Syndikalismus

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1. Ideen

S., auch Anarcho-S., ist eine sozialistische Gewerkschaftsbewegung. Sein Ziel ist eine klassenlose Gesellschaft auf der Basis freier Individuen in einer föderalistischen Gesellschaftsstruktur ohne Staat. Als Kulturideal hebt der S. anstelle des Konkurrenzprinzips die gegenseitige Hilfe hervor. Aus dieser Zielsetzung leitet der S. seine Methoden ab. Dazu zählen klassenkämpferische Elemente und die direkte Demokratie. Diese äußert sich auf Funktionärsebene durch freie Wahlen, imperatives Mandat, Rechenschaftspflicht, Rotation und die Möglichkeit, die Funktionsträger jederzeit abwählen zu können. Bei der Entscheidungsfindung wird das Konsensprinzip (Konsens) angestrebt. Dem syndikalistischen Ideal zufolge regiert sich die Bevölkerung in Eigenverantwortung ohne Bevormundung durch nichtautorisierte Instanzen, einschließlich staatlicher Regierungen und Kirchenorgane.

Historisch betrachtet verfolgt der S. die Kerngedanken der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Im Gegensatz zu autoritären marxistischen Strömungen (Marxismus) innerhalb der Arbeiterbewegung gewichtet der S. diese Maximen gleichwertig. Daraus folgte die Weltanschauung des Kommunistischen Anarchismus (Anarchie), die Ende des 19. Jh. vom russischen Philosophen und Anarchisten Pjotr A. Kropotkin formuliert wurde. Ein Höchstmaß an Partizipation wird den Individuen auf ökonomischer, politischer und kultureller Ebene zugestanden. Zusammenschlüsse bedürfen keiner autoritären Zentrale, sondern gründen sich auf das Prinzip der Freien Vereinbarung und im Vertrauen auf die schöpferischen Kräfte ihrer Mitglieder. Das Prinzip des Föderalismus geht auf den französischen Ökonomen und Philosophen Pierre-Joseph Proudhon zurück. Antiautoritäre Aspekte entnahm der S. den Schriften des russischen Sozialrevolutionärs und Anarchisten Michail Bakunin. In Erziehungsfragen kamen die Ideen des spanischen Pädagogen Francisco Ferrer zur Geltung, dem Gründer der von Staat und Kirchen unabhängigen Freien Schulen. Der bedeutendste Ideengeber des S. im 20. Jh. war Rudolf Rocker, Verfasser der „Prinzipienerklärung des Syndikalismus“ (1920).

2. Geschichte

Das Selbstverständnis des S. als Gewerkschaftsbewegung wurde im Wesentlichen aus Frankreich beeinflusst, und zwar vom Konzept der Arbeiterbörsen (Bourses du Travail), als deren Theoretiker Fernand Pelloutier gilt. Ursprünglich bildeten sie in den Arbeitermilieus die Treffpunkte zur Vermittlung von Stellen. Nach dem Anwachsen des S. zu einer Massenbewegung vereinigten sich in ihnen die lokalen syndikalistischen Berufsgewerkschaften und traten in Austausch mit den Konsumvereinigungen am Ort. Die Arbeiterbörsen erlangten zunehmende Bedeutung über wirtschaftliche Fragen hinaus, gemäß dem Anspruch als Beratungs- und Entscheidungsorgan sämtlicher örtlicher syndikalistischer Organisationen in allen öffentlichen Angelegenheiten. Die Arbeiterbörse als kommunales politisches Verwaltungsorgan wurde als Schule der Selbstverwaltung für die postrevolutionäre Gesellschaft durch die Gewerkschaften und Genossenschaften begriffen. Das Netzwerk lokaler, regionaler und überregionaler Arbeiterbörsen sollte schließlich den Staat ersetzen. Ein Höhepunkt syndikalistischer Aktivität war der Generalstreik, der die soziale Revolution und die Übernahme der Betriebe durch die Arbeiterschaft einleiten sollte. Weitreichende Gedanken dazu finden sich in den Schriften von Siegfried Nacht. Er prägte diesbezüglich den Begriff der „Direkten Aktion“ (1906). Darunter fallen Maßnahmen wie Streiks, Boykotts und Sabotage als Gegenstück zu sozialpartnerschaftlichen Methoden der Gewerkschaftspolitik (Sozialpartnerschaft). Arbeiter- und Konsumräte treten an die Stelle politischer Parlamente.

Wenngleich der S. den Staat als politische Organisationsform nicht anerkennt, zwingen ihn die realen Machtverhältnisse in einigen Ländern dazu, Konzessionen einzugehen mit Zugeständnissen an sozialpartnerschaftliche Modelle. So schließen syndikalistische Gewerkschaften Tarifverträge ab, beteiligen sich an gesetzlichen Betriebsräten oder partizipieren am staatlichen Rentensystem. In Spanien stellte die zwei Mio. Mitglieder starke syndikalistische Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo 1936/37 Minister für die staatliche Regierung, darunter mit Federica Montseny eine erste Frau auf einem Ministerposten.

Keine Kompromisse macht der S. in seiner Frontstellung zu Militarismus und Religion. Beide beurteilt er als Faktoren für gravierende geistige Einschränkungen, die dem rationalen Denk- und Urteilsvermögen des Individuums und seiner Schöpferkraft entgegenstünden. Das persönliche Verantwortungsbewusstsein werde durch das Prinzip des Befehlens und Gehorchens untergraben und dadurch die Methode des Klassenkampfes und das Ziel einer solidarischen und selbstverwalteten Gesellschaft erschwert. Der S. tritt für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein und schuf neben der Gewerkschaftsbewegung eigene Frauenorganisationen. Weitere Organisationen entstanden bspw. in den Bereichen des Freidenkertums, der Sexualaufklärung, der Jugendbewegung, des Arbeitersports, der Büchergilden, der Genossenschaften, der Sängerbewegung und der Sozialfürsorge.

Verbreitung fand der S. vor allem in den romanischsprachigen Ländern Europas und Südamerikas von etwa 1900 bis 1930. Er war Hauptakteur in der Spanischen Revolution von 1936 und stellte die stärkste Strömung innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegungen nicht nur dort, sondern auch in Portugal und in Argentinien. Die im Jahre 1922 in Berlin gegründete syndikalistische Internationale Arbeiter-Assoziation umfasste in den 1920er Jahren mehrere Mio. Mitglieder in über 20 Staaten. In Deutschland hatte die Sektion mit dem Namen Freie Arbeiter-Union Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg über 100 000 Anhänger. Der S. wurde in den 1920er/30er Jahren durch die aufkommenden Diktaturen weitgehend zerschlagen. Seit den 1950er Jahren ist er lediglich in Spanien und Schweden ein politisch relevanter Faktor.