Rhetorik
1. Soziale Interaktion durch Persuasion
R. ist eine kommunikative Praxis, die darauf zielt, andere mithilfe von sozial akzeptierten Argumenten zu überzeugen (Persuasion). Sie setzt auf die rationale Einsicht der Adressaten, berücksichtigt aber auch motivationale Aspekte und situative Bedingungen der Kommunikation. Persuasion wird somit als eine komplexe Form sozialer Beeinflussung verstanden. In demokratischen Gesellschaften ist die rhetorisch-kommunikative Aushandlung von politischen Positionen und Aktionen unverzichtbar, weshalb man häufig einen engen Zusammenhang von R. und Demokratie angenommen hat. Rhetorische Kommunikationsverfahren spielen jedoch auch in Diktaturen und nicht demokratisch organisierten Gemeinwesen eine Rolle, in denen rhetorische Techniken manipulativ eingesetzt werden und die emotionale Beeinflussung von Bürgern über das rationale Argument dominiert, auf das sich die R. seit der Antike selbst verpflichtet hat.
Schon der historische Beginn der R. im 5. Jh. v. Chr. lässt die Bedeutung der R. für das Staatswesen erkennen, denn nach Auskunft der antiken Quellen bildet der Zusammenbruch einer Tyrannei auf Sizilien den Hintergrund der Entstehung der R. Als Disziplin wird R. dann im Kontext der Sophistik greifbar und auch innerhalb dieser Ausbildungs- und Aufklärungsbewegung ist die soziale Funktion der R. ein zentrales Thema. In der „Rhetorik“ von Aristoteles, der Persuasion als zentrale Aufgabe der R. definiert, zählt die politische Rede dann neben der juristischen Rede und der Festrede zu den drei zentralen rhetorischen Gattungen.
Laut Aristoteles ist die politische Rede auf die Zukunft bezogen, weil im politischen Kontext im Modus der Rede über zukünftige Entscheidungen und deren mögliche Konsequenzen gesprochen wird. Daraus ergibt sich aber auch, dass die politische Rede zwar auf rationale Überzeugungen ausgerichtet ist, aber nicht auf sicheres Wissen rekurrieren kann. Die Konsequenzen politischer Handlungen lassen sich jeweils nur als Möglichkeiten beschreiben und plausibilisieren. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld, in dem sicheres Wissen entzogen ist, trotzdem aber eine vernünftige Überzeugung Ziel der politischen Rede sein soll. Daher wird in einer Demokratie der Modus der Debatte, in dem mehrere Seiten versuchen, ihre politische Entscheidung bes. gut zu begründen, zu einem zentralen Verfahren politischer Kommunikation. Auch wenn sich die Organisationsformen seit der Antike durch Parteien, Parlamente und die Ausdifferenzierung des juristischen Systems weiterentwickelt haben, sodass moderne repräsentative Demokratien neue Mechanismen der politischen Auseinandersetzung entwickelten, bleibt die Debatte eine zentrale Möglichkeit zur politischen Meinungsbildung, wobei mediale Neuerungen dazu führen, dass der agonale Dialog immer wieder neue Foren findet. Ziel der rhetorischen Kommunikation in einer Demokratie ist, die öffentliche Meinung zu bilden und zu beeinflussen, um politische Ziele zu plausibilisieren und durchzusetzen. Auf diese Weise kann auch längerfristig die Änderung von Wertvorstellungen und Orientierungen einer Gesellschaft gelingen, da politische Positionen i. d. R. das Ergebnis diskursiver Aushandlungsprozesse sind. So definieren Metaphern und frames den Deutungsrahmen politischer Entscheidungen, sind dabei aber selbst einem historischen Veränderungsprozess unterstellt.
2. Rhetorik als Ideologiekritik
Für Hans Blumenberg ist es die Aufgabe der R., Institutionen zu schaffen, wo Evidenzen fehlen. Damit hat auch die politische R. eine anthropologische Fundierung, weil es durch diskursive Mittel gelingt, die Handlungsunsicherheit und damit auch Handlungsfreiheit, die das „Mängelwesen“ (Blumenberg 1981: 105) Mensch auszeichnet, zu bewältigen. Damit ergibt sich eine ideologiekritische Positionierung der R., die nicht nur eine Anleitung zur Produktion von Texten und Reden im politischen Kontext ist, sondern auch ein kritisches Analyseinstrument, mit dem sich die Geltungsansprüche (Geltung), die von politischen Akteuren erhoben werden, überprüfen lassen.
Schon die antiken Sophisten nahmen eine relativistische Position ein, die kulturelle Differenzen als eine soziale Gegebenheit betrachten, die ein Redner erkennen und verstehen muss, um auf der Basis geteilter Überzeugungen zu argumentieren und Positionen weiterzuentwickeln.
In der Gegenwart ist die Auflösung eines gemeinsamen Wertehorizontes in vielen Gesellschaften eine Herausforderung für die R., da Globalisierung, Individualisierung und Diversität den gemeinsamen Handlungsrahmen in einer Gesellschaft aufweichen. Eine gemeinsame Wertebasis ist jedoch eine Voraussetzung für gemeinsames zukunftsorientiertes Handeln in einer Gesellschaft, sodass es zunehmend zur Aufgabe politischer Kommunikation wird, grundlegende Wertorientierungen herzustellen und einen gesellschaftlichen Konsens zu definieren. Persuasion beruht schließlich, wie Kenneth Duva Burke deutlich gemacht hat, auf Identifikationsangeboten, die man Adressaten bereitet, um von einer gemeinsamen Basis aus gemeinsame Kommunikations- und Handlungsziele zu erreichen. Insofern ist R. in einem Gemeinwesen oder Staat immer auch Ausdruck von Identitätsbestimmungen und -zuschreibungen (Identität).
R. kann jederzeit auch zu Zwecken von Manipulation und Propaganda verwendet werden – oder sich in eine populistische Richtung (Populismus) entwickeln, wenn in Anbetracht komplexer Probleme und eines brüchig gewordenen common ground, sehr basale Identifikationsangebote geschaffen werden, die einer rationalen Überprüfung nicht standhalten. Sofern R. nicht persuasiv, sondern rein emotional ausgerichtet ist, kann sie zur Aushöhlung eines demokratischen Gemeinwesens beitragen. In diesem Kontext gilt es dann sehr genau zu überprüfen, wie sich Geltungsansprüche, die von verschiedenen Parteien erhoben werden, eigentlich begründen lassen.
3. Zur Praxis politischer Kommunikation
Schon in der Sophistik ist die Ausbildung kommunikativer Kompetenz ein Ziel der Redelehrer. Von da aus hat sich eine intensive pädagogische Tradition der R. entwickelt, die bei Cicero und v. a. bei Quintilian dann mit der Durchsetzung moralischer Standards verbunden wird. Diese Pädagogisierung der R. setzt sich auch in der christlichen Aneignung der Disziplin fort (z. B. bei Augustinus). Über die septem artes liberales bekommt die R. einen festen Platz in der schulischen Ausbildung und bleibt bis ins 18. Jh. eine maßgebliche Theorie der Textproduktion und der politischen Kommunikation. Nachdem die R. seit dem 18. Jh. zunächst an Einfluss verlor, findet mit der New Rhetoric im 20. Jh. wieder eine intensivere Auseinandersetzung mit der Disziplin statt. Auch die praktische Ausbildung von oral communication skills bleibt in der Zuständigkeit der R., sodass selbst heute noch ein R.-Training zur Ausbildung beinahe jedes Politikers gehört. Damit zeigt sich, wie sehr politisches Handeln nach wie vor auf Rede angewiesen ist. Oft bleiben Trainings- und Weiterbildungsmaßnahmen jedoch auf eine kurzsichtige Verbesserung des rednerischen Auftritts beschränkt, obwohl die rhetorische Aus- und Weiterbildung in einer Demokratie immer eine komplexe Theorie kommunikativer Beeinflussung behandeln sollte, in der Argumentation und Struktur einer Rede genauso Thema sein müssen wie Sprache, die Anpassung an konkrete rhetorische Situationen und die medialen Bedingungen politischer Kommunikation.
Literatur
J. Knape/O. Kramer/D. Till (Hg.): Populisten – Rhetorische Profile, 2019 • J. Knape: Was ist Rhetorik?, 22012 • G. Ueding/B. Steinbrink: Grundriß der Rhetorik, 52011 • O. Kramer: New Rhetoric, in: G. Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, 2003, 259–288 • T. Schirren/T. Zinsmaier (Hg.): Die Sophisten, 2003 • S. K. Foss/C. L. Griffin: Beyond Persuasion. A Proposal for an Invitational Rhetoric, in: Communication Monographs 62/1 (1995), 2–18 • M. F. Quintilianus: Ausbildung des Redners/Institutio oratoria, 2 Bde., 31995 • H. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: ders. (Hg.): Wirklichkeiten, in denen wir leben, 1981, 104–136 • G. Lakoff/M. Johnson: Metaphors We Live By, 1980 • M. T. Cicero: De oratore/Über den Redner, 1976 • K. Burke: A Rhetoric of Motives, 1969 • L. F. Bitzer: The Rhetorical Situation, in: PRh 1/1 (1968), 1–14.
Empfohlene Zitierweise
O. Kramer: Rhetorik, Version 11.11.2020, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Rhetorik (abgerufen: 22.11.2024)