Habitus

1. Philosophische Tradition

Das Konzept H. ist seit langem tradiert und findet sich bei so unterschiedlichen philosophischen, soziologischen und kunsthistorischen Autoren wie Aristoteles, Thomas von Aquin, Blaise Pascal, Max Weber, Marcel Mauss, Edmund Husserl, Arnold Gehlen, Erwin Panofsky, Norbert Elias und Pierre Bourdieu. Immer geht es um Bedeutungen, die durch Handlung (Handeln, Handlung) erworbene Handlungsdispositionen, Erfahrung, Gewöhnung, praktische Erinnerung, Können, ethische und körperliche Haltungen, Fertigkeiten, sowie kognitive Leistungen, Stile, inkorporierte Weltsichten und deren Beharrung verschieden miteinander verknüpfen. Während die philosophische Tradition H. auf ethische Haltungen, Tugenden, zuständliche Eigenschaften, Personen oder Tätigkeiten zurechnet, werden H. in Sozialtheorien auch in Relation zu sozialen Konditionierungen durch soziale Lagen, historische Konstellationen oder Zugehörigkeiten zu Gruppen, sozialen Klassen und gesellschaftlichen Feldern aufgefasst.

Die philosophische Verwendung des Konzepts geht auf Aristoteles’ hexis-Begriff zurück, der von Thomas in den lateinischen Begriff H. übersetzt und weiterentwickelt wird. Aristoteles unterscheidet ethische Tugenden und Verstandestugenden. Erstere werden zur hexis im Sinne einer relativ beständigen Disposition unseres Charakters durch Erziehung, Einübung und Gewöhnung. Sie werden als „zweite Natur“ Grundlage einsichtsvoller, freiwilliger tugendhafter Handlungen. Letztere wie Wissenschaft, Kunst oder Klugheit werden durch Belehrung und Erfahrung erworben und befähigen als dianoetische hexeis zu bestimmten kognitiven Leistungen. Thomas fügt der ethischen und kognitiven Bestimmung des H. weitere hinzu, indem er H. im eigentlichen Sinne als „dauerhafte Anlage eines Dinges zu etwas“, als „Eigenschaft, Anlage, Geeignetheit“ (zit. n. Schütz 1958: 355, 351, 354) auffasst und H. in einem erweiterten Sinne nicht nur auf Tätigkeiten, Personen, Handlungsresultate, sondern auch auf Objekte zurechnet. H. werden bei Thomas an den Tätigkeiten erkannt, welche aus ihnen hervorgehen. Deren Verrichtung ohne weitere Überlegung spricht für die Existenz eines H. Thomas situiert H., insb. den H. practicus, zwischen Potenz und Akt, eine Unterscheidung, die bei E. Husserl wieder auftauchen wird.

H. bezeichnet bei E. Husserl den identifizierbar bleibenden Stil der Aktivitäten der Person. Auf sedimentierter Erfahrung und Wahrnehmung beruhend kennzeichnet er personale Haltungen zur bekannten Umwelt und unbekannten Horizonten. Zugleich beschreibt H. bei E. Husserl eine praktische Möglichkeit des Könnens. Horizont dieses Könnens bildet eine habituell vorgezeichnete positive Potentialität, „die jeweils zur Aktualisierung kommt, immerfort in Bereitschaft ist, in Tätigkeit überzugehen“ (Husserl 1991: 255).

2. Sozialtheorie

An das thomistisch-aristotelische Konzept schließt P. Bourdieu an, der dieses über E. Panofskys Entwurf eines epocheneinheitlichen Stilbegriffs anhand des Parallelismus scholastischen Denkens und der gotischen Architektur rezipiert und den H. als Vermittler zwischen Struktur und Praxis in neue sozialtheoretische Synthesen überführt; dies mittels kumulativer Verwendung bestehender Begriffsbestimmungen. P. Bourdieus Praxistheorie ist Teil der Transformation soziologischen Denkens in der Mitte des 20. Jh., die ein vorherrschendes struktur-, rationalitäts- und normlastiges Verständnis des Sozialen infrage stellt. Nicht Strukturen, erst H. als erworbenes System von übertragbaren Dispositionen und Schemata, die als Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmatrix fungieren, sind, stets in Relation mit sozialen Feldern, generatives Prinzip der Praxis. Auch wenn H. nicht als exklusives Prinzip einer jeden Praxis fungieren, gibt es doch keine Praxis, der kein H. zugrunde liegt. Wie ein praktischer Sinn fungieren H. implizit auf der Grundlage vorreflexiver Orientierungen, ungedachter Denkkategorien und eines sozial geteilten Glaubens (croyance), der dem Geschehen erst einen Sinn verleiht. Ursprünglich im Rahmen ethnologischer Studien (Ethnologie) entwickelt, macht sich hier die dem H. eigentümliche Hysteresis bemerkbar: Habituelle Dispositionen, zugleich strukturierte und strukturierende Struktur, überdauern auch in Gesellschaftsstrukturen, deren Produkt sie nicht sind.

Neuen Stellenwert erhält das Konzept in den späteren gesellschaftstheoretischen Studien. Der H. gewinnt hier zum einen Profil in einer Theorie der Herstellung und Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse: Indem er im Sinne eines amor fati die Verhältnisse als natürlich und adäquat anerkennt, durch die er konditioniert ist, bildet er ein wesentliches Moment in der Reproduktion spezifischer Klassen- und Klassifikationsstrukturen. Die im H. inkorporierten Differenzen fungieren als modus operandi für Distinktionskämpfe, die zugleich um legitime Erwerbsstile kultureller Kompetenzen geführt werden und sich im symbolischen Raum der Lebensstile objektivieren. Zum anderen verbindet sich die Idee, dass der H. sich stets in Feldern verwirklicht, durch den Zugang zu dessen doxischer Weltsicht, die Teilhabe an der feldspezifischen illusio, dessen nomos und enjeux, in den späteren Studien zunehmend mit einer differenzierungstheoretisch akzentuierten Feldtheorie. Feldspezifisches Engagement, etwa die Einübung spezifisch künstlerischer, klerikaler, politischer, wissenschaftlicher H., amalgamieren sich dabei zu einem H., in dem auch die Zugehörigkeit zu anderen Feldern und dessen zeitlich-soziale Laufbahn (trajectoire) im dreidimensionalen sozialen Raum aufbewahrt sind. Nicht zuletzt darauf beruhen Resonanzen zwischen den Feldern, die feldinterne Dynamiken mit Referenzen auf feldexterne Antagonismen aufladen bzw. umgekehrt für bestimmte Positionen prädisponieren oder innovative Feldlogiken in Gang setzen. Eine Logik der double coups verschaltet die sozialen Felder mit einem übergeordneten Machtfeld (Macht), in dem in reflexiver Weise um die gesellschaftsweite Anerkennung der in den einzelnen Feldern erworbenen H. als eine Machtressource gekämpft wird. Neuere Forschungen schließen an P. Bourdieus Feldtheorie an, um die Globalisierung feldspezifischer Praktiken beobachtbar zu machen und diese selbst als Katalysatoren der Globalisierung zu identifizieren. Sie fokussieren auf globale Strukturen. Genese, Aufbau und kulturelle Brechungen weltweit beobachtbarer habitueller Grundlagen im Sinne feldspezifischer Dispositionen, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata als Befähigung zur Praxis im globalen Raum harren der Erforschung.