Soziale Frage

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Wie die „nationale Frage“ gehörte auch die „s. F.“ zu den großen Themen des 19. Jh. in Deutschland. Die Antwort auf die „nationale Frage“ lag in der Gründung des Nationalstaats, diejenige auf die „s. F.“ in der Errichtung des deutschen Sozialstaats. Seit dem Übergang von der ständisch verfassten Agrargesellschaft zur bürgerlichen Markt- und Industriegesellschaft war dem eine lange Diskussion über die sozialen Nöte und Konfliktlagen der in einem grundlegenden Transformationsprozess begriffenen deutschen Gesellschaft vorausgegangen. In deren Rahmen umschrieb der Sammelbegriff der „s.n F.“ die zutiefst beunruhigenden Erscheinungsformen von Massenarmut, Existenzunsicherheit und Klassenkonflikt, die in Deutschland und Europa in Folge der Auflösung der überkommenen vorindustriellen Gesellschaftsordnung und der damit verbundenen sozialstrukturellen Wandlungsprozesse beobachtet wurden. Bereits 1848 rief der Arbeiterführer Stephan Born aus: „Die sociale Frage! Es giebt wohl keine andere, in der neuern Zeit aufgetauchte, welche die Köpfe so vieler Menschen in Anspruch genommen, und die so verschiedenartige Beantwortungen und Beantwortungsversuche hervorgerufen“ (zit. n. Pöls 1988: 276). Der dem Französischen entlehnte Begriff begann sich in Deutschland ab den 1840er Jahren einzubürgern und war auch in den Debatten vieler anderer europäischer Länder gegenwärtig.

Ehe die „s. F.“ seit der Jahrhundertmitte zu einem Zentralthema der öffentlichen Debatten wurde, war die Massenarmut unter dem Begriff des „Pauperismus“ diskutiert worden. Er umschrieb das Herabsinken weiter Kreise der Unterschichten in einen Zirkel von materieller Armut, ständiger Existenzunsicherheit, wiederkehrenden Phasen der Arbeitslosigkeit, verbunden mit verbreiteten Verelendungserscheinungen wie Hunger und Mangelernährung, Kinderarbeit, überlangen Arbeitszeiten, erbärmlichen Wohnverhältnissen und schweren gesundheitlichen Gefährdungen. Der „Brockhaus“ von 1846 befand: „Pauperismus ist da vorhanden, wo eine zahlreiche Volksklasse sich durch die angestrengteste Arbeit höchstens das notdürftigste Auskommen verdienen kann, auch dessen nicht sicher ist, […] keine Aussicht der Besserung hat, darüber immer tiefer in Stumpfsinn und Rohheit versinkt […] und dabei immer noch sich in reißender Schnelligkeit ergänzt und vermehrt“ (zit. n. Fischer 1982: 62). Als bedrohlich erschien das Anwachsen der „Paupers“ auch deshalb, weil die triste Lage der aus ihren vormaligen ständischen Bindungen (Stand) gelösten Elendsgruppen einen Nährboden für jene politischen (sozialistischen und kommunistischen) Bewegungen entstehen zu lassen schien, die gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung aufbegehrten.

Zeitgenössische Beobachter begriffen den Pauperismus vielfach als Folge der Frühindustrialisierung und brachten die massenhafte Armut ursächlich mit der sich ausweitenden Fabrikarbeit und dem Entstehen eines Industrieproletariats in Verbindung (z. B. „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ [Engels 1845]). Hingegen führte eine andere Sicht auf den Pauperismus die Massenverelendung umgekehrt – und weit zutreffender – darauf zurück, dass die von den alten ständischen Bindungen soeben erst freigesetzten Wirtschaftskräfte noch nicht imstande waren, den Erwerbs- und Nahrungsspielraum zu schaffen, um den wachsenden Druck eines beschleunigten Bevölkerungsanstiegs ausgleichen zu können. Waren die Krisenerscheinungen in der ersten Deutungsperspektive eine Konsequenz der Ausbreitung von Fabrikindustrie und Industrieproletariat, galten sie in der zweiten, ganz im Gegenteil, als Folge einer noch nicht weit genug vorangeschrittenen Industrialisierung. Seit Mitte des Jh., mit dem Aufstieg des Industriekapitalismus (Kapitalismus), verschwand der Begriff des Pauperismus allmählich aus den Debatten. Mit der stattdessen nun diskutierten „s.n F.“ verschoben sich die Problemperspektiven.

In einer früheren Phase der deutschen Debatten hatten die Freisetzung und Verarmung von landwirtschaftlichen Erwerbsschichten in Folge der Bauernbefreiung, die tendenzielle Überbelegung einzelner Handwerkszweige und die Existenznöte vieler kleiner Handwerksbetriebe (Handwerk), schließlich auch das dürftige Dasein der protoindustriellen Hausindustrie und des Heimgewerbes zu dem krisenhaften Gesamtkomplex der Notlagen und Missstände gezählt, welche die „s. F.“ umschloss. Mit Durchbruch der Industriellen Revolution (Industrialisierung, Industrielle Revolution) und Ausweitung der Fabrikproduktion traten nun die prekären Existenzbedingungen des neu im Entstehen begriffenen Proletariats der Fabrikarbeiter als beherrschende soziale Problemlage in den Mittelpunkt. Zum zentralen gesellschaftlichen Antagonismus entwickelte sich damit, bereits 1842 von Lorenz von Stein scharfsichtig analysiert, der Konflikt zwischen Kapital und Lohnarbeit. Dass die menschliche Arbeitskraft dem Marktprinzip unterworfen, als Lohnarbeit in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis vom „Fabrikherrn“ gebracht, von anderen sozialen Bindungen gelöst, tendenziell als Ware behandelt und oft bedenkenlos ausgebeutet wurde, begriffen viele zeitgenössische Beobachter als Kern der „s.n F.“ – nicht nur die Sozialisten in ihren unterschiedlichen Strömungen, sondern auch konservative und konfessionelle Sozialpolitiker. Hier handelte es sich nicht mehr um ein Armutsproblem im vorindustriellen Verständnis, sondern um eine strukturelle Frage der industriekapitalistischen Gesellschaftsordnung: um die kollektiven Interessenkonflikte zwischen „Klassen“. Armen- und Arbeiterfrage traten zunehmend auseinander.

Die „s. F.“ war eine in hohem Maße politische Frage. Sie problematisierte gesellschaftliche Umstände, die nicht als unveränderlich angesehen wurden. Es allein den Selbststeuerungskräften des Marktes überlassen zu wollen, gesellschaftliche Verhältnisse hervorzubringen, die als sozial gerecht angesehen werden konnten, hielt eine wachsende Zahl von zeitgenössischen Beobachtern nicht für angängig. Die Antworten auf die „s. F.“ enthielten allerdings einen Handlungsauftrag an Staat oder Gesellschaft, der je nach politisch-weltanschaulichem Standort sehr unterschiedlich ausfallen konnte. Dort, wo die Lösung nicht wie bei den Sozialisten (Sozialismus) in einer „sozialen Revolution“ gesehen wurde, wurde zunehmend auf „soziale Reformen“ (Sozialreform) gedrängt. So machten zahlreiche Vertreter der jüngeren „historischen Schule“ der Nationalökonomie (Historismus in der Wirtschaftswissenschaft) im letzten Drittel des Jh. die „s. F.“ zum Gegenstand ihrer Gelehrtenpolitik. 1873 sammelten sie sich im Verein für Socialpolitik (Kathedersozialisten), um gegen den doktrinären Wirtschaftsliberalismus (Liberalismus) Front zu machen. Sie propagierten in jenem Jahrzehnt Koalitionsrecht, Arbeiterschutz, Fabrikinspektion, freiwillige Versicherungskassen sowie Schiedsgerichte und Einigungsämter als Lösungsinstrumente. Katholischen Autoren hatten dagegen zunächst eine Restituierung ständisch-korporativer Ordnungsvorstellungen sowie sittliche Missionierung und religiöse Erneuerung der Unterschichten aus dem Geist des Christentums vor Augen gestanden (Katholische Soziallehre). Seit den späten Schriften des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler wurde die Lösung der „s.n F.“ unter katholischen Sozialreformern indes verstärkt auf dem Boden der bestehenden industriekapitalistischen Gesellschaftsordnung gesucht. W. E. von Kettelers Vorschläge zielten Ende der 1860er Jahre u. a. auf die Errichtung von Produktivassoziationen, auf einen Katalog von Arbeitsschutzmaßnahmen und auf die Anerkennung des Koalitions- und Streikrechts. Liberale Sozialreformer wiederum sahen in Bildung, Genossenschaftsgründungen (Genossenschaften), freien Assoziationen und Unterstützungskassen das Gebot der Stunde: Nicht Staatshilfe, sondern Hilfe zur Selbsthilfe lautete ihre Forderung. Konservative Sozialreformer wie Hermann Wagener wiederum setzten zunehmend auf die soziale Intervention des Staates, auf ein über den Klasseninteressen erhabenes „Königtum der sozialen Reform“ (von Stein 1850: 41).

Mit dem kontinuierlichen Anwachsen der Zahl der industriellen Lohnarbeiter, der Gründung sozialdemokratischer Arbeiterparteien 1863 und 1869 und ihrem Zusammenschluss zur „Sozialistischen Arbeiterpartei“ 1875 (SPD; Arbeiterbewegung) hatte sich der Bedeutungsgehalt der „s.n F.“ in der öffentlichen Wahrnehmung so immer mehr auf die „Arbeiterfrage“ verengt. Zur Diskussion stand, wie die gewerbliche Arbeiterschaft vor den Wechselfällen des Lebens geschützt und zugleich so weit gesellschaftlich integriert werden konnte, dass ihre politische Radikalisierung verhindert wurde. Die epochemachende Antwort, die in Deutschland auf diese Frage gegeben wurde, lag in der Errichtung der gesetzlichen Arbeiterversicherung in den 1880er Jahren, dem Schutz vor den sozialen Risiken der Erwerbsunfähigkeit aufgrund von Krankheit (Krankenversicherung), Arbeitsunfällen (Unfallversicherung), Invalidität und Alter (Rentenversicherung) – zunächst v. a. für die gewerbliche Arbeiterschaft, bald aber auch für andere Gruppen von Lohnabhängigen und Gehaltsempfängern.

Als Kristallisationspunkt der öffentlichen Debatten hatte der Begriff der „s.n F.“ v. a. im 19. Jh. fungiert; im sozialpolitischen Vokabular des 20. Jh. verlor er zunehmend an Stellenwert, auch wenn dies nicht hieß, dass damit die „s. F.“, verstanden als Konflikt zwischen Kapital und Arbeit und als Problem der Existenzunsicherheiten des Arbeiterlebens, aus der Welt geschafft gewesen wäre. Von Zeit zu Zeit wurde der Begriff in neuen Kontexten revitalisiert und mit veränderten Bedeutungsgehalten gefüllt, sei es, weil neue soziale Probleme identifiziert, neue Lösungsansätze propagiert oder neue Zielgruppen ausgemacht wurden. So hatte Ludwig Erhard als Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung von 1963 für das 20. Jh. die Bildungsfrage in den Rang der s.n F. gehoben; Gerhard Schröder nannte vier Jahrzehnte später die Bildung dann die s. F. des 21. Jh. Ein Comeback erlebte der Begriff v. a., als Heiner Geißler 1976 eine breite öffentliche Debatte über die „Neue S. F.“ anstieß. Indem H. Geißler die „Neue“ gegen die „Alte S. F.“ setzte und an die Stelle des überkommenen Antagonismus von Kapital und Arbeit den Konflikt zwischen „organisierten“ und „nicht-organisierten“ Interessen rückte, problematisierte er zugleich die Fixierung der Sozialpolitik auf die Erwerbsarbeit und den privilegierten Status der Arbeitnehmer im deutschen Sozialstaat. H. Geißler wollte die Aufmerksamkeit auf bisher vernachlässigte Gruppen wie Frauen, Alte und Kinder in einkommensschwachen Familien lenken – die „Nicht-Organisierten“ und „Nichtproduzenten“ als die „Unterprivilegierten“ des Sozialstaats (Geißler 1976: 16). Auch diese Debatte ebbte bald wieder ab. Weiterhin jedoch wurde in wiederkehrenden Abständen eine „neue s. F.“ ausgerufen (etwa mit Blick auf die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die Migrationsfrage [ Migration ], die Wohnungsnot), ohne dass sich ein einheitliches Bedeutungsfeld etablieren und ohne dass sich das Signalwort „s. F.“ erneut zum Kristallisationspunkt der sozialpolitischen Debatten entwickeln konnte.