol- und tabakbezogene Störungen sind dabei mit großem Abstand am häufigsten vorhanden, andere seltener: Drogenabhängigkeit (0,3 % der Erwachsenen), Glücksspiel-S. (0,8 %) und Internet-S. (0,7 %). Je nach Lebensalter, Geschlecht, Sozialschicht, Lebenslage, Sozialräumen und Migrationshintergrund können diese Prävalenzen z. T. erheblich schwanken. Im neuen Diagnosesystem DSM-5 wird innerhalb der S.-Störungen zwischen Substanz- und Verhaltenssüchten und nach den Ausprägungsgraden leicht, mittelgradig und schwer unterschieden.
Die ersten Substanzkonsumerfahrungen finden üblicherweise in der Jugend statt. Hier werden durch Erfahrungslernen und Gewohnheitsbildung die Weichen für einen dauerhaft gelingenden oder misslingenden Umgang mit Substanzen gestellt. Deshalb sind kontrollierte, erzieherisch begleitete Erfahrungen, v. a. im Umgang mit Alkohol als legaler und weit verbreiteter Substanz, bes. wichtig. Entwicklungspsychologisch gilt als kritische Phase in den Einstieg des Konsums von Alkohol und Tabak die Lebensphase zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr. Erfahrungen mit Cannabis und anderen illegalisierten Substanzen (v. a. Opioiden und Stimulantien) finden meistens erst nach dem 16. bzw. 18. Lebensjahr statt. Ob sich späterhin eine S.-Entwicklung ereignet, hängt neben bestimmten biopsychosozialen Risikofaktoren auch mit dem Gelingen des Erwerbs einer ausreichenden Verhaltenskontrolle und Selbstwirksamkeit in der frühen Phase der ersten Konsumerfahrungen zusammen. Bei allen genannten Substanzen zeigen Jungen höhere Prävalenzen für Konsum und auch höhere individuelle Konsumwerte, aber keinen früheren Einstieg als Mädchen.
2. Epidemiologie
Die epidemiologischen Daten der letzten Drogenaffinitätsstudie aus dem Jahr 2015 zeigen, dass mit 77,6 % eine deutliche Mehrheit der 12- bis 17-Jährigen noch nie geraucht hat. 68 % der Jugendlichen in dieser Altersspanne haben schon einmal Alkohol getrunken. Bei jedem siebten Jugendlichen (14,1 %) gab es in den letzten 30 Tagen wenigstens einmal Rauschtrinken (fünf und mehr Gläser Alkohol zu einer Gelegenheit). Jungen zeigen beim Konsum von Alkohol höhere Werte als Mädchen. Dies betrifft die Zahl der Konsumerfahrenen ebenso wie die Zahl der Rauschtrinkenden. Knapp jeder zehnte Jugendliche (9,7 %) hat schon einmal Cannabis probiert, auch hier wieder mehr Jungen als Mädchen. Der Konsum anderer illegalisierter Drogen ist vor dem 18. Lebensjahr selten.
3. Ätiologie
Die Genese einer S.-Störung verläuft über mehrere Jahre. Je jünger der Einstieg in einen problematischen Substanzkonsum erfolgt, desto schneller kommt es im Regelfall zu einer Abhängigkeitserkrankung. Je mehr Risikofaktoren bei einem Jugendlichen vorliegen und je weniger Schutzfaktoren vorhanden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer S.-Erkrankung. Das Vulnerabilitäts-Stressmodell der Entstehung psychischer Störungen, das auch auf S.-Erkrankungen anwendbar ist, beschreibt diesen Zusammenhang genauer. Zu den wichtigsten Risikofaktoren gehören:
a) Umweltfaktoren (sozialer Bereich): konsumierende Peers, suchtkranke Eltern, hohe Verfügbarkeit von Substanzen, niedriger Preis, Wirkstärke und S.-Potenzial einzelner Substanzen, strukturell benachteiligter Sozialraum;
b) Personenfaktoren (psychologischer Bereich): hohes Stresserleben bei geringer Bewältigungskompetenz, niedriges Selbstwertgefühl, Angst, Depressivität oder andere psychische Probleme, niedrige Emotionsregulation;
c) Körper- und Organismusfaktoren (biologischer Bereich): genetische Risiken im Bereich Alkohol- und Drogenverträglichkeit, hoher Stressdämpfungseffekt durch Substanzen, angeborene oder erworbene Toleranz gegenüber Substanzwirkung.
Als bes. Risikofaktoren des Jugendalters gelten ein sehr früher Einstieg in den Konsum psychotroper Substanzen, ein früher Konsum mit problematischen Formen wie exzessiver oder häufiger Konsum, das gleichzeitige Vorliegen psychischer Probleme und Verhaltensauffälligkeiten sowie ein ebenfalls stark konsumierendes Umfeld in den Bereichen Familie und/oder Peer-Gruppe.
4. Funktionen des Substanzkonsums im Jugendalter
Im Jugend- und frühen Erwachsenenalter liegen Einstieg und Höhepunkt des Substanzkonsums zugl. Insofern kann die Lebensspanne zwischen dem 12. und etwa 24. Lebensjahr als sensible Periode zum Erwerb problematischen wie auch gelingenden Substanzkonsums betrachtet werden. Die Jugendlichen sammeln Konsumerfahrungen, die lernpsychologisch zu Stimmungs-, Gefühls- und Verhaltensänderungen führen, welche unmittelbar und sehr positiv (positive Verstärkung) erlebt werden oder negative Ausgangszustände wie Angst, Depressivität oder Selbstwertprobleme entscheidend reduzieren (negative Verstärkung). Gleichzeitig werden aufgrund von erziehungs- und medienbedingten Einstellungen Verhaltensentscheidungen getroffen, bestimmte Substanzen entweder zu konsumieren oder auf den Konsum einzelner Substanzen zu verzichten.
Im Einzelnen sind folgende Funktionen zu benennen, die sich durchaus auch ergänzen und verstärken können:
a) Zugehörigkeit zu konsumierenden attraktiven Peer-Gruppen;
b) Erwachsenenverhalten symbolisch vorwegnehmen und ausdrücken;
c) Stress- und Bewältigungshilfen durch Substanzkonsum;
d) Selbstmedikation und Kompensation psychischer Probleme im Verhalten und Erleben;
e) Neugierde, Reizhunger und Sensationslust.
Jungen zeigen in allen epidemiologischen Studien höhere Konsumwerte für Alkohol, Cannabis, Opiate und Stimulantien und gelten daher als bes. stark gefährdete Risikogruppe.
Die Substanzkonsummotive im Jugendalter lassen sich zusammenfassend in folgende fünf Hauptgruppen einordnen: Euphorisierung, soziale Integration, Stressreduktion, Selbstmedikation, Eskapismus. Als bes. suchtgefährdend gelten die letzten drei Faktoren.
5. Ausblick
Für Jugendliche ist die Zeit der Pubertät und die der folgenden mittleren Jugend (16.–18. Lebensjahr) ein Abschnitt voller Herausforderungen und Umstellungen. Neben den bekannten Entwicklungsaufgaben dieser Lebensjahre in den Bereichen Peer-Gruppe, Berufsfindung, gegengeschlechtliche Kontakte, bislang weitgehend unberücksichtigt gehören der Erwerb erster Substanzkonsumerfahrungen, das Einüben von Selbstkontrollstrategien sowie die Ablehnung und der Verzicht des Konsums einzelner Substanzen zu den Entwicklungsaufgaben dieser Lebensspanne.
Kinder und Jugendliche zeigen in Deutschland einen hohen Konsum von psychoaktiven Substanzen und in Bezug auf Tabak und Alkohol einen vergleichsweise frühen Einstieg. Der Konsum dieser und weiterer Drogen kann als jugendliches Risikoverhalten verstanden werden, welches mit einer Reihe unerwünschter Konsequenzen (z. B. Gewaltverhalten, ungeschützte Sexualität, frühe Schwangerschaft, schulisches Leistungsversagen) assoziiert ist. Präventions- und Hilfemaßnahmen müssen frühzeitig und umfassend einsetzen, um entscheidende und dauerhafte Veränderungen zu erreichen. Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien und mit selbst stark konsumierenden Peers müssen als bes. gefährdet für erhöhten Substanzkonsum und die assoziierten Verhaltensweisen angesehen werden. Eine der wichtigsten präventiven Aufgaben ist der Erwerb affektiver Selbstkontrolle und -steuerungsfähigkeit.
Literatur
M. Klein: Kinder im Kontext elterlicher Alkoholsucht, in: Suchtmedizin 20/1 (2018), 52–62 • B. Orth: Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2015, 2016 • F. Jacobi u. a.: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. DEGS1-MH, in: Nervenarzt 85/1 (2014), 77–87 • M. Klein: Psychosoziale Aspekte des Risikoverhaltens Jugendlicher im Umgang mit Suchtmitteln, in: Gesundheitswesen 66/1 (2004), 56–60 • A. Leppin/K. Hurrelmann/H. Petermann (Hg.): Jugendliche und Alltagsdrogen. Konsum und Perspektiven der Prävention, 2000.
Empfohlene Zitierweise
M. Klein: Sucht, II. Entwicklung, Verläufe, Risiken, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sucht (abgerufen: 24.11.2024)