Positivismus
„P.“ ist einerseits eine Selbst- oder Fremdetikettierung für eine Gruppe von philosophie- und soziologiehistorisch fassbaren Positionen, andererseits eine (teilweise unscharfe und positiv/negativ wertende) Charakterisierung gewisser Grundeinstellungen zur wissenschaftlichen Denkweise. Missverständlich können dabei die (widersprüchlichen) werthaften Konnotationen des Ausdrucks sein: „Positiv“ insinuiert einerseits „erfreulich, hilfreich, förderlich, zielführend, fortschrittlich“, andererseits wird der Ausdruck aber teilweise abwertend verwendet; und viele „Positivisten“ wollten Wertfragen (Wert) überhaupt aus der Wissenschaft ausgeklammert wissen. Potentiell irreführend ist weiters, dass „positiv“ einerseits „gesetzt, erzeugt, menschengemacht“ bedeutet (von lateinisch ponere, vgl. „positives Recht“ als das von Menschen gemachte, nicht auf Natur o. ä. gegründete Recht), dass andererseits viele der historisch fassbaren „Positivismen“ aber gerade das menschenunabhängig Vorgegebene, insb. das Beobachtbare als einzige berechtigte Basis der Wissenschaft betonen. Diese Unklarheiten gehen auf die komplexe Wortgeschichte von „positiv“ und die verschiedenen, sich teils aber berührenden historischen Strömungen des P. zurück.
1. Älterer Positivismus
Nach Wurzeln bei Francis Bacon, in der französischen und englischen Aufklärung (David Hume, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert u. a.) und dem Frühsozialisten Claude Henri de Saint-Simon gilt Auguste Comte als Gründer des klassischen P. A. Comte definierte als „positiv“ ein bestimmtes Verständnis von Wissenschaft und ihrem Zweck: Im Gegensatz zu den unsicheren, belanglosen, aber zur Dogmatisierung neigenden metaphysischen und religiösen Spekulationen über Scheinprobleme solle sich Wissenschaft auf das Faktische, an der unbezweifelbaren Beobachtung Überprüfbare und für die Menschheit Nützliche beschränken. Der „positivistische“ Geist zeichne sich durch das Streben nach moralischer Verbesserung der Gesellschaft, Ordnung und Fortschritt aus. A. Comte verband diesen Vorschlag auch mit einer geschichtsphilosophischen (Geschichte, Geschichtsphilosophie) Deutung: Die intellektuelle Entwicklung einer Gesellschaft vollzöge sich gemäß einem Dreistadiengesetz des Übergangs von einem a) theologischen/fiktiven über ein b) metaphysisches/abstraktes in das Ziel eines c) „positiven“/realen Stadiums. A. Comtes spätere Vorschläge para-religiöser positivistischer Feiern und Rituale und einer Kalenderreform wurden kaum ernst genommen, einen gewissen Einfluss hatte A. Comtes P. aber z. B. auf die brasilianische Verfassung von 1891 und die Nationalflagge (Spruchband „Ordem e progresso“). A. Comtes Auffassungen haben u. a. stark auf John Stuart Mill eingewirkt, der zum Hauptvertreter des englischen P. wurde. Eine phänomenalistische Radikalisierung der Erkenntnistheorie des P. vollzog der sog.e Empiriokritizismus von Ernst Mach (und Richard Avenarius: Zweifelsfrei zugänglich seien nur Phänomene, d. h. die unmittelbaren, ungedeuteten Inhalte der Sinneswahrnehmung (etwa jene des eigenen Gesichtsfeldes), während z. B. bereits der Glaube an externe Objekte eine metaphysische Fiktion sei und sich bloßer „Denkökonomie“ verdanke: Er sei einfacher handhabbar als der Glaube an miteinander gekoppelte, verfolgbare Bündel von Sinneswahrnehmungen. Ebenso ist der Glaube an das eigene Ich (als Zentrum der Wahrnehmungen) eine denkökonomische Fiktion.
2. Logischer Positivismus
A. Comte, E. Mach und J. S. Mill hatten einigen Einfluss auf den logischen P. des so genannten „Wiener Kreises“, einer Gruppe von Philosophen, Wissenschaftstheoretikern, Mathematikern, Physikern, Ökonomen u. a., die zwischen 1922 und 1936 in Wien (mit Verbindungen nach Prag, Berlin u. a.) tätig war und später großteils in die USA emigrierte. Das „empiristische Verifikationsprinzip“ des logischen P. sollte kognitiv sinnvolle und sinnlose Aussagen zu unterscheiden gestatten: Sinnvoll seien neben a) logischen Gesetzen nur b) Aussagen, für die eine empirische Verifikationsmethode angebbar ist, sowie c) Konstruktionen aus diesen beiden Aussagentypen, etwa in Gestalt komplexerer empirischer Theorien. Ein Großteil der bisherigen Philosophie wäre damit sinnlos und habe sich mit Scheinproblemen befasst. Zielvorstellung des logischen P. war die Entwicklung und Propagierung einer „wissenschaftlichen Weltauffassung“ auf der Basis einer arbeitsteiligen Einheitswissenschaft, bei der komplexere Wissenschaften schrittweise auf einfachere, letztlich die Physik, reduzierbar sein sollten. U. a. nach der Kritik Karl Poppers (Kritischer Rationalismus) wurde die Uneinlösbarkeit dieses restriktiven Programms (auch innerhalb des logischen P.) erkannt, was u. a. zur Liberalisierung des Verifikationsprinzips zu einem Bestätigbarkeitsprinzip führte: Eine empirische Aussage ist sinnvoll, wenn angebbar ist, welche Beobachtungen sie bestätigen würden. Der logische P. war als Gegenfolie inspirativ für die wissenschaftstheoretischen Entwicklungen des 20. Jh., etwa die Theoriendynamik Thomas Samuel Kuhns und Imre Lakatos’ Theorie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme. Sein Bestreben, jegliche Form von Metaphysik zu überwinden, stand auch in sachlicher und historischer Nähe zum Rechtspositivismus insb. von Hans Kelsen.
Der den älteren und logischen P. prägende Gedanke einer Ablösung metaphysischer bzw. religiöser Denkformen durch wissenschaftliche wirkt bis in die Gegenwart in Debatten um die Säkularisierung nach, insb. bei Gruppierungen zur Zurückdrängung des gesellschaftlichen Einflusses von Kirchen und anderen religiösen Gruppen.
3. Positivismusstreit
In teilweisem Anschluss an den Werturteilsstreit (Werturteil) und den Methodenstreit in der deutschen Soziologie nach 1900 und nach Vorarbeiten von Max Horkheimer entwickelte sich ab 1961 der sog.e P.-Streit zwischen Vertretern der Kritischen Theorie (bes. Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Herbert Marcuse) und des Kritischen Rationalismus (bes. K. Popper, Hans Albert). Kern dieser verebbten, aber im Kern bis heute ungelösten Debatte ist das Selbstverständnis der (bes. Sozial-)Wissenschaften und die Einschätzung der Rolle der Wissenschaft in Bezug auf normative Urteile und gesellschaftliche Interventionen. Dabei zielten kritische Theorie und kritischer Rationalismus (letzterer etwa in seiner Forderung einer „offenen Gesellschaft“) letztlich auf ähnliche Grundwerte wie Gleichheit und die Maximierung individueller Freiheit. Ebenso stand die grundsätzliche Legitimität und Bedeutung menschlicher Setzungen/Übereinkünfte in der Wissenschaft außer Streit: Etwa ist nach K. Popper bereits die Anerkennung empirischer Basissätze Sache (revidierbarer) Übereinkunft der Wissenschaftler, und die Hypothesenbildung erfolgt nicht primär erfahrungsbasiert, sondern ist Sache menschlicher Kreativität. Vom „P.“ im engeren Sinne setzte sich der kritische Rationalismus damit gerade ab, der „P.“-Vorwurf gegen ihn betraf im Kern also anderes: Zum einen K. Poppers Präferenz für empirisch überprüfbares piecemeal social engineering, also kleinteilige, schrittweise Bekämpfung von Missständen analog zu Versuch und Irrtum, statt einer potentiell großräumigen Gesellschaftsveränderung. Diese hätte nach der kritischen Theorie auch die Revision gesellschaftsleitender, herrschender Ideologien („Totalitäten“, T. W. Adorno) vorausgesetzt, bes. jene des Kapitalismus als gesellschaftlich strukturbildenden Prinzips, das über „psychosoziale Agenturen“ (Familie, Autoritäten, herrschende Fachmeinungen, Massenmedien, Massenkultur etc.) auch das individuelle Bewusstsein der Menschen prägt und Unrechtsverhältnisse verfestigt. Zum anderen die Zurückhaltung K. Poppers beim Wissenschaftlichkeitsanspruch in Bezug auf Normbegründungen: Während K. Popper gesellschaftliche Wertungen letztlich als Sache politischer Dezision (Entscheidung) ansah (und u. a. auch die eigene Entscheidung für den kritischen Rationalismus und seine Werte als nicht weiter begründbar erachtete) und die Sozialwissenschaften grundsätzlich ähnlich den Naturwissenschaften konzipierte, sah die kritische Theorie jegliche Wissenschaft immer schon durchsetzt mit Wertungen und anderen philosophischen Voraussetzungen. Das Ziel wissenschaftlicher Bemühungen sei die Beseitigung herrschenden Unrechts und die Begründung verbesserter gesellschaftlicher Praxis; Normbegründung und die Diskussion von Wertfragen sei auf praktisch-wissenschaftlichem Wege also grundsätzlich möglich.
4. Lose Wortverwendungsweisen
Heutige lose Verwendungsweisen des Wortes „P.“, oft zur Diskreditierung anderer Positionen (etwa i. S. v.: problematischer Beschränkung auf deskriptive Fragen ohne Reflexion von Wertaspekten oder gesellschaftlicher Verantwortung, oder: hermeneutisch unhinterfragte Hinnahme der Äußerungen bestimmter Quellen bzw. Erkenntnisautoritäten, etwa auch in Gestalt von „Offenbarungs-P.“ in der Theologie), dürften Ferneffekte der „P.“-Begriffe teils des P.-Streits, teils jenes des Rechts-P. sein.
Literatur
H.-J. Dahms: Positivismusstreit, 42016 • R. Schmidt (Hg.): Rechtspositivismus. Ursprung und Kritik, 2014 • A. Comte: Rede über den Geist des Positivismus, 1994 • J.-G. Blühdorn/C. Jamme: Positiv/Positivität, in: HWPh, Bd. 7, 1989, 1106–1118 • H. Przybylski: Positivismus, in: HWPh, Bd. 7, 1989, 1118–1122 • J. Kahl: Positivismus als Konservatismus, 1976 • A. Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, 1974 • R. Kamitz: Positivismus. Befreiung vom Dogma, 1973 • T. W. Adorno (Hg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969 • H. Kelsen: Reine Rechtslehre, 1934 • O. Neurath/R. Carnap/H. Hahn: Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, 1929.
Empfohlene Zitierweise
W. Löffler: Positivismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Positivismus (abgerufen: 24.11.2024)