Protest
1. Begriff
Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm kennt P. als eine „gegen etwas und dessen folgen eingelegte verwahrung“ (Kleinschreibung i. O.). Als sozialwissenschaftliches Konzept ist der Begriff unterbestimmt und umstritten. Kritiker halten das Konzept für zu eng gefasst. P. erfasse nicht das ganze Spektrum der Aktivitäten Sozialer Bewegungen, verenge Aktivismus auf eine affektive und emotionale Dimension und sollte daher nicht synonym mit dem umfassenderen Begriff verwendet werden. Der Begriff bringt gleichwohl den zutreffenden Aspekt der öffentlich praktizierten Verwahrung gegen etwas auf den Punkt. Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt (2020: 835) definieren P. als „öffentliche, kollektive Handlungen nicht-staatlicher Träger, die Widerspruch oder Kritik zum Ausdruck bringen und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen bzw. politischen Anliegens verbunden sind“. Verta Taylor und Nella van Dyke (2004: 268) begreifen P. als situative, taktische Repertoires „in which bodies, symbols, identities, practices, and discourses are used to pursue or prevent changes in institutionalized power relations”. P.-Ereignisse ankern in gesellschaftlichen Problemlagen, sind aber grundsätzlich Konstrukte öffentlicher Auseinandersetzung und medialer Inszenierung. P.e erlangen im 20. Jh. in freiheitlich-demokratisch verfassten politischen Ordnungen eine besondere Bedeutung. An wichtigen P.-Ereignissen entzündet sich ein anhaltendes und über die Zeit zunehmend gewaltfreies Ringen um die Ausweitung formaler wie faktischer Freiheitsrechte sowie politischer und sozialer Teilhaberechte für immer mehr Individuen und Gruppen (T. H. Marshall). P.e sind ein weithin akzeptiertes Mittel zivilgesellschaftlicher Beteiligung in Ergänzung der Politik politischer Parteien. Laut der Rechtsprechung des BVerfG gehören P.e heute zum unverzichtbaren Inventar einer Demokratie. Im GG ist ihre Möglichkeit etwa durch das Recht auf Meinungsfreiheit (Art. 4), die Versammlungsfreiheit (Art. 8), die Koalitionsfreiheit (Art. 9) und im Widerstandsrecht (Art. 20) angelegt. P.e sind dennoch oft politisch umstritten. Oft werden sie in nicht-freiheitlich verfassten Gesellschaften generell als illegitime Mittel betrachtet, mit Extremismus- und Terrorismusvorwürfen konfrontiert sowie politisch und teilweise gewaltsam unterdrückt. Beispiele sind P.e gegen die Staatsführung in Belarus, Myanmar oder Russland, P.e der Demokratiebewegung in Hongkong, oder der Frauenrechts-/Demokratiebewegung im Iran. Die Freiheitlichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung wird auch in Umfang der P.e bemessen, die sie zulässt.
2. Nähere Bestimmungen und Abgrenzungen
Schreitet ein Individuum in einer bestimmten Situation ein, um etwa Diskriminierung, eine Bedrohung oder Gewalt zu verhindern, ist die damit verbundene praktische Verwahrung mit dem Begriff der Zivilcourage womöglich besser zu fassen. P.-Gruppen sind ein Zusammenschluss von Menschen zum Zwecke des P.s. Die Themen von P.-Gruppen können sich über die Zeit erweitern, bzw. ändern. Die Aktivitäten einer P.-Gruppe sind räumlich und/oder zeitlich begrenzt. In ihrem öffentlichen Auftreten weisen P.-Gruppen auf einen von ihnen wahrgenommenen politischen oder alltagskulturellen Missstand hin und insistieren auf eine entsprechende Veränderung. Aus P.-Gruppen, aber auch aus politischen Parteien, Gewerkschaften sowie akuten gesellschaftlichen Krisenlagen, können P.-Bewegungen hervorgehen, die breitere und längerfristige Mobilisierungsanstrengungen umfassen. P. als kollektive, politische Aktionsform steht in teilweise enger Verbindung mit den Konzepten Soziale Bewegung, Ziviler Ungehorsam und Ziviler Widerstand, ist mit diesen aber nicht deckungsgleich. P.-Bewegungen organisieren dauerhaft Formen der praktischen Verwahrung gegen ein politisches System, eine Regierung, eine bestimmte Politik und/ oder alltagskulturelle Institutionen und Praktiken. Ein überaus großer Teil Sozialer Bewegungen sind dahingehend P.-Bewegungen. Ziviler Widerstand und Ziviler Ungehorsam gehören zum Aktionsrepertoire von P.-Bewegungen. Ein solcher P. zielt primär auf weitere Mobilisierung, welche wiederum mittelbar einen Wandel unterschiedlicher Reichweite erwirken soll. Auch wenn der öffentlich angekündigte, symbolisch vollzogene Bruch eines Gesetzes im Sinne eines Akts Zivilen Ungehorsams i. d. R. nicht allein begangen wird, individuiert die Praxis der Rechtsprechung P.-Akteure im Hinblick auf ihre Tat. Im Gegensatz zu zivilem Widerstand und zivilem Ungehorsam sind P.e nicht per definitionem gewaltfrei. Radikaler P. impliziert grundlegende Skepsis oder Ablehnung gesellschaftlicher Zustände und gesellschaftlicher Eliten durch P.-Akteure. Militanter P. sucht gezielt die Konfrontation mit Vertretern der Gruppen, an die der P. gerichtet ist. In dieser Konfrontation kann es zu Gewalt kommen; von Vandalismus über die gezielte Zerstörung von privatem Eigentum bis hin zu Angriffen auf Ausrüstung und Fahrzeuge der Staatsgewalt sowie ihrer Vertreter und zuletzt Gewalt gegenüber beteiligten und unbeteiligten Dritten. Gewalt während P.-Episoden kann sich in einer situativen Konfliktlage spontan entzünden, durch die Gewalt von Sicherheitskräften bzw. von Personen provoziert werden, die nicht selbst Teil der P.-Gruppe sind, oder aber planvoll von P.-Gruppen selbst eingesetzt werden. Ob eine P.-Gruppe als extremistisch einzustufen ist, bleibt eine Frage der politischen und/oder juristischen Bewertung – z. B. entlang der Kriterien des Art. 1 oder Art. 21 GG (Extremismus). Illiberale Regime betrachten P.e regelmäßig prinzipiell als extremistisch. Richten P.e sich gegen Diktatur und Unterdrückung, nehmen sie die Form eines Freiheitskampfes (z. B. während der sogenannten Arabellion) an. Unruhen, Revolte, Revolution, Terrorismus, Partisanen- und Bürgerkrieg sind (zumeist) mit entgrenzter Gewalt verbundene Grenzphänomene des P.s, die sich aber nicht mehr länger sinnvoll mit dem Terminus P. fassen lassen. Gewaltfreiheit/Non-Violence ist heute ein weit verbreiteter ethischer, strategischer wie taktischer Grundsatz in P.en. Die Forschung belegt, dass gewaltfreier ziviler Widerstand weit größere Chancen hat, dauerhafte politische Veränderungen herbeizuführen als gewaltsame P.e (Chenoweth/Stephan 2011). Dies gilt auch in massiv oppressiven politischen Regimen.
3. Erscheinungsformen
P. ist eine grundlegende Form politischer Artikulation, deren Geschichte bis in die Antike zurückreicht. Eine Aufzählung historischer und gegenwärtigere Erscheinungsformen bleibt notwendiger Weise unvollständig; so auch hier. P. als Aktionsform ist keiner Gruppierung im politischen Spektrum exklusiv vorbehalten. Über die Legitimität und Legalität ihrer Motive und Ziel sowie ihrer Artikulationsform und Intensität kommt es regelmäßig zu teils heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen. Das Spektrum von P.en ist ein weites Feld: P.-Gruppen können alternative Lebensstile (etwa die Kommune 1 von 1967-1969; heute diverse ökologische Wohn- und Produktionsgenossenschaften) kultivieren. Durch Kleidung, Symbole, Organisationsformen und alltägliche Praxis soll ein Leben geführt werden, das zu einem hohen Grad den eigenen Idealen entspricht. Demonstrationen/ Kundgebungen sind gleichsam alltägliche Formen der P.-Äußerung. Sie reichen von Mahnwachen (z. B. nach Anschlägen) und Formen des stillen P.s (z. B. der White Ladies im Liberia der 1990er Jahre oder auch von Kriegsgegnern in Russland 2022/23) über lautstarke Kundgebungen (etwa der britischen Suffragetten zu Beginn des 20. Jh.; P. von Maßnahmengegnern während der Corona-Pandemie 2019-22) bis hin zu Demonstrationen, die in militante Konfrontation münden (z. B. 2021 Sturm des Kapitols in Washington, D.C.). P. wird oft im Medium der Kunst artikuliert: etwa ab 1987 Aktionen der AIDS-Aktivisten von Act-Up, die „vergnügten“ P.e der Gruppe Otpor in Serbien 2000, das Punk-Gebet der feministischen P.-Gruppe Pussy Riot 2012. Online-P.en kommt in den letzten Jahren ein immer größerer Stellenwert zu; etwa in Form von Onlinepetitionen, Shitstorms und Online-Boykotten, etc. Oft stehen P. online und auf Straßen und Plätzen in enger Verbindung, wie im Rahmen der PEGIDA-P.e 2015 oder aber der Metoo-P.e 2017. Streiks/ Boykotte sind Formen der Nicht-Kooperation. Streiks für bessere Arbeitsbedingungen/ Bezahlung sind mitunter institutionalisierter Teil politischer Ordnungen (Arbeitskampf). In Form eines Generalstreiks (z. B. in Frankreich/ Griechenland) erlangen Streiks eine umfassende politische Funktion. Ein Boykott besteht in der gezielten Weigerung mit Regierungen und Unternehmen zu kooperieren oder deren Produkte/ Dienstleistungen zu konsumieren; etwa der Montgomery Bus Boykott im Zuge der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung 1955/56, aber auch Boykott-Aufrufe der BDS-Bewegung, die sich (einseitig) gegen „Israel“ richten. Im Rahmen eines Hungerstreiks setzen Aktivisten ihr Leben als P.-Pfand ein (erfolgreich z. B. Mahatma Gandhi). Streiks und Boykotte sollen Aufmerksamkeit, aber auch greifbare Opportunitätskosten erzeugen, um ein Einlenken zu erwirken. Störaktionen, Blockaden und Sabotage sind ebenfalls Mittel des P.s: bspw. im Kontext von Castortransporten durch die Anti-Atomkraftbewegung, zuletzt auch Straßenblockaden der Letzten Generation. Die brasilianische Landlosenbewegung markiert seit 40 Jahren durch Besetzungen ihre Anliegen. Weitere Beispiele für Besetzungen sind 1980 die Republik Freies Wendland bei Gorleben, Hörsaalbesetzungen im Bildungsstreik 2009, Platzbesetzungen und Besetzungscamps im Zuge der Arabellion 2010/11, der Occupy-P.e 2011, der Gezi-Park-P.e 2013, des Euromaidan 2015 und jüngst Besetzungen im Hambacher Forst und Lüzerath. Gewaltsame Ausschreitungen sind mitunter Teil von P.en: z. B. gegen Polizeigewalt 2005 in Frankreichs Vorstädten sowie in den USA 2020 im Zuge der Black-Lives-Matter-P.e. Längst nicht allen Ausschreitungen liegt Polizeigewalt initial zugrunde, doch oft entzündet sich Gewalt in Konfrontation von Aktivisten und Sicherheitskräften: z. B. Ausschreitungen im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 2009 etwa in Griechenland und Spanien; im Kontext diverser Weltwirtschaftsgipfel etwa 1999 in Seattle oder 2017 in Hamburg; nicht zuletzt Ausschreitungen im Kontext der Hongkonger Demokratiebewegung sowie der seit 2022 andauernden Frauenrechts- und Demokratie-P.e im Iran. Die wohl radikalste P.-Form ist der öffentliche Suizid, wie z. B. 1963 die Selbstverbrennung des buddhistischen Mönchs Thích Quảng Đức in Saigon/Vietnam in P. gegen die damals oppressive Regierung.
4. Desiderate der Protestforschung
Wurden in den vergangenen ca. 50 Jahren P.e im Kontext der Bewegungsforschung untersucht, zeigen sich wichtige Desiderate bzw. Schwachstellen der Forschung, z. B. die Verzahnung unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Perspektiven; die Integration informationswissenschaftlicher Forschungsmöglichkeiten; die Untersuchung der Verschränkung digitaler und analoger P.-Welten und P.-Dynamiken; die Erkundung reaktionärer bis extremistischer P.-Praktiken; die Erforschung situativer P.-Praktiken, -dynamiken und Prozesse der moralischen Polarisierung; und nicht zuletzt der Bildungs- und Sozialisationsprozesse durch P.-Beteiligung.
Literatur
D. Rucht/F. Neidhardt: Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen, in: H. Joas/S. Mau (Hg.), Lehrbuch der Soziologie, 2020, 831-864 • N. B. Weidmann/E. G. Rød: The Internet and Political Protest in Autocracies, 2019 • S. Teune: Wo fängt Gewalt an? Unterschiede in der Berichterstattung über Protest und Gewalt, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 31/1-2 (2018), 214-225 • G. J. Betz: Vergnügter Protest: Erkundungen hybridisierter Formen kollektiven Ungehorsams. 2016 • S. Ertl: Protest als Ereignis: zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation, 2015 • J. M. Jaspers: Protest: A Cultural Introduction to Social Movements, 2014 • F. Frenzel u. a.: Protest camps: An Emerging Field of Social Movement Research, in: The Sociological Review 62/3 (2014), 457-474 • D. Della Porta/M. Diani (Hg.): The Oxford Handbook of Social Movements, 2014 • D. Rucht: Wandel der Protestformen, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 1/1 (2012), 6-13 • E. Chenoweth/M. J. Stephan: Why Civil Resistance Works, 2011 • A. Pettenkofer: Radikaler Protest: Zur soziologischen Theorie politischer Bewegungen, 2010 • T. V. Reed: The art of Protest: Culture and activism from the civil rights movement to the streets of Seattle, 2009 • N. Luhmann: P.: Systemtheorie und soziale Bewegungen, 2006 • D. Snow u. a. (Hg.): The Blackwell Companion to Social Movements, 2004 • V. Taylor/N. van Dyke: ‘Get Up, Stand Up’: Tactical Repertoires of Social Movements, in: ebd., 262-293 • K. Eder: Protest und symbolische Gewalt. Zur Logik der Mobilisierung kollektiver Identitäten. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 11/4 (1998), 29-40 • H. Pross: Protestgesellschaft. Von der Wirksamkeit des Widerspruchs, 1992 • T. H. Marshall: Citizenship and Social Class and other Essays, 1950 • J. Grimm/W.Grimm: Protest, in: dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, 2177 (digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB>, abger. am 11.10.2023).
Empfohlene Zitierweise
Zitation kopierenMichael Ernst-Heidenreich: Protest, Version 23.10.2023, 09:45Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Protest (abgerufen: 24.11.2024)