Völkerstrafrecht

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1. Begriff

Das V. umfasst alle Normen des Völkerrechts, welche unmittelbar, d. h. unabhängig vom Bestehen einer entsprechenden Norm im innerstaatlichen Recht, Strafbarkeit begründen, ausschließen oder in anderer Weise regeln. Das V. basiert auf einer Vielzahl unterschiedlicher Rechtsquellen. Eine Leitfunktion kommt dem „Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes“ (IStGH-Statut) zu, dessen Bestimmungen ungeachtet des Charakters des Statuts als völkerrechtlicher Vertrag in weiten Teilen Völkergewohnheitsrecht (Gewohnheitsrecht) verkörpern. Flankiert wird das materielle V. durch die Verfahrensordnungen der (internationalen) Strafgerichte, aus denen sich freilich bislang kein Korpus eines einheitlichen Völkerstrafverfahrensrechtes entwickelt hat.

Systematisch bildet das V. – neben dem Europäischen Strafrecht, dem Strafanwendungsrecht, dem Recht der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie dem Transnationalen Strafrecht – einen Teil des Internationalen Strafrechts. Entstehungsgeschichtlich eng verbunden ist das V. mit den Menschenrechten, die zugleich Grund und Grenze des V.s bilden. Nach Adressat und Rechtsfolge strikt zu unterscheiden ist das V. vom Recht der Staatenverantwortlichkeit. Die Ahndung von Verbrechen auf Grundlage des V.s kann – neben der Einsetzung von Wahrheitskommissionen, Maßnahmen der Wiedergutmachung oder der Gewährung von (Teil-)Amnestien – ein Element der Bemühungen um Bewältigung gesellschaftlicher Groß-Konflikte sein (Transitional Justice).

2. Geschichte

Das V. ist eine vergleichsweise neue Erscheinung, die erst im Verlauf des 20. Jh. juristische Kontur gewann. Erst dann setzte sich die Idee vom Individuum als Träger völkerrechtlicher (Rechte und) Pflichten und von der punktuellen Durchbrechung des Schutzschilds staatlicher Souveränität durch. Drei Meilensteine säumen den Weg des V.s: Seine erste praktische Gestalt fand das V. nach Ende des Zweiten Weltkrieges im „Recht von Nürnberg“, wie es im Statut des Internationalen Militärgerichtshofes festgelegt und durch diesen im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher angewendet worden ist. Bestätigt wurden die Nürnberger Prinzipien durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen sowie im Kriegsverbrecherprozess von Tokio und in zahlreichen Nachfolgeprozessen vor alliierten Besatzungsgerichten auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10. Von Mitte der 1990er Jahre bis in die späten 2010er Jahre bekräftigte die Praxis der vom UN-Sicherheitsrat eingerichteten Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda die völkergewohnheitsrechtliche Geltung des V.s. Den Höhepunkt und vorläufigen Abschluss der Entwicklung bildet das 2002 in Kraft getretene IStGH-Statut, durch das der IStGH errichtet wurde (Internationale Strafgerichtsbarkeit). Mit dem Statut liegt die erste umfassende Kodifikation des V.s vor. Seitdem ist die Entwicklung des V.s v. a. durch zwei Erscheinungen gekennzeichnet: nämlich die punktuelle „Verstaatlichung“ des V.s, wie sie insb. durch die Einrichtung gemischt nationaler-internationaler Gerichte (hybrid courts) und die Implementierung der völkerrechtlichen Strafnormen in die innerstaatlichen Ordnungen sichtbar wird, sowie die wachsende Fragmentierung des V.s, wie sie sich etwa am Anwendungsbereich des Tatbestandes des Aggressionsverbrechens ablesen lässt.

3. Legitimation

Das V. schützt „den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt“ (Präambel des IStGH-Statuts). Es ist der Angriff auf diese Interessen der Völkergemeinschaft, der die Straftat in eine internationale Dimension rückt. Als „schwerste Verbrechen von internationalem Belang“ (Art. 1 IStGH-Statut) berühren die Völkerrechtsverbrechen „die internationale Gemeinschaft als Ganzes“ (Präambel des IStGH-Statuts). Jenseits dieser schutzgutbezogenen Überlegungen sind die theoretischen Grundlagen des V.s noch wenig entwickelt. Ungeklärt ist die Frage nach der Rechtfertigung der völkerstrafrechtlichen Sanktion, insb. ob sich die für das staatliche Strafrecht entwickelten Legitimationstopoi auf das V. übertragen lassen (domestic analogy). Richtigerweise wird man angesichts der Unterschiede, die das V. zum sonstigen Strafrecht aufweist (Dimension der Tat; kollektiver Begehungszusammenhang; Sozialnormkonformität des inkriminierten Verhaltens), deren Bedeutung weder vollständig ablehnen können noch umhin kommen, eine Anpassung vorzunehmen und zusätzliche, völkerstrafrechtsspezifische Gesichtspunkte einzubeziehen (Wahrheits- und Dokumentationsfunktion, Individualisierung von Verantwortung). Neben dem retributiven Ausgangspunkt, der als Vergeltung i. S. eines gerechten Schuldausgleichs auch und gerade im V. seine Berechtigung hat, werden präventive Begründungsansätze akzentuiert, insb. die positive Generalprävention sowie die mit dieser verwandten, v. a. im anglo-amerikanischen Rechtsraum populären expressiven Straftheorien.

4. Verbrechenstatbestände und Zurechnung

Völkerrechtsverbrechen (crimes under international law) sind Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Die Voraussetzungen dieser sogenannten Kernverbrechen (core crimes) sind im IStGH-Statut geregelt. Ob darüber hinaus weitere Delikte wie Rauschgifthandel, Piraterie oder Terrorismus direkt nach Völkerrecht strafbar – und damit Teil des V.s – sind, ist umstritten, richtigerweise aber zu verneinen. Die genannten Verbrechen sind ebenso wie Korruption und Menschenhandel keine Völkerrechtsverbrechen, sondern transnationale Straftaten, bei deren völker-(vertrags-)rechtlicher Regelung die zwischenstaatliche Koordination nationaler Strafverfolgung im Vordergrund steht.

Etabliert haben sich neben den Verbrechenstatbeständen allgemeine Regeln über die Unrechtszurechnung – etwa über die subjektiven Voraussetzungen der Strafbarkeit, die Gründe und Grenzen einer Straffreistellung oder die Zurechnung bei der Beteiligung mehrerer Personen an der Tat –, die teilweise an Vorbilder im staatlichen Recht angelehnt sind. Anerkannt ist ferner, dass die innerstaatliche Legalität der Handlung einer Strafbarkeit nach V. ebenso wenig entgegensteht wie der Umstand, dass die Tat auf Befehl oder Anordnung begangen wurde. Die allgemeinen Regeln über die Immunität von Trägern staatlicher Hoheitsgewalt sind vor internationalen Strafgerichten vollständig, vor staatlichen Strafgerichten jedenfalls soweit beiseitegeschoben als nicht der schmale Bereich der Immunität ratione personae berührt ist, die nur den höchsten und für die außenpolitische Handlungsfähigkeit unverzichtbaren Repräsentanten eines Staates zusteht.

5. Institutionen und Verfahren

Seit Errichtung des IStGH im Jahre 2002 steht ein ständiges internationales Forum zur Durchsetzung des V.s bereit. Anders als die beiden Ad-hoc-Strafgerichte der Vereinten Nationen ist der IStGH auf vertraglicher Grundlage geschaffen worden. Obwohl dem Statut mehr als 130 Staaten beigetreten sind, ist der Gerichtshof noch davon entfernt, ein echter Weltstrafgerichtshof zu sein, insb. gehören die USA, Russland, China und Indien nicht zu den Vertragsstaaten. Mangels universeller Anerkennung ist die Reichweite der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes begrenzt.

Schon deshalb wird die (indirekte) Durchsetzung des V.s durch staatliche Strafverfolgung auch in Zukunft erhebliche Bedeutung haben. Vor diesem Hintergrund folgt das IStGH-Statut für das Verhältnis von internationaler und staatlicher Strafrechtspflege dem Komplementaritätsprinzip. Danach soll die internationale Strafgerichtsbarkeit die staatliche Strafgerichtsbarkeit auch bei der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Grundsätzlich hat die staatliche Strafverfolgung Vorrang, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen.

6. Völkerstrafrecht in Deutschland

Entstehung und Entwicklung des V.s sind eng mit Deutschland und den Deutschen verbunden. Das „Recht von Nürnberg“ gab juristische Antworten auf die in deutschem Namen begangenen Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Haltung der Westdeutschen und später der BRD zum V. war zunächst ablehnend („Siegerjustiz“). Dem entsprach es, dass sich die bundesdeutsche Justiz bei der Ahndung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht auf die Nürnberger Grundsätze berufen hat.

Inzwischen hat die Ablehnung der aktiven Förderung und Mitgestaltung des V.s Platz gemacht („V.s-Freundlichkeit“). Bei den Verhandlungen zum IStGH-Statut gehörte Deutschland zur Gruppe der gerichtshoffreundlichen Staaten (like-minded states), die sich für einen möglichst starken, universellen und unabhängigen Gerichtshof einsetzten. Am 9.12.1998 hat Deutschland das IStGH-Statut unterzeichnet, die Ratifikation erfolgte am 11.12.2000. Durch eine Änderung des Art. 16 Abs. 2 GG ist sichergestellt, dass Deutschland auch deutsche Staatsangehörige an den IStGH überstellen kann. Zeitgleich mit dem IStGH-Statut ist am 1.7.2002 schließlich das „Gesetz zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes“ in Kraft getreten, das die notwendigen gesetzlichen Regelungen für die Zusammenarbeit mit dem IStGH enthält.

Hervorhebung verdient die aktive Rolle der deutschen Strafjustiz im Zusammenhang mit der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen, insb. solchen, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda und in Syrien begangen wurden. Für die Ahndung von Taten, die seit 2002 begangen worden sind, bildet das VStGB, mit dem das deutsche materielle Recht an die Vorschriften des IStGH-Statuts angepasst worden ist, die Grundlage. Eine wichtige Weichenstellung wird in § 1 VStGB vorgenommen: Danach gilt deutsches Strafrecht für Taten des Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.