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1. Begriffliche Reichweite

G. ist in der Alltags- wie in der sozialwissenschaftlichen Fachsprache eine Sammelbezeichnung für ganz unterschiedliche soziale Beziehungen geworden, aber auch für Kollektive, (statistische) Aggregate bzw. Sozialkategorien, d. h. auch für Personen, die keine Kontakte zueinander, aber gemeinsame Merkmale haben. Dabei kann der Umfang von G.n von der kleinsten sozialen Einheit (Paar, Dyade) über größere Abstammungs- oder Verwandtschaftssozietäten (Sippe, Clan), digitale Netzwerke (Freundschafts-G.n auf Facebook) und organisierte Zusammenschlüsse (Interessengruppen, Verbände, Parteien u. a.), letztere auch Sekundär-G.n (im Gegensatz zu den bes. biographie- und sozialisationsrelevanten Primär-G.n) genannt, bis hin zu Ständen, Klassen, Volk, Nation und Gesamtgesellschaft reichen. „Manchmal wird sogar als Gruppe die Gesamtheit der Menschen bezeichnet“, so Theodor Geiger (Geiger: 1982: 44). Auch als Kompositum anderer fachwissenschaftlicher Begriffe findet G. Verwendung: z. B. Eigen-G. v Fremd-G., Rand-G., Status-G., Orientierungs-G. bzw. Bezugs-G.

2. Gruppe als Mikrobeziehung

Prägnanz gewinnt der Begriff der G., wenn er – wie in der neueren Soziologie – idealtypisch als Sozialform eigener Art auf soziale Mikrobeziehungen („Klein-G.“) bezogen wird: als Kommunikations- und Handlungszusammenhang einer subjektiv überschaubaren Teilnehmerschaft, deren stark personenbezogenes Mit- und Gegeneinander auf wiederholten, insofern relativ beständigen und nicht nur passageren Face-to-Face-Interaktionen beruht, darüber ein Gefühl der Zusammengehörigkeit generiert, aber auch Grenzen der Zugehörigkeit markiert, doch – im Unterschied zu Organisationen oder Teams – keine spezifischen Zwecke, speziellen gesatzten (Verfahrens-)Ordnungen, ausdifferenzierten und verfestigten Positionen, Rollen- und Statusunterschiede kennt. Die Verschränkung dieser somit genannten vier Grundmerkmale des Mit- und Gegeneinanders: Personalität (statt Anonymität), Unmittelbarkeit (statt Indirektheit), Dauerhaftigkeit (statt Flüchtigkeit), Diffusität (statt Spezifizität) macht die strukturelle Eigentümlichkeit und die spezielle Prozess- und Konfliktdynamik (G.n-Dynamik) innerhalb von G.n und zwischen ihnen aus, aber auch die Stärken wie Schwächen ihrer Attraktivität (G.n-Valenz, G.n-Kohäsion), ihres Einflusses auf Einzelpersonen (G.n-Druck), ihrer Leistungskraft (G.n-Effektivität) und ihrer Stabilität (G.n- oder Wir-Bewusstsein). Damit wird der Begriff der G. qualitativ bestimmt. Dem Idealtyp der G. nahekommende reale Beispiele sind Stammtische, Hauskreise, Gangs, Rockerbanden, Cliquen, Kaffeekränzchen, Wohngemeinschaften, Freundschaften, Liebespaare. Geht man von der – quantitativen wie qualitativen – Besonderheit von Dyaden aus, wie sie schon Georg Simmel herausgearbeitet hat, setzen G.n als unterste quantitative Grenze mindestens triadische Beziehungen voraus, die aber auch ihrerseits spezielle Eigendynamiken entfalten können. Schon T. Geiger zufolge ist das Paargebilde von der G. begrifflich zu unterscheiden. Eine quantitativ bestimmte Obergrenze lässt sich nicht exakt benennen, qualitativ liegt sie da, wo die Unmittelbarkeit der Beziehungen nicht mehr erlebt, der kommunikative Zugang zu jedem anderen, das „Jede(r)-kennt-jede(n)“, nicht mehr praktiziert werden kann.

3. Gruppe besonderer Art

G.n besonderer Art sind, weil hochgradig institutionalisiert, Familien, weil digitalisiert, diverse Online-Communities und Chat- oder Messenger-G.n im Internet. Letztere ergänzen das vielfältige Spektrum von lokalen, auf leibhaftiger Anwesenheit basierenden G.n um überlokale, ja transnationale G.n-Bildungen, können aber die Merkmale der Personalität und der Unmittelbarkeit nur unzureichend sicherzustellen, da die Interaktion mithilfe einer sogenannten Plattform (z. B. Facebook) zustande kommt. Webcam-Chats oder Videokonferenzen sollen das Fehlen des direkten Face-to-Face-Kontaktes ausgleichen, vermögen allerdings nicht alle Sinne zu erreichen. Auch Smileys und andere Emoticons oder Ideogramme können die Abwesenheit von interpretierbarer Körpersprache und Mimik nur unzureichend ersetzen. Das Merkmal der Dauerhaftigkeit scheint in digitalen G.n schwächer ausgeprägt zu sein, sofern in solchen G.n die Bereitschaft zum „exit“ relativ hoch ist. Allerdings ging es schon den ersten G.n im Internet in den 1960er Jahren auch um die persönliche Verbundenheit zwischen den Nutzern. Online-Communitys vermögen die gleichen Funktionen zu erfüllen wie die, welche auch anderen G.n zugeschrieben werden: personale Anerkennung und emotionale Involvierung, Selbstdarstellung, soziale Zugehörigkeit wie Zusammengehörigkeit und Identitätsförderung. Auch zeigen solche G.n häufig eine starke Vernetzung mit der Offline-Welt. Allerdings lassen sich auch digitale G.n von „Online-Aktivisten“ ausmachen, die ausschließlich gemeinsame Aktionen im Internet als subkultureller „Gegenpol zum kapitalistisch orientierten Umfeld“ konzertieren und sich für „die Zirkulation freier Information und alternativer Darstellungen“ (Warns 2012) engagieren.

4. Gruppe zwischen Organisationen und Interaktionen

Um ihren Zwecken Rechnung zu tragen, lassen Organisationen informelle G.n in begrenztem Ausmaß zu und können auch artifiziell G.n-Bildungen herbeiführen. Damit reduzieren sie – in unterschiedlichem Grad – deren Diffusität (organisierte G.n; formelle G.n; instrumentelle G.n) und sind herausgefordert, die durch die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung der Interaktionspartner freigesetzten „positiven“ wie „negativen“ Gefühle (Sympathie, Antipathie, Liebe, Treue, Hass, Indifferenz, Neid, Eifersucht, Missgunst, Ressentiment) unter Kontrolle zu bringen. Auch in G.n außerhalb von organisationalen Kontexten ist die Steuerung durch Gefühle und der Gefühle eine zentrale Herausforderung für den Zusammenhalt. Als Kontrapunkt gegen gesamtgesellschaftliche Entheimatungs- und bürokratische wie professionelle Anonymisierungstendenzen und gegen die Liberalisierung von identitätsstiftenden Primär- und Intim-G.n hat die Sozialform der G. auch wohlfahrtspolitisch etwa in Gestalt von Selbsthilfe-G.n und von G.n-Psychotherapie eine Aufwertung erfahren und gehört heute zur Infrastruktur des Wohlfahrtssektors.

Das Merkmal der Unmittelbarkeit der Sozialbeziehungen teilt die G. mit anderen Sozialformen, die seit Erving Goffman als Begegnungen (Encounters), in der Systemtheorie Niklas Luhmanns auch einfache Sozialsysteme oder lose Interaktionszusammenhänge genannt werden. Patienten in Wartezimmern, Passagiere im Zugabteil, Gaffende an der Unfallstelle, Flanierende in den Einkaufspassagen, Migranten am Schalter der Erstanlaufstelle sind Beispiele dafür, was in der älteren Soziologie auch situative Gruppierung hieß. Deren Verstetigung zur G. kann erfolgen, muss aber nicht und bleibt zumeist aus. Die G. gewinnt Identität und Bestand erst „oberhalb ihrer einzelnen Begegnungen und Treffs; sie ‚überlebt‘ es, wenn die Mitglieder jeweils auseinandergehen“ (Tyrell 2008: 51). Experimentell hergestellt, werden Interaktionsabläufe mehr oder weniger systematisch oder ad hoc zusammengestellter Teilnehmer häufig (in der Psychologie) bereits als G. bezeichnet, obwohl ihre Perennierung nicht vorgesehen ist. Damit gerät ein zentrales Merkmal von G. nicht in den Blick, was sie einerseits mit Organisationen teilt, gegen deren Mechanismen zur zweckspezifischen Ausrichtung und sachzentrierten Disziplinierung von Sozialbeziehungen sie sich andererseits zugunsten thematisch offener, persönlich gefärbter und als persönlich erlebbarer Sozialbeziehungen eigener Art und eigenen Rechts abgrenzt.