Gesetzlicher Richter
1. Allgemeine Bedeutung des Prinzips
Das Prinzip des g.n R.s besagt, dass niemand seinem g.n R. entzogen werden darf. Hieraus folgt, dass in jedem gerichtlich zu entscheidenden Einzelfall kein anderer als derjenige Richter tätig werden und Recht sprechen darf, der in den allgemeinen Normen der Gesetze und gerichtlichen Geschäftsverteilungspläne dafür vorgesehen ist. Das GG hat dieses Prinzip in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verankert.
Mit diesem Kerngehalt verfolgt das Prinzip des g.n R.s sowohl eine formelle als auch eine materielle Zielsetzung: In formeller Hinsicht soll der Gefahr vorgebeugt werden, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird, insb. indem durch die Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter Ergebnis oder Inhalt der Rechtsprechung beeinflusst werden könnte. Der für die Entscheidung zuständige Richter darf folglich nicht einzelfallbezogen, d. h. ad hoc und ad personam ausgewählt werden. Durch dieses Verbot der einzelfallbezogenen Auswahl soll nicht nur die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt, sondern auch das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit sowie in die Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden. Das damit geschichtlich seit jeher zusammenhängende Verbot von Ausnahmegerichten – im GG durch Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG kodifiziert – soll eine Umgehung dieses Prinzips des g.n R.s verhindern und stellt sich insofern als dessen Unterfall dar. Neben dieser rechtsstaatlichen Komponente beinhaltet das Prinzip zudem eine bedeutsame materielle Gewährleistung: Es garantiert, dass der Rechtsuchende vor einem Richter steht, der tatsächlich unabhängig und unparteiisch ist und dementsprechend die Gewähr für Neutralität sowie Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet.
2. Kodifikationsgeschichte des Prinzips
Aufgrund seiner zentralen Bedeutung für ein gewaltengeteiltes, rechtsstaatlich-demokratisches Gemeinwesen blickt das Prinzip des g.n R.s auf eine lange Kodifikationsgeschichte zurück: So enthielt bereits Titel III Kap. V Art. 4 der französischen Verfassung von 1791 entsprechende Regelungen. In Deutschland untersagte es Abschnitt VI Art. X § 175 der (allerdings nicht in Kraft getretenen) Paulskirchenverfassung von 1849, seinem g.n R. entzogen zu werden und erklärte Ausnahmegerichte für unzulässig. Zudem fanden sich derartige Regelungen in den meisten deutschen Landesverfassungen des 19. Jh., nicht aber in der Reichsverfassung von 1871 – auf Reichsebene beließ man es bei dem noch heute gültigen § 16 GVG. Art. 105 S. 1 und 2 WRV (1919) setzte diesen Kodifikationsprozess fort und begründete erstmalig auch für das Reich eine verfassungsrechtliche Gewährleistung. Mit Art. 101 Abs. 1 GG übernahmen die Schöpfer des GG diese Bestimmungen nahezu wortgleich; entsprechende Regelungen finden sich zudem in einigen Landesverfassungen (z. B. Art. 86 Abs. 1 S. 2 BayVerf).
Obschon in den Verfassungstraditionen vieler EU-Mitgliedstaaten das Prinzip des g.n R.s nicht so stark ausgeprägt ist wie in Deutschland, statuiert nunmehr auch Art. 47 Abs. 2 EuGRC eine dahingehende Gewährleistung („Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem […] zuvor durch Gesetz errichteten Gericht […] verhandelt wird.“). Diese Regelung hinwiederum geht auf Vorbilder in Art. 14 Abs. 1 S. 2 IPbpR und Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zurück.
3. Wesentlicher Gehalt des Prinzips
Das in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG als Grundrecht kodifizierte Prinzip des g.n R.s schützt nicht nur vor legislativen und exekutiven Beeinträchtigungen der Gerichtsorganisation „von außen“, sondern auch vor judikativen Manipulationen „von innen“.
Für die Legislative beinhaltet das Prinzip zunächst die (negative) Aussage, dass niemand durch eine einzelfallbezogene gesetzgeberische Maßnahme seinem Richter entzogen werden darf. Zugleich verbürgt es einen (positiven) Anspruch auf die gesetzliche Determination des Richters: So setzt das Prinzip einen Bestand von Rechtssätzen voraus, der im Grundsatz für jeden denkbaren Streitfall im Vorhinein den für die Entscheidung zuständigen Richter bezeichnet. Diese abstrakt-generellen Festlegungen sind primär durch den parlamentarischen (Bundes-)Gesetzgeber zu treffen. Insb. hat er die fundamentalen Zuständigkeitsregeln zu normieren, muss also durch seine Prozessordnungen bestimmen, welche Gerichte mit welchen Spruchkörpern (Einzelrichter, Kammern, Senate etc.) für welche Verfahren sachlich, örtlich und instanziell zuständig sind. Ergänzt werden diese Bestimmungen, nach Maßgabe der Gesetze, durch Geschäftsverteilungspläne der Gerichte (§ 21e GVG), in denen v. a. die konkreten Zuständigkeiten der jeweiligen Spruchkörper und ihrer Richter bzw. Vertretungsrichter festzulegen sind.
Der Exekutive untersagt das Prinzip des g.n R.s, dort für den Bürger verbindliche Entscheidungen zu treffen, wo die Zuständigkeit eines Richters gesetzlich begründet ist. Die Exekutive kann dieses Prinzip zudem durch Eingriffe in die gesetzliche Zuständigkeitsverteilung beeinträchtigen. Obschon eine derartige exekutive Einflussnahme heute eher selten ist, äußert sie sich nichtsdestotrotz in der Einrichtung oder Auflösung von Spruchkörpern, in der Festlegung von Gerichtsbezirken oder in der Wahl bzw. Ernennung von Richtern. Allerdings finden solche Einflussnahmemöglichkeiten ihre Rechtfertigung entweder in einer parlamentsgesetzlichen Verordnungsermächtigung (z. B. zur Festlegung von Gerichtsbezirken) oder beruhen auf verfassungsunmittelbaren Anordnungen (wie die Wahl der Richter nach Art. 94 Abs. 1 und Art. 95 Abs. 2 GG).
Zwar schützte das Prinzip des g.n R.s ursprünglich die Unabhängigkeit der Justiz vor einzelfallbezogenen Eingriffen der Legislative und Exekutive. Für Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erweiterte das BVerfG dessen Gewährleistungsgehalt allerdings schnell auch auf Akte der Judikative. Neben den vorstehend bereits erwähnten positiven Vorgaben für die Legislative handelt es sich bei dieser Schutzrichtung mittlerweile um den bedeutendsten Anwendungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Der Entzug des g.n R.s kann dabei entweder auf einer fehlerhaften Handhabung gesetzlicher oder sonstiger Zuständigkeits- bzw. Verfahrensvorschriften beruhen – etwa in Gestalt einer Abweichung vom gerichtlichen Geschäftsverteilungsplan, der Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen Richters, der fehlerhaften Behandlung eines Befangenheitsgesuchs oder der gebotenen, aber unterbliebenen Vorlage eines Rechtsstreits an den EuGH (Art. 267 AEUV). Das BVerfG beschränkt sich insoweit jedoch auf eine Willkürkontrolle der angewandten Zuständigkeits- und Verfahrensnormen, um als Verfassungsgericht nicht in die Rolle eines prozessrechtlichen Revisionsgerichts gedrängt zu werden. Zudem können rechtswidrige gerichtsinterne Organisationsakte (z. B. fehlerhaft erstellte Geschäftsverteilungspläne) einen Verstoß gegen das Prinzip des g.n R.s zur Folge haben.
Literatur
D. Wolff: Willkür und Offensichtlichkeit. Die verfassungsgerichtliche Prüfung einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG i. V. m. Art. 267 Abs. 3 AEUV, in: AöR 141/1 (2016), 40–105 • R. Müller-Terpitz: Art. 101 GG, in: B. Schmidt-Bleibtreu/H. Hofmann/H.-G. Henneke (Hg.): GG. Kommentar zum Grundgesetz, 2014, 2479–2496 • G. Britz: Verfassungsrechtliche Effektuierung des Vorabentscheidungsverfahrens, in: NJW 65/19 (2012), 1313–1317 • M. Bäcker: Altes und Neues zum EuGH als gesetzlichem Richter, in: NJW 64/5 (2011), 270–272 • D. Remus: Präsidialverfassung und gesetzlicher Richter, 2008 • U. Müßig: Gesetzlicher Richter ohne Rechtsstaat?, 2007 • M. Düwel: Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts bei Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen, 2000 • E. Kern: Der gesetzliche Richter, 1927.
Empfohlene Zitierweise
R. Müller-Terpitz: Gesetzlicher Richter, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gesetzlicher_Richter (abgerufen: 21.11.2024)