Diversität
I. Soziologie
Abschnitt druckenD. ist ein Begriff, der im Zuge der Wahrnehmung einer wachsenden Vielfalt von Lebensformen, Lebensstilen, sozialen Milieus (Sozialstruktur), ethnischen Gruppierungen (Ethnizität), Religionen (Religion) Eingang in das Vokabular gesellschaftlicher Selbstbeobachtung, politischer Steuerung und von Organisationsentwicklung gefunden hat. Die UNESCO hat 2005 eine „Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions“ beschlossen (UNESCO 2013). ‚Diversity Management‘ ist zu einem wichtigen Teil der Organisationsentwicklung von Unternehmen und Behörden geworden. Der Begriff der D. trägt dem Umstand Rechnung, dass gegenwärtige Gesellschaften durch ein wachsendes Maß an Heterogenität gekennzeichnet sind und dass die Gesellschaftsmitglieder sich dieser Heterogenität in wachsendem Maße bewusst werden, wobei sie diese durchaus unterschiedlich wahrnehmen: als Chance, als Bereicherung, als Herausforderung, als Bedrohung. Der Begriff der D. wird in einem doppelten Sinne verwendet: deskriptiv als gegenwartsdiagnostische Kategorie der Beschreibung von Gesellschaft und normativ i. S. d. Formulierung von Zielen der Entwicklung von Gesellschaften und Organisationen. Beides, D. als Diagnose und als Wert, ist oft eng miteinander verbunden.
1. Soziale Differenzierung, Pluralisierung und Individualisierung
D. mag ein neuer Begriff sein, das, was er bezeichnet, ist ein grundlegendes Merkmal moderner Gesellschaften. Ebenso ist die Frage nach dem, was die Gesellschaft zusammenhält, nicht neu. Die Entstehung der modernen industriell-kapitalistischen Gesellschaft im 19. und beginnenden 20. Jh. ist durch eine „Vielfalt und Konzentration von Lebensformen in den sich entwickelnden industriell-städtischen Agglomerationen“ geprägt (Pries 2013: 20). D. ist eine Folge sozialer Differenzierung und von Individualisierung. Beides sind Grundmerkmale moderner Gesellschaften. Der Begriff der D. taucht zwar nicht in den Werken der soziologischen Klassiker auf, die am Übergang vom 19. zum 20. Jh. grundlegende Arbeiten zum (Selbst-)Verständnis der modernen Gesellschaft vorgelegt haben, die Phänomene, die sie beschreiben, lassen sich gleichwohl unter diesen Begriff subsumieren. Beispielsweise wird in Ferdinand Tönnies (1979) Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, in welcher die Gesellschaft die für die Moderne charakteristische Form kennzeichnet, der Einheitlichkeit der Gemeinschaft die Differenzierung und Individualisierung der Gesellschaft gegenübergestellt. Emile Durkheims (1988) Unterscheidung von mechanischer und organischer Solidarität versteht letztere als Ergebnis der Arbeitsteilung. Während jene „beinhaltet, dass sich die Individuen ähnlich sind, setzt diese voraus, dass sie sich voneinander unterscheiden“ (1988: 183). Soziale Differenzierung hat eine Zunahme von Unterscheidungen zwischen Menschen zur Folge und steigert die Komplexität der Gesellschaft.
Für gegenwärtige spätmoderne Gesellschaften wird „eine extrem ausdifferenzierte Vielfalt individueller und gruppenbezogener Merkmale, Orientierungen und Strategien“ (Pries 2013: 21 f.) diagnostiziert. Treibende Kräfte sind die Pluralisierung und Individualisierung von Lebensstilen und privaten Lebensformen sowie die damit einhergehende Steigerung von Optionen, die Vervielfältigung von Kommunikationswegen, die Zunahme sozialer Mobilität, die Differenzierung sozialer Milieus, die Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen, Globalisierung und nicht zuletzt die unterschiedlichen Formen von Migration, durch die eine wachsende ethnische Heterogenität entsteht.
Das Schwinden der Bindungskraft von Tradition und sozialer Herkunft begünstigt die Entstehung neuer und vielfältiger Formen von (posttraditionaler) Vergemeinschaftung und eine Ausdifferenzierung sozialer Milieus. Die sog.e bürgerliche Normalfamilie (Familie) besteht zwar weiterhin, ist aber nicht mehr die allein als legitim angesehene private Lebensform; eine Pluralität von (anerkannten) Arrangements privater Lebensführung steht als Alternative bereit: von der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft über das „Living-Apart-Together“ bis zur gleichgeschlechtlichen Paargemeinschaft (Peuckert 2012: 20) (Homosexualität). Die Globalisierung schafft neue hybride Zugehörigkeiten und Identitäten (Identität). Die Zahl der Herkunftsländer der Migranten hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfältigt, infolgedessen nimmt die Sprachenvielfalt zu. Und auch die ethnischen Gemeinschaften sind keine homogenen Gebilde, sie sind nicht weniger von sozialer Differenzierung geprägt als die autochthone Bevölkerungsmehrheit. Steven Vertovec spricht mit Blick auf die Entwicklung der Migrationsströme seit den 1980er Jahren von „super-diversity“. Geschlechterrelationen, Altersstrukturen, Humankapitalausstattung und der Rechtsstatus im Aufnahmeland seien sehr unterschiedlich (2011: 8). Im Zuge der Globalisierung hat „Transmigration“ als eine neue Form der Migration an Bedeutung gewonnen, eine zirkuläre Migration (z. B. von Expatriates), in deren Folge sich plurilokale, grenzüberschreitende Lebenszusammenhänge mit neuen Vergesellschaftungsformen bilden (Grimmig 2006: 39 f.). Globalisierung, Migration, neue Kommunikationstechnologien und auch der Tourismus vergrößern die Kenntnis anderer Lebensformen wie auch das Wissen um Vielfalt. Die Steigerung von D. kann allerdings auch, wenn dies als bedrohlich wahrgenommen wird, eine „Sehnsucht nach essentialistischen Reduktionen“ (Pries 2013: 35) zur Folge haben.
2. Anerkennung und Nutzung von Vielfalt
In einem normativen Verständnis hat D. den Stellenwert eines zu verfolgenden Ziels. Ein solches Verständnis findet sich in unterschiedlichen sozialen Feldern. Im pädagogischen Feld (Pädagogik) begreift das Konzept einer „Pädagogik der Vielfalt“ die Heterogenität von Lerngruppen nicht als Hindernis, sondern als Chance für Bildungsprozesse und fordert eine „Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen“, um „den schädlichen Folgen des im Bildungssystem vorherrschenden Selektionsprinzips“ (Prengel 1995: 62) entgegenzuwirken. Im politischen Feld postuliert die UNESCO (2013: 3) kulturelle D. als ein „defining characteristic of humanity“ und unterstreicht deren Bedeutung für eine umfassende Verwirklichung der Menschenrechte sowie für Freiheit und Frieden. Sowohl im pädagogischen als auch im politischen Feld ist das normative Verständnis von D. von einem Gleichheits- (Gleichheit) und Gerechtigkeitsanspruch (Gerechtigkeit) getragen.
Im ökonomischen Feld hat seit den 1990er Jahren die unternehmerische Strategie des „Diversity Management“ eine außerordentlich hohe Verbreitung erfahren und ist zu einem integralen Bestandteil des Human Ressource Management insb. großer, international operierender Unternehmen geworden. Es entstand als Reaktion amerikanischer Unternehmen auf die Anforderungen der Antidiskriminierungsgesetzgebung (Diskriminierung) und transformiert diese Anforderungen in eine Strategie, die der ökonomischen Rationalität von Unternehmen kompatibel ist. Soziale Unterschiede (z. B. hinsichtlich des Geschlechts oder der ethnischen Zugehörigkeit) werden weniger als soziale Ungleichheiten wahrgenommen und als Ursachen sozialer Konflikte thematisiert, sondern als Quelle kultureller Vielfalt, aus welcher Humanressourcen erwachsen, von denen die Organisation profitieren kann und soll. Managing Diversity ist ein „Konzept zur produktiven Nutzung sozialer Differenzen“ (Bruchhagen/Koall 2008: 931) im Rahmen von Organisationsentwicklung. Wertschätzung von Vielfalt ist die Leitlinie dieses Diskurses.
Die Entstehungsgeschichte des Diversity Management verweist auf eine Spannung, die bis heute den Diversity-Diskurs zumindest außerhalb des ökonomischen Feldes bestimmt: zwischen Humankapital (Humankapital) und sozialer Gerechtigkeit als zentrale Referenzrahmen, die, je nach Sichtweise, miteinander konkurrieren oder einander ergänzen. Diese doppelte Ausrichtung kommt zumindest ansatzweise in der „Charta der Vielfalt“ (2011) zum Ausdruck, die unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin im Jahr 2006 nach französischem Vorbild begründet wurde. Unterzeichner sind neben Unternehmen Verbände, Vereine, Stiftungen, Stadtverwaltungen und sonstige öffentliche Einrichtungen. Die Charta postuliert: „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität. Die Anerkennung und Förderung dieser vielfältigen Potenziale schafft wirtschaftliche Vorteile für unsere Organisation.“ Des Weiteren wird betont: „Gelebte Vielfalt und Wertschätzung dieser Vielfalt hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft in Deutschland.“ Das zentrale Argument für die Anerkennung von Vielfalt ist der ökonomische Nutzen; gleichsam als Nebeneffekt wird ein gesamtgesellschaftlicher Nutzen erwähnt. Auf diese Weise werden eine ökonomische Profit- und eine gesellschaftliche Gemeinwohllogik (Gemeinwohl) miteinander zu „versöhnen“ versucht. Mit der Priorisierung der ökonomischen Logik sind Gleichheitsgewinne freilich ein – nicht intendiertes, aber auch nicht unerwünschtes – Nebenprodukt.
Ein weiteres Feld, in dem D. zu einem Leitthema geworden ist, ist die Stadtentwicklungspolitik. Die Idee der Urbanität wird an D. gekoppelt, verstanden als kulturelle Vielfalt. Hintergrund dessen ist die unter Globalisierungsbedingungen (Globalisierung) sich verändernde Wettbewerbskonstellation zwischen Städten (Stadt) (Binder 2007). Diversity – so auch hier der übliche Sprachgebrauch – gilt als Herausforderung und als Weg kommunaler Stadtentwicklungspolitik. Kulturelle Vielfalt wird als Standortvorteil in der Konkurrenz von Metropolen gesehen. Richard Florida zufolge sind Toleranz und Offenheit gegenüber ethnisch-kultureller Vielfalt entscheidende Wachstumsfaktoren für Metropolen der Zukunft. Diversity spiele „a key role in the attraction and retention of the kind of talents required to support high-technology industry and generate regional growth“ (Florida 2005: 91). Kommunale Diversity-Politik schließt an die ökonomische Begründungslogik an, betont aber stärker den Anspruch von Gleichheit und Gerechtigkeit.
Wegen der expliziten Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt wird Diversity Management von manchen als eine Strategie gesehen, mit der sich, die ökonomische Logik gleichsam unterlaufend, auch Gleichheits- und Gerechtigkeitsziele verfolgen lassen. Dieses Verständnis ist vor allem im Kontext sozialer Bewegungen zu finden (Salzbrunn 2014: 28 f.). Eine kritische Diskussion darüber wird insb. in der Geschlechterforschung geführt. Der zentrale Kritikpunkt lautet, die Sichtweise von sozialen Unterschieden als Quelle von Humanressourcen blende aus, dass viele dieser Unterschiede, etwa hinsichtlich der Geschlechts- und der ethnischen Zugehörigkeit oder der sexuellen Orientierung, mit sozialen Ungleichheiten verbunden sind.
Anders als eine explizite Gleichstellungspolitik begründet Diversity Management keinen Anspruch auf Inklusion. Inkludiert wird, wessen Humankapitalkonfiguration den sich wandelnden Organisationsanforderungen kompatibel ist. Diese Marktlogik impliziert, dass die Inklusionsverheißungen zugleich Exklusionen erzeugen. Diversity Management behandelt nicht unterschiedslos alle Eigenschaften von Individuen als Humanressourcen, sondern nur solche, die am Markt nachgefragt werden. Auf diese Weise trägt es dazu bei, soziale Unterschiede und Ungleichheiten innerhalb bestimmter Gruppierungen zu befördern, z. B. unter Frauen oder unter Migranten. Diversity Management kontrolliert, welches ‚Andersein‘ Wertschätzung erfährt (Lederle 2008: 265). Neben einer wertgeschätzten D. gibt es eine unerwünschte, als problematisch wahrgenommene Differenz, die von den Partizipationsverheißungen (Partizipation) des Diversity Management nicht erfasst wird.
Literatur
M. Salzbrunn: Vielfalt/Diversity, 2014 • M. Meuser: Diversity Management – Anerkennung von Vielfalt? in: L. Pries (Hg.): Zusammenhalt durch Vielfalt?, 2013, 167–181 • L. Pries: Erweiterter Zusammenhalt in wachsender Vielfalt, in: L. Pries (Hg.): Zusammenhalt durch Vielfalt?, 2013, 13–48 • UNESCO: Basic Texts of the 2005 Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions, 2013 • R. Peuckert: Familienformen im sozialen Wandel, 82012 • Charta der Vielfalt (2011): Charta der Vielfalt, URL: www.charta-der-vielfalt.de (abger.: 24.12.2015) • S. Vertovec: Migration and New Diversities in Global Cities. MMG Working Paper 11–08, 2011 • V. Bruchhagen/I. Koall: Managing Diversity, in: R. Becker/B. Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 22008, 931–938 • S. Lederle: Die Ökonomisierung des Anderen, 2008 • B. Binder: Urbanität und Diversität, in: W.-D. Bukow u. a. (Hg.): Was heißt hier Parallelgesellschaft? 2007, 121–131 • M. Grimmig: Einwanderer, Einwanderung, in: A. Scherr (Hg.): Soziologische Basics, 2006, 35–41 • R. Florida: Cities and the Creative Class, 2005 • A. Prengel: Pädagogik der Vielfalt, 21995 • E. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, 21988 • F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, 1979.
Empfohlene Zitierweise
M. Meuser: Diversität, I. Soziologie, Version 09.05.2018, 17:32 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Diversit%C3%A4t (abgerufen: 25.11.2024)
II. Wirtschaftswissenschaften
Abschnitt druckenD. bezeichnet die kulturelle Vielfalt einer Gesellschaft. Zu dieser Vielfalt zählen u. a. Merkmale wie die Geschlechtszugehörigkeit, die soziale und die ethnische Herkunft, das Alter, der Gesundheitszustand, die sexuelle Orientierung, auch die religiöse Zugehörigkeit von Individuen (Individuum) und Gruppen (Gruppe). Wissenschaft, Politik und Medien verwenden den Begriff, um die Bürger auf diese Vielfalt aufmerksam zu machen und für kulturelle Unterschiede zu sensibilisieren. Denn wenn von D. die Rede ist, geht es v. a. um normative und strategische Ziele: um die umfassende Anerkennung der kulturellen Verschiedenheiten von Gruppen und Individuen. Kulturelle Unterschiede sollen in ihrem jeweiligen Wert anerkannt, positiv gewertet und strategisch, kostensparend und gewinnbringend, genutzt werden, sei es im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess oder bei der Personalplanung und im Mitarbeitereinsatz von Unternehmen. So verweisen Verfechter des unternehmerischen Diversity Managements auf mögliche negative Folgen der Nichtberücksichtigung kultureller Vielfalt, die sich in Unzufriedenheit der Mitarbeiter, unerwünschter Fluktuation oder in den Kosten, die dem Unternehmen durch Diskriminierung oder Mobbing entstehen, äußern können; oder sie betonen die Chancen der kreativen Nutzung einer kulturell vielfältigen Mitarbeiterschaft und die Absatzchancen angesichts der gestiegenen Vielfalt potentieller Konsumenten.
Die Forderung, Menschen oder Gruppen aufgrund bes.r Merkmale nicht nur nicht zu diskriminieren, sondern ihre Unterschiedlichkeit anzuerkennen und positiv zu werten, hat mehrere Wurzeln. Zu nennen wäre zunächst die klassische liberale Forderung der gleichen Freiheit aller Bürger ohne Ansehen der Person. Die Anti-Diskriminierungsgesetzgebung der EU, verbindlich für ihre Mitgliedsstaaten, gründet in dieser Forderung. Sie hatte ihren Ausgangspunkt in einem Artikel in den Römischen Verträgen von 1957, der verbot, weibliche beschäftigte Personen anders (d. h.: schlechter) (Geschlechtergerechtigkeit) als vergleichbar situierte männliche zu bezahlen. Dieses Lohngleichheitsgebot löste eine unerwartete Dynamik in der EU-europäischen und als Folge in der nationalen Rechtsprechung und Gleichstellungsgesetzgebung aus, in deren Verlauf die Anwendungsbereiche der Gleichbehandlung und Gleichstellung immer weiter ausgedehnt wurden. Die Gleichstellungspolitik der EU hat längst den urspr. strikten Bezug auf abhängige Beschäftigung hinter sich gelassen, ebenso wie ihre anfängliche Konzentration auf geschlechterspezifische Ungleichheiten. Denn inzwischen empfiehlt oder verabschiedet die EU kontinuierlich Maßnahmen, um im Interesse der Gleichstellung aller Unionsbürger Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund ist die von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2003 zu lesen, die Kosten und Nutzen von Maßnahmen, die der personellen Vielfalt in Unternehmen Rechnung tragen sollen, berechnete. Die Verfasser der Studie waren wie ihr Auftraggeber, die Kommission, davon überzeugt, dass Rechtsvorschriften, die die direkte und indirekte Diskriminierung verbieten, allein nicht ausreichten, um sicherzustellen, dass alle Unionsbürger gleiche Chancen haben würden; dass man vielmehr Maßnahmen entwickeln und erproben müsste, die privatwirtschaftliche Unternehmen und öffentliche Arbeitgeber vom Nutzen einer diversifizierter Mitarbeiterschaft überzeugen könnten. Hier liegen die Anfänge des Diversity Managements in der EU und in Deutschland, das allmählich die Strategie des Gender Mainstreaming abzulösen begann. Gender Mainstreaming war als Strategievorschlag in der internationalen Frauenbewegung (Frauenbewegungen) in den 1980er Jahren entstanden. Der Vorschlag wurde von den Institutionen der EU aufgegriffen und im Amsterdamer Vertrag von 1997 kodifiziert. Die EU hatte eine Expertengruppe eingesetzt, die Gender Mainstreaming als Prozess der Veränderung von nationalen und übernationalen Politikroutinen definierte. Bei allen gesellschaftlichen Vorhaben sollten nun die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern vorab berücksichtigt und auf ihre möglichen gleichheitsrelevanten Folgen hin bewertet werden.
Seit der Ausweitung möglicher Diskriminierungstatbestände und der damit verbundenen Anerkennung kultureller Vielfalt diskutieren Wissenschaft und Politik, in welchem Verhältnis die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männer und die Förderung der kulturellen Vielfalt in Organisationen stehen und was die Gemeinsamkeiten bzw. was die Unterschiede zwischen Gender Mainstreaming und Diversity Management sind. Schließlich lenkt der Fokus auf D. die Aufmerksamkeit zurück auf eine Einsicht, die neue sozialen Bewegungen (Soziale Bewegungen) zunächst in den USA Ende der 1980er Jahren formuliert hatten: dass das Geschlecht zunächst ein D.s-Merkmal neben vielen anderen zu sein scheint, dass sich Tatbestände der Diskriminierung aber typischerweise auf mehrere, sich teils überkreuzende Merkmale kultureller Vielfalt, damit auf mehrere Gruppenzugehörigkeiten einer Person beziehen, so z. B. auf die benachteiligte sozioökonomische Lage einer Frau, die schwarz und älter ist.
Ein weiterer Ursprung der Forderung nach Anerkennung und positiver Bewertung von D. liegt daher im Multikulturalismus, insb. im Kampf von Feministinnen, Homosexuellen (Homosexualität), ethnischen Minderheiten, zuerst in den USA. Unterschiede sollten, so das Ziel, als gleichwertig anerkannt und nicht mehr als Abweichung von einer hegemonialen Norm, der Norm „weißer, heterosexueller Männlichkeit“, abgewertet werden. Der Multikulturalismus wiederum war eine Antwort auf den Streit über Gleichheit oder Differenz, der v. a. den Feminismus bewegte. Vertreterinnen der Differenz betonten die (nicht notwendigerweise biologischen) Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die damit verbundene bes., „weibliche“, Kultur, weibliche Orientierungen und Handlungsweisen, ohne die unsere modernen Gesellschaften sich nicht erhalten könnten. Verteidigerinnen der Differenz forderten daher die gesellschaftliche Anerkennung typisch weiblicher Tätigkeiten, z. B. durch „maternalistische“ Politiken der Förderung der Sorgearbeit in der Familie. Ganz anders die Anhängerinnen des Gleichheitsparadigmas. Sie beharrten auf der großen Ähnlichkeit der Geschlechter und pochten auf die radikale Veränderung von geschlechterspezifisch differenzierenden Regeln und Institutionen. Diese Debatten gingen an der Vielfalt der Frauen vorbei. Der vorherrschende Feminismus, so die Kritik lesbischer oder „nicht-weißer“ oder armer alleinstehender Mütter, wäre kein Feminismus für alle Frauen, keiner, der die vielen Besonderheiten berücksichtigte.
Ende der 1980er Jahre entstanden unterschiedlichste neue soziale Bewegungen rund um je spezifische Differenzen und korrespondierende Identitätspolitiken. Schwule und Lesben mobilisierten sich entlang ihrer sexuellen Differenz, des Nicht-Heterosexuell-Seins, Latinos und Afro-Amerikaner betonten ihre ethnische Differenz usw. Feministinnen befanden sich in allen Lagern, da sich, wie oben erwähnt, die Merkmale der kulturellen Differenzierung überkreuzten. Im Feminismus wurde daher das Konzept der Intersektionalität, der multiplen sich kreuzenden Differenzen, formuliert. Zwei geistige und politische Strömungen folgten aus dieser Einsicht, die Nancy Fraser in ihrer Auseinandersetzung mit Judith Butler „Antiessentialismus“ v „Multikulturalismus“ nannte und kritisierte: die eine sieht in Differenzen nichts als Konstruktionen, die spielerisch aufzulösen sind; die andere, der Multikulturalismus, der Hintergrund der Forderung nach Anerkennung von D., kultiviert die positive Sicht von Gruppenunterschieden und -identitäten. Die Forderung bedingungsloser Anerkennung der kulturellen Verschiedenheit von Gruppen und Individuen als gleichwertig übersieht allerdings, dass nicht alle Gruppenidentitäten gleichermaßen mit demokratischen Werten, der gleichen Freiheit und Teilhabe aller Bürger (Partizipation) vereinbar sind.
Literatur
D. Gutting: Diversity Management als Führungsaufgabe, 2015 • R. Bendl/E. Hanappi-Egger/R. Hofmann (Hg.): Diversität und Diversitätsmanagement, 2012 • G. Krell/R. Ortlieb/B. Sieben (Hg.): Chancengleichheit durch Personalpolitik, 2011 • G. Vedder: Diversity Management. Grundlagen und Entwicklung im internationalen Vergleich, in: S. Andresen/M. Koreuber/D. Lüdke (Hg.): Gender und Diversity. Albtraum oder Traumpaar? 2009, 111–131 • G. Krell u. a. (Hg.): Diversity Studies, 2007 • M. Verloo: Displacement and Empowerment. Reflections on the Concept and Practice of the Council of Europe Approach to Gender Mainstreaming and Gender Equality, in: Social Politics 12/3 (2005), 344–365 • S. Raasch: Vom Verbot der Geschlechtsdiskriminierung zum Schutz von Diversity, in: KJ 37/4 (2004), 394–412 • J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, 2003 • Europäische Kommission (Hg.): Kosten und Nutzen personeller Vielfalt in Unternehmen, 2003 • B. Hobson (Hg.): Recognition Struggles and Social Movements, 2003 • S. Bothfeld/S. Gronbach/B. Riedmüller (Hg.): Gender Mainstreaming – eine Innovation in der Gleichstellungspolitik, 2002 • N. Fraser: Multiculturalism, Antiessentialism, and Radical Democracy. A Genealogy of the Current Impasse in Feminist Theory, in: N. Fraser (Hg.): Justice Interruptus, 1997, 173–188.
Empfohlene Zitierweise
I. Ostner: Diversität, II. Wirtschaftswissenschaften, Version 09.05.2018, 17:32 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Diversit%C3%A4t (abgerufen: 25.11.2024)
III. Pädagogik
Abschnitt druckenD., häufig auch mit Vielfalt bezeichnet, ist ein Konzept in der Pädagogik, um sowohl die individuelle als auch die gruppenbezogene Unterschiedlichkeit von Menschen festzustellen. Die D. von Personen wird in pädagogischer Perspektive in verschiedenen Differenzlinien betrachtet. Dazu gehören v. a. das Alter, das Geschlecht, sexuelle und lebensstilbezogene Orientierungen, die kulturelle und ethnische Herkunft inkl. dem Migrationshintergrund, der Religion, der sozio-ökonomische Status, Behinderung. Die D. der Gesellschaft mit solchen Differenzlinien spiegelt sich in der Heterogenität von Gruppen (Gruppe) in pädagogischen Institutionen wie der frühkindlichen Erziehung (Früherziehung), der Schule, der beruflichen Bildung (Berufliche Bildung), der Hochschule (Hochschulen) bis hin in die Erwachsenenbildung. Insb. aus den Erfahrungen internationaler Schulsysteme werden heterogene Lerngruppen, die die D. der Gesellschaft umfassend wiedergeben, als günstig angesehen, weil sie höhere Lernanreize in der Differenz setzen, bessere Bildungserfolge in der Breite garantieren und stärker soziale Teilhabe über Milieus und Schichten hinweg in der Gesellschaft ermöglichen.
1. Diversität, Demokratie und Erziehung
Als erster Erziehungs- und Kulturtheoretiker hat John Dewey die D. systematisch mit der Idee von Erziehung verbunden. In dem Unterkapitel „Die demokratische Konzeption in der Erziehung“ (Dewey 1989: Bd. 9) geht J. Dewey von der Annahme aus, dass die soziale Organisation von sozialen Gruppen (Gruppe) auch die Erziehung in ihnen bedingt. Eine demokratische Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur ihre eigenen Gebräuche und Gewohnheiten reproduziert, sondern innerhalb ihres Systems Entwicklungen und soziale Fortschritte (Fortschritt) zulässt und ermöglicht. Der Begriff des Wachstums, der bei J. Dewey für einen reflektierten Bildungsbegriff steht, zielt darauf, einen Habitus zu entwickeln, der die Welt in ihren Ressourcen nutzt, sich an sie im Sinne einer Akkommodation anpasst und sie zugleich im Sinne einer Assimilation verändert. Ein Wachstum im Sinne einer demokratischen Erziehung wären Impulse und Kräfte für eine Vorwärtsentwicklung, die Vermeidung bloßer Imitation, keine bloßen Routinen oder Reproduktionen, sondern Versuche eines gewollten gesellschaftlichen Wandels, der Partizipation aller Beteiligten ermöglicht. Dabei spielt die D. eine entscheidende Rolle. Für J. Dewey gibt es zwei wesentliche Kriterien der Gestaltung und Erneuerung einer demokratischen Gesellschaft:
a) Wie zahlreich und unterschiedlich sind die bewusst geteilten Interessen in einer Gemeinschaft? Demokratie entsteht dort leichter, wo zahlreiche und unterschiedliche bewusst geteilte Interessen (Interesse) vorliegen, weil und insofern hier auch eine Denkweise entsteht, die von einem Sinn für die Unterschiedlichkeit von Interessen im Rahmen sozialer Kontrolle (Soziale Kontrolle ausgeht und diesen dann auch in der Erziehung entwickelt.
b) Wie vollständig und frei ist der Austausch mit anderen Gemeinschaften? Demokratie entsteht dort leichter, wo nicht nur eine Interaktion zwischen sozialen Gruppen in einer Gesellschaft stattfindet, sondern wenn und insofern auch ein Habitus ausgebildet wird, der kontinuierlich neue Herausforderungen im Rahmen des sozialen Wandels durch die unterschiedlichen Interaktionen herzustellen und stets neu zu justieren in der Lage ist.
Beide Grundsätze, so argumentiert J. Dewey, sind für die Erziehung von ausschlaggebender Bedeutung. Demokratische Gesellschaften, die ihnen folgen, zeigen sich prinzipiell interessierter an einer freiheitlichen, systematischen und chancengerechten Erziehung. Dabei entsteht ein demokratisches Leben durch die Art des gemeinsamen Umgangs, die gemeinsame Kommunikation, dabei die Erweiterung der Handlungschancen von Individuen (Individuum), die untereinander und miteinander partizipieren, wobei jeder seine Interessen auf die der anderen rückbeziehen muss. Aus einer solchen Haltung heraus entsteht die Überwindung von Rassismus, von Klassentrennungen und eines Nationalismus, drei Bedingungen, die nach J. Dewey die Menschen daran hindern, zu einer größeren Selbstentfaltung zu gelangen. Je weiter sich die Gruppeninteressen unterschiedlich entwickeln können, je weniger sie Gruppenegoismen oder einseitigen Interessen folgen, umso größer erscheinen die individuellen Chancen in einer Demokratie. Und dies bedeutet zugl., dass auf dieser Basis auch die Chancen einer Erziehung gründen, die in demokratischer Orientierung stets eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit an Chancen vor dem Hintergrund gemeinsamer Achtung entwickeln muss, indem sie sowohl zu einem Wachstum individueller Fähigkeiten aller Mitglieder einer Gesellschaft kontinuierlich und sozial ausgleichend führt als auch die Breite und Vielfalt der Interessen damit selbst ständig erweitern hilft.
Interaktion ist in der D. eine wesentliche Voraussetzung. Weil Menschen vielfältig miteinander interagieren, müssen sie ihre Handlungen aufeinander abstimmen. In Interaktionen bedeuten Abstimmungen von Handlungen aufeinander, dass geteilte Interessen und gemeinsame Handlungen entstehen. Insoweit sind Kooperationen in sehr unterschiedlichen Varianten eine grundlegende Voraussetzung in der D. Gemeinsamkeiten werden über geteilte Werte abgesichert, wobei die Absicherung in der Erziehung geschieht. Aber diese Absicherung muss sich vor Stillstand hüten, weshalb es nach J. Dewey fatal wäre, die Erziehung an bestimmten Interessen bestimmter Gruppen auszurichten.
2. Diversität in der flüssigen Moderne
Im Blick auf die Kriterien sehen wir heute in unseren Wirklichkeitskonstruktionen schärfer, dass ein Wachstum von Unterschieden zwar zu einer größeren Handlungsbreite und auch zu zahlreichen Handlungschancen führen kann, aber die Unterschiedlichkeiten in den demokratisch verfassten und orientierten Gesellschaften haben keineswegs soziale Widersprüche so beseitigen können, wie es J. Dewey 1916 noch hoffen konnte. In Zeiten der „flüssigen Moderne“, wie z. B. Zygmunt Bauman anschaulich herausgearbeitet hat, ist an die Seite der D. eine Ambivalenz getreten, die gerade die geteilten Werte kennzeichnet. Wir sehen heute schärfer, dass alle Fortschritte – auch die materiellen – ein doppeltes Gesicht tragen. Sie ermöglichen nicht nur einen besseren Lebensstandard, sondern bezeichnen oft auch Risiken der Lebensführung in einer Risikogesellschaft, die nicht eindeutig nach positiv und negativ zu klassifizieren sind. In unseren absichtsvoll geteilten oder unabsichtlich gelebten Wünschen und Möglichkeiten sind die Werte (Wert) damit selbst uneindeutiger, widersprüchlicher, sehr oft ambivalent geworden. In dieser Ambivalenz steht auch die gesellschaftliche Teilung der Menschen, für die sich Wohlstand und Lebensstandard, Chancen der Bildung und Lebensführung sehr unterschiedlich – individuell und global – entwickeln. Heute wird es im Rahmen der Mehrdeutigkeit des Wachstums – ob individuell oder global – immer dringlicher und kritischer, neue Kriterien zu finden, die uns eine Orientierung in Richtung einer besseren Chancengerechtigkeit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) führen, wie sie v. a. über die Erziehung erreicht werden kann. Hierzu gehört insb. eine Solidaritätder besser Gestellten mit den nicht so privilegierten Mitmenschen. Und im Blick auf das zweite Kriterium von J. Dewey wird erkennbar, dass die Sicherung der Pluralität, der Ermöglichung von Konsens und Dissens, ohne sogleich zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zu führen, zwar in der Menschenrechtsdiskussion und der UNO eine institutionelle Gestalt angenommen haben, aber dies hat keineswegs zum ungebrochenen Durchbruch des Kriteriums verholfen. Für die Pädagogik rückt daher in einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der D. auch die Machtfrage ins Zentrum der Überlegungen, wie es insb. von Michel Foucault eingebracht wurde. Unter Einschluss einer kritischen Überprüfung der Macht im sozialen Feld, in der die Pädagogik insb. die Positionierung durch sozio-ökonomischen Status und Habitus beachten muss, bleiben beide Kriterien grundlegend noch sinnvoll, auch wenn sie nur Metaperspektiven angeben, um konkret und vor Ort die Verhältnisse zu befragen und für demokratischere Verhältnisse mit klarer Zielstellung einzutreten.
D. steht vor diesem Hintergrund heute insb. mit der Frage nach der Heterogenität von Lerngruppen und der gesetzlich durch die UN-Behindertenrechtskonvention seit 2009 geregelten Inklusion im Zusammenhang. Dabei wird Heterogenität – also ein Wachstum in Unterschiedlichkeit – zunehmend in pädagogischen Diskursen als eine wesentliche Chance gesehen, um einen besseren Lernerfolg für alle zu erreichen und die Chancengerechtigkeit Schritt für Schritt zu verbessern.
Literatur
K. Reich: Inklusive Didaktik, 2014 • K. Reich: Chancengerechtigkeit und Kapitalformen, 2013 • K. Reich: Inklusion und Bildungsgerechtigkeit, 2012 • J. Hattie: Visible Learning, 2009 • Z. Bauman: Liquid Modernity, 2000 • M. Foucault u. a.: Technologien des Selbst, 1993 • A. Prengel: Pädagogik der Vielfalt, 1993 • J. Dewey: The Middle Works, 15 Bde., 1989 • P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, 1987 • M. Foucault: Dispositive der Macht, 1978.
Empfohlene Zitierweise
K. Reich: Diversität, III. Pädagogik, Version 09.05.2018, 17:32 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Diversit%C3%A4t (abgerufen: 25.11.2024)