Erziehung
E. gibt es, weil es Kinder gibt; und weil Kinder sich zunächst und auf längere Zeit nicht aus eigener Kraft erhalten können. Sie sind infans, d. h.: redeunfähig, überhaupt fast gänzlich hilfsbedürftig und könnten ohne die Fürsorge ihrer Eltern oder anderer Hilfspersonen nicht überleben. Dabei hat die Fürsorge zwei Seiten. Sie dient erstens dazu, das Neugeborene am Leben zu erhalten, und zweitens geschieht das in einer soziokulturell bestimmten Form, durch die dem Kind vermittelt wird, wie es sich und seine Umwelt erlebt. Insofern enthält schon die frühe Pflege erzieherische Elemente. Die E. tritt nicht als etwas Abgesondertes und Äußeres hinzu, sondern ist von Anfang an mitgegeben und zeigt sich schon hier als das, was Immanuel Kant in seiner postum veröffentlichten Pädagogikvorlesung auf den Punkt gebracht hat: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ (Kant 1966b: 699) Dabei sei zu bemerken, „dass der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, die ebenfalls erzogen sind.“ (Kant 1966b: 699) Faktisch heißt das: die Älteren erziehen die Jüngeren, die Kundigen die Unkundigen, die Wissenden die Unwissenden. E.s-Verhältnisse sind urspr., wie Friedrich Schleiermacher in seiner Vorlesung von 1826 über die „Grundzüge der Erziehungskunst“ gesagt hat, auf das Verhältnis der „älteren zur jüngeren Generation“ gegründet (Schleiermacher 2000: 9). Die maßgebende Frage ist: „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“ (Schleiermacher 2000: 9). In einer soziologisch und entwicklungspsychologisch verallgemeinerten Form hat Siegfried Bernfeld diesen Zusammenhang als den Zusammenhang von Entwicklung und E. wie folgt gefasst: „Erziehung ist […] die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (Bernfeld 1973: 51). Hierbei handelt es um einen für alle menschliche Kultur maßgebenden Tatbestand. Wo immer wir auf menschliches Leben treffen, finden wir, dass das Leben der Neugeborenen, der kleinen Kinder und der Heranwachsenden zugleich auch erzieherisch mitbestimmt wird. Indem die erwachsene Generation sich um die nachwachsende Generation kümmert, sorgt sie zugleich für sich selbst und ihren Fortbestand. Dabei hat sie es aber nicht nur mit dem natürlichen Wachstum, sondern mit einer allgemeinen Mitgift von Geburt zu tun, die der Reaktion auf das Kind erst eine erzieherische Bedeutung gibt: das Lernen. Schärft man S. Bernfelds Aussage auf das Phänomen des Lernens zu, lässt sie sich mit Theodor Schulze dahin präzisieren, dass das Erziehen „die Reaktion der Gesellschaft auf die Tatsache des Lernens ist“ (Schulze 1995: 407). Hilfsbedürftigkeit und Lernfähigkeit sind die beiden ursprünglichen und nicht hintergehbaren, anthropologischen Voraussetzungen dafür, dass die Kinder erzogen werden können. Die andere Seite der E. besteht in den sozio-kulturellen Umständen und der Bereitschaft der älteren Generation, die Neugeborenen als Mitglieder der jeweils schon bestehenden Gemeinschaften anzuerkennen.
Das bedeutet: E. ist kein einfach gegebenes, sondern ein komplexes Phänomen, das dadurch zustande kommt, dass das Lernen und das erzieherische Verhalten zusammengeführt und mehr oder minder erfolgreich aufeinander bezogen werden. Das macht die kommunikative Struktur der E. aus. Sie ist die Einheit der spezifischen pädagogischen Differenz von Lernen und Erziehen.
In dieser allgemeinen und noch nicht weiter spezifizierten Fassung lässt sich demnach als E. jedwede Einwirkung auf das Lernen sowohl von Einzelnen wie von Gruppen, Sozialverbänden und selbst von Nationen und Staaten verstehen. Als Träger solcher Einwirkung erscheinen dann wiederum Individuen wie Eltern und Lehrer, Ausbilder und Dozenten, Spirituale und Übungsleiter, aber auch Institutionen wie die Familie, die Schule in einer Vielfalt von Formen, die Religionsgemeinschaften, die politischen Parteien und in neuerer Zeit generell die sogenannten Medien. Aus der Kombination von faktischer und ausdrücklich gewollter Einwirkung auf der einen Seite und der individuellen Rezeption der Adressaten auf der anderen ergibt sich das, was dann unter dem Titel „E.“ gefasst werden kann, aber auch unter anderen Titeln wie „Sozialisation“ oder „Enkulturation“ firmiert. Immer geht es darum, das Lernen und eine darauf gerichtete Einwirkung zusammenzubringen. So verschiedenartig dabei die jeweiligen Konstellationen und Figurationen der E. auch sind, in jedem Falle bringen sie die elementare pädagogische Differenz zum Ausdruck, nämlich die Differenz von Erziehen und Lernen. Auf diese Differenz ist alles zurückzuführen, was E. als Einigung und Einheit einer Differenz kennzeichnet und die Eigenart erzieherischer Einwirkungen von sozialen Einwirkungen anderer Art unterscheidet, wie z. B. die medizinische oder die juristische Intervention, politische oder militärische Gewalt.
Der faktische Ausgang aller E. ist traditionell die Eltern- und Familien-E. Diese Auffassung hat in der modernen Pädagogik noch einmal Friedrich Herbart mit Entschiedenheit vertreten: „Die Erziehung ist Sache der Familien, von da geht sie aus, und dahin kehrt sie größtenteils zurück. Nur das Bedürfnis eines mannigfaltigen und kostbaren Unterrichts treibt sie hinaus in die Schulen, in denen sie gleichwohl niemals ganz kann besorgt werden“ (Herbart 1989b: 137). Eingebettet in die auf das ganze Dasein des Kindes gerichtete Fürsorge umfasst das frühe Lernen zugleich die sozialen und praktischen Erfahrungen, die der ständige Umgang miteinander vermittelt. Dieses Lernen ist vornehmlich unthematisch-mimetisch und zeigt sich in den allmählich sich vermehrenden Kompetenzen, die geübt, wiederholt und so auf Dauer gestellt werden. Dafür sind zuerst und zunächst ausschließlich die Eltern zuständig. Aus ihrer Macht über das Kind ergibt sich ihre Verantwortung dafür, dass es essen und trinken, gehen und sprechen lernt. Insofern haben die Eltern und in einem weiteren Sinn die Angehörigen eine unvertretbare Sonderstellung, die ihre Aufgaben im Sinne einer unbedingten Gewissenspflicht begründet. Der Verpflichtungscharakter ergibt sich nach I. Kant daraus, dass das „Erzeugte eine Person ist […]“ und demnach „der Akt der Zeugung als ein solcher anzusehen [ist], wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herübergebracht haben, deshalb haftet auf den Eltern nun auch die Verbindlichkeit, sie, soviel in ihren Kräften steht, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen“ (Kant 1966a: 394). Die Eltern, und zwar ausschließlich nur die natürlichen Eltern, schulden ihren Kindern Fürsorge und E., auch wenn sie die damit verbundenen Pflichten an andere delegieren oder sich ihnen überhaupt entziehen. Elternschaft begründet insofern kein Vertragsverhältnis. Vaterschaft und Mutterschaft sind deshalb auch keine Rollen (Soziale Rolle), die nach Belieben ergriffen und womöglich gegen andere Rollen getauscht werden können; auch der Vater, der sich von der Familie trennt, bleibt lebenslang der Vater seiner Kinder, ebenso die Mutter, auch wenn sie durch Ersatz- und Pflegepersonen vertreten werden. Diese sind durch freiwillig geschlossene Verträge gebunden; Eltern durch den Akt der Zeugung, den sie ja auch hätten unterlassen können. Dass E. primär Elternsache ist, begründet demgemäß die spezielle Rechtsstellung der Eltern gegenüber ihrem Kind, wie sie in der deutschen Verfassung wie folgt ausgesprochen wird: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“ (Art. 6 Abs. 2 GG). Dieses Elternrecht wird gestützt durch die vorangehende Bestimmung: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ (Art. 6 Abs. 1 GG). Beides zusammen: Schutz der Familie, in der die Kinder aufwachsen, und Aufsicht der staatlichen Gemeinschaft verweisen auf den gesellschaftlichen Kontext der E., wie ihn Emile Durkheim formuliert hat: „Der Mensch, den die Erziehung in uns verwirklichen muss, ist nicht der Mensch, den die Natur gemacht hat, sondern der Mensch, wie ihn die Gesellschaft haben will“ (Durkheim 1973: 44).
Es ist eine neuere, noch nicht abgeschlossene Entwicklung, die Fundierung der E. in dem ursprünglichen Eltern-Kind-Verhältnis durch vertragsförmige Formen unter den Titeln Partnerschaftsehe und Homoehe (Eingetragene Lebenspartnerschaft) abzulösen und so den Unterschied von natürlicher Elternschaft und Pflege- und Adoptivelternschaft einzuebnen. Es ist noch unklar, welche Folgen für die herkömmliche E.s-Praxis sich à la longue daraus nicht nur für das E.s-Verständnis, sondern auch für die praktische E. ergeben.
Über die genuinen Formen und Funktionen der Eltern-E. hinaus kann diese auch als Muster der Haus-E. gekennzeichnet werden, wie sie für die vormoderne Welt charakteristisch gewesen ist. Die soziale Figuration ist das „ganze Haus“ bäuerlicher und handwerklicher Wirtschaften, in denen Arbeit und Selbstversorgung noch ungetrennt erfolgen, so dass auch das Lernen ganz im Umkreis eben dieser Hausgemeinschaften bleibt und weithin ohne Schule und gesonderten, ausgelagerten Unterricht auskommt. Dieses Lernen lässt sich als „Mitahmung“ verstehen (Roeßler 1961: 61). Es steht i. d. R. unter der Autorität des Hausvaters, der dafür sorgt, dass die nachwachsende Generation durch Teilnahme an den Aufgaben in Haus und Hof in das Können, Wissen und Wollen der älteren Generation eingewiesen wird. Diese Form der Haus-E. dient vornehmlich der Bestandsicherung; ihr Charakteristikum ist der Traditionalismus von sozialen Systemen unter dem Primat der Bedarfsdeckung. Es genügt zu singen, wie die Alten sangen.
Eine Nebenform und Übergangsform zur spezifischen Schul-E. stellt die E. in Heimen, Konvikten, Internaten dar. Die Heim-E. bietet den Zöglingen ein familienähnliches Zuhause, kombiniert mit Unterricht. Er ist zumeist auf spezielle gesellschaftliche Funktionen ausgerichtet, wie dem Militär oder dem kirchlichen Dienst, heute auch auf die Förderung besonderer Talente z. B. in der Musik oder im Sport, und zwar so, dass der Schulunterricht in die Gesamtorientierung des jeweiligen Internats eingebettet erscheint. Das hat zur Folge, dass als Träger der Heim-E. vornehmlich weltanschauliche Gruppen und spezielle Interessenverbände auftreten, die auf diese Weise frühzeitig für die Rekrutierung ihres Nachwuchses sorgen.
Auf eine höhere und schließlich moderne Stufe wird indes die E. gebracht, indem sie schulisch organisiert wird: In der Tradition zunächst als Schule für wenige, vornehmlich in kirchlicher Regie zur Rekrutierung für geistliche Aufgaben und politische Führungsfunktionen, dann auch für das einfache Volk und schließlich als Pflichtschule für alle. So tritt die Schul-E. in der modernen Gesellschaft neben die Eltern- und Familien-E., teils ergänzend, teils konkurrierend, und zwar als Aufgabe und in der Verantwortung der staatlichen Gemeinschaft. Die allgemeine Schulpflicht gehört zu den Kennzeichen moderner Gesellschaften ebenso wie die Melde- und Steuerpflicht. Sie hat zwei Seiten: einerseits ist jeder ab einem bestimmten Lebensalter und für eine festgelegte Zeit zum Schulbesuch verpflichtet; und andererseits hat der Staat die Pflicht, für die Beschulung aller Kinder zu sorgen, bis ins letzte Dorf und wo immer Kinder aufwachsen. Im PrALR von 1794 heißt es demgemäß: „Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staates, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht haben“ (§ 1 II 12 PrALR). E. als Staatszweck unterstellt sie den organisatorischen Prämissen, die für das politische System maßgebend sind. Als erstes gehört deshalb ein eigenes Programm zur Staatsschule, in dem die leitenden Ziele der Schul-E. definiert werden, die ihrerseits den Schulaufbau, die Lehrpläne und die Schulabschlüsse bestimmen. Daraus ergeben sich die Berechtigungen, die den Anschluss des Berufs- und Beschäftigungssystems an das Schulsystem festlegen. Damit erfüllt die Schul-E. ihre Selektions- und Allokationsfunktion in der Gesellschaft. Nach innen organisiert die staatliche Schul-E. die Selbstbeobachtung des Schulsystems über eine spezielle Schulverwaltung in politischer Verantwortung. Das ist die Grundlage für die Rekrutierung und Professionalisierung des Lehrpersonals, die ihrerseits eine eigene pädagogische Semantik erfordern und die Ausbildung der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin begründen. Sie fungiert als Systembetreuung eines inzwischen hoch differenzierten Schulwesens. Damit entspr. die Schul-E. den Erfordernissen eines eigenen Subsystems der modernen funktional differenzierten Gesellschaft. Sie erbringt eine nicht verzichtbare Leistung für die anderen ausdifferenzierten Subsysteme.
Um diese Leistung erbringen zu können, ist es unabdingbar, dass das Lernen nicht mehr mitgängig-mitahmend im Kontext der Alltagspraxis erfolgt, sondern ausdrücklich Thema und Aufgabe für die Heranwachsenden wird. Sie wissen das auch. In der Schule geht es um Lernen, nicht mehr bloß um Spielen, Zusehen und – soweit das möglich ist – um Mitmachen; vielmehr verlangt der Unterricht Aufmerksamkeit und Konzentration auf das, was zu lernen ist, und nur auf das. In der Schule gilt deshalb auch nicht mehr das familiäre Ethos der Fürsorge, sondern das gesellschaftliche Ethos der Leistung. So lernt das Schulkind in altershomogenen und dann auch einigermaßen leistungshomogenen Klassen; die formelle Gleichheit lässt zugleich die individuellen Differenzen als Leistungsdifferenzen hervortreten. Dadurch lernt das Schulkind sich nach der Position einzuschätzen, die es in der Klasse einnimmt, und ist zur Akzeptanz von Unterschieden genötigt. „Was wir in der Schule lernen“ (Dreeben 1980), ist, allgemein gesprochen, „Gesellschaft“ und das Dasein in Gesellschaft.
Der schulische Unterricht konzentriert die E. auf den Akt des Lehrens und der Unterweisung unter Abschwächung und schließlich Abblendung all der anderen Aspekte, die sonst den Umgang außerhalb des Unterrichts mitbestimmen. Indem das Lernen ausdrücklich thematisiert wird, treten seine verschiedenen Momente deutlicher hervor und können in der pädagogischen Reflexion eigens bearbeitet werden. Das Lernen wird in einem Zuge dekomponiert und neu rekombiniert.
Es sind drei Gesichtspunkte, die dabei zu beachten sind: erstens der moralisch-soziale Gesichtspunkt, zweitens der inhaltlich-curriculare und drittens der methodisch-technologische Gesichtspunkt. In der unterrichtlichen Praxis sind sie aufeinander abzustimmen und so aufeinander zu beziehen, dass sie den jeweiligen E.s-Zweck erfüllen, sei es, dass ein Gesamtzweck der E. entworfen, sei es, dass ein partikularer Zweck ins Auge gefasst wird. Was den Gesamtzweck der E. angeht, hat wiederum F. Herbart die maßgebende Leitformel vorgeschlagen: „Man kann die eine und ganze Aufgabe der E. in den Begriff der Moralität fassen (Herbart 1989a: 259, Herv. i. O.). Mit dem Konzept der Moralisierung als Zweck aller E. hat F. Herbart den Gedankenkreis vorgezeichnet, in dem sich die moderne Pädagogik nach wie vor bewegt. Es löst das vorangehende, christlich-metaphysische Konzept der Divination als E. zum Seelenheil ab und stellt sich in den mainstream derjenigen Moralkonzeptionen, die unter den Titeln der Emanzipation und der Freiheit auch der E. die Aufgabe zudenken, die Individuen zu einer selbstbestimmten Lebensführung in eigener Verantwortung zu befähigen. „Machen, dass der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: dies oder nichts ist Charakterbildung.“ (Herbart1989a: 261, Herv. i. O.)
Mit dem Unterricht kommt zweitens die inhaltlich-curriculare Seite der E. zur Geltung und rechtfertigt das Verständnis der E. als Weitergabe und Überlieferung dessen, was bisher gewusst, gekonnt und gewollt worden ist. Diese Botschaft der jeweiligen Kultur wird im Unterricht ausdrücklich tradiert und betrifft insofern das Selbstverständnis und gewissermaßen die intellektuelle und moralische Innenseite einer Gesellschaft, ihre Sprache und ihre Wissensbestände, die Fertigkeiten und Kompetenzen, ohne die sie keinen Bestand hat. So gesehen gehört Unterricht zu den Bestandsgarantien einer Gesellschaft, weiter gefasst auch als Versuch, den zukünftigen Bestand durch einen Unterricht zu sichern, der an die Grenzen des Wissens führt und zur Fortführung des Wissenserwerbs motiviert. Doch zuerst und weithin geht es darum, „dass die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen“ (Schleiermacher 2000: 31).
Welche Kenntnisse und welche Fertigkeiten im Bündnis mit welchen Haltungen das jeweils sind, ist Sache des kulturellen Niveaus einer Gesellschaft und wird seit gut 200 Jahren in der Schule als Pflichtveranstaltung für alle definiert. Das bedeutet nicht, dass nur in der Schule unterrichtet wird und Didaktik allein eine Angelegenheit der schulischen Instruktion wäre, wohl aber, dass faktisch die Familien teils entlastet, teils pädagogisch enteignet werden. Die Schule gibt die Maße vor, nach denen sich auch die Familien zu richten haben, damit die Kinder „mitkommen“ und über Schulleistungen den Zugang zu Lebensstellungen gewinnen. Im Zuge der Modernisierungsprozesse ist das curriculum scholasticum zum entscheidenden Ort der sozialen Platzierung und zu einer wichtigen, wenn nicht der maßgebenden Stellgröße für den Lebenserfolg und das curriculum vitae geworden.
Der dritte Gesichtspunkt, unter dem die E. thematisiert werden kann, besteht darin, dass der Prozess des Erziehens, die methodische Seite der Didaktik, in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Zwecke und die Inhalte der E. treten demgegenüber zurück und erscheinen in Funktion der erzieherischen Absichten und Handlungen. Man kann nicht ohne Absichten erziehen und nicht ohne Themen, aber diese hängen in der Luft, wenn es keine Wege und Methoden gibt, um sie zu realisieren. In gewisser Weise lässt sich sogar sagen, dass sie das nächstliegende Thema der pädagogischen Reflexion darstellen oder darstellen sollten. Tatsächlich aber hat sich das Nachdenken über E. zuerst v. a. auf die Zwecke und auf die Inhalte gerichtet; sie erscheinen sowohl theoriebedürftiger als auch theoriefähiger, während die konkreten Prozesse entweder für selbstverständlich genommen werden oder sich der Reflexion entziehen. Wie erzogen wird, bleibt Sache der Üblichkeiten und Gewohnheiten, für die auch keine bes. Ausbildung verlangt wird. Elternschaft ist keine Profession und nicht an Ausbildung und Prüfungen gebunden. Die anfallenden E.s-Aufgaben werden innerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung und gestützt durch Rat und Vorbild der eigenen Eltern und Verwandten, schließlich auch durch eine fachkundige Beratung ergänzt. Anders steht es mit der E. durch Erzieher und Erzieherinnen von Beruf, für die schon vor der Etablierung der E.s-Wissenschaft eine reiche Literatur zur Verfügung stand, um sich über die einschlägigen Prozeduren und Verfahrensweisen des Erziehens zu unterrichten. Insofern geht das Rezeptwissen dem wissenschaftsgestützten Wissen über die Prozesse der E. voran.
Rezepte versprechen bei richtiger Anwendung und Dosierung das Eintreten erwünschter Folgen. Sie belehren über die Maßnahmen als Ursachen von Wirkungen und sind insofern technologisch orientiert; Technologie verstanden als erprobte Verfahrensweisen zur Herstellung von Zuständen, auch dann, wenn nicht in jedem Einzelfall das eintritt, was man erreichen möchte. Insofern bleiben erzieherische Ursachen, ähnlich wie Medikamente, mit einer prinzipiellen Unsicherheit belastet. Sie ergibt sich u. a. daraus, dass das Ziel-Objekt des Handelns nicht etwas ist, das von den Absichten kein Wissen hat. Wenn wir einen Gegenstand fallen lassen oder einen Motor starten, sind wir nicht auf die Zustimmung oder die Einstellung des Gegenstandes angewiesen. Anders, wenn wir es mit Kindern, Schülern, Kursteilnehmern und Studenten zu tun haben. Wir beziehen uns nicht auf „Objekte“, sondern auf Subjekte, die sich auf sich beziehen und in Grenzen wählen können, wie sie reagieren, ja ob sie überhaupt auf unsere Versuche der Einwirkung reagieren.
E. ist so gesehen eine soft technology, aber eben doch eine Technologie, wenn man nicht die E. ganz auf Zufall oder Gnadenwirkungen stellen oder dem Belieben der Rezipienten ausliefern will. Auch wer nicht mit Sicherheit weiß, was auf welche Handlungen folgen wird, unterstellt zumindest probeweise oder gestützt auf die durchschnittliche Lebenswahrscheinlichkeit Wirkungen als Folgen von Ursachen. Insofern ist die E. eine Sozialtechnologie wie das Verhandeln oder die Veröffentlichung von Büchern, die politische Rede oder Heiratsanträge: Es ist tentatives Bewirken unter Berücksichtigung der mutmaßlichen Reaktion. Darauf beruht die „unvermeidliche Unsicherheit in aller Erziehung“ (Herbart 1989b: 138), oder, wie es Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr thematisiert haben: „Das Technologiedefizit der Erziehung“ (Luhmann/Schorr 1982).
Um diesem Schleier des Unwissens über dem erzieherischen Handeln zu begegnen, hat die Pädagogik seit ihrem Aufkommen in der Aufklärung in immer neuen Anläufen Reformen) des Erziehens erdacht und ausprobiert. Die Geschichte der modernen Pädagogik ist weithin „Theorie und Geschichte der Reformpädagogik“ (Benner/ Kemper 2003). Das betrifft v. a. den Schulunterricht, der zu einer Stätte der Dauerreform geworden ist, als ob das richtige Unterrichten erst noch zu entdecken und in die richtige Form zu bringen wäre. Die der E. eingeschriebene Fragilität hat zur Folge, dass immer wieder mit Innovationen in didaktisch-methodischer oder in organisatorischer Hinsicht darauf geantwortet und mit der Hoffnung verbunden wird, endgültig doch noch für eine gelingende, enttäuschungsfeste E. zu sorgen. Dabei stammen die gelingende wie die misslingende E. aus derselben Wurzel; sie sind gleichursprünglich und erinnern die Erziehenden daran, dass zur E., ob im Haus oder in der Schule, nicht nur Kenntnisse und Können gehören, sondern dass ihre Resultate entscheidend von der Rezeption der Lernenden abhängen. Darüber aber können die Eltern und Lehrkräfte nicht in der gleichen Weise verfügen wie über die Mittel und Wege der pädagogischen Technologie.
Herkömmlich wird dieses Technologieproblem als Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis dargestellt. In seinen ersten Göttinger Vorlesungen von 1802 hat F. Herbart den sachlichen Kern dieses Problem dargestellt. Für die Praxis ist die Theorie zu allg., und für die Theorie ist die Praxis in ihren Besonderheiten zu speziell: „In der Schule der Wissenschaft wird daher für die Praxis immer zugleich zu viel und zu wenig gelernt“ (Herbart 1989a: 284). Deshalb bedarf es eines „Mittelglieds“, um beide aufeinander zu beziehen: Das ist der pädagogische Takt. Er vermittelt zwischen den allgemeinen Aussagen der Theorie und den Erfordernissen einer speziellen Praxis. Er besteht in „einer schnellen Beurteilung und Entscheidung, die nicht, wie der Schlendrian ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine vollkommen durchgeführte Theorie eigentlich sollte, sich rühmen darf, bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel, zugleich die wahre Forderung des individuellen Falles ganz und gerade zu treffen“ (Herbart 1989a: 285, Herv. i. O.). Doch auch der subtilste pädagogische Takt kann nicht verhindern, dass die erzieherischen Bemühungen fehlschlagen und etwas erforderlich wird, was sich im Anschluss an Sigmund Freud als „Nach-E.“ bezeichnen lässt. Sie dient dazu, die Heranwachsenden entweder in das bestehende Schulsystem zu reintegrieren oder ihnen direkt Anschlüsse an das Beschäftigungssystem zu ermöglichen. Dieser Bereich der Nach-E. wird im allgemeinen unter dem Titel der „Sozialpädagogik“ gefasst; er ist proportional mit dem Ausbau des Schulsystems gewachsen und hat sich eigenständig v. a. im Kontakt mit der Sozialarbeit (Soziale Arbeit) organisiert. Dabei verschwimmen z. T. die Grenzen zwischen der nachgeholten Sozial-E. und der Sozialarbeit in der Weise, dass das Erziehen allgemein als „Hilfe in erschwerten Lagen“ gedeutet wird. Der Unterschied zwischen der direkten Hilfe in aktuellen Notlagen und der auf künftige Lagen gerichteten Lernhilfe wird eingeebnet und so der Weg zu einer Sozialpädagogisierung der Schule gebahnt.
Dem entgegen steht ein Verständnis des schulischen Lernens und unterrichtlichen Handelns, das nicht mehr allein die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten als deren vorrangigen Zweck bestimmt, sondern das Lernen des Lernens. Die Begründung ist im Wesentlichen soziologisch. Das Lernen wird reflexiv, „wenn der Lernbedarf so umfangreich und langfristig vor Augen steht, dass sich ein Investieren von Kräften in diesen Umweg auszahlt“ (Luhmann 1970: 94). „Einmal gelernt, ist das Lernen leicht, die Entlastung spürbar bis in das Verhältnis zum Gelernten hinein. Das nach Regeln Gelernte gehört nicht in gleichem Maße zu seinem Selbst wie die eigene Erfahrung. Es kann daher leichter abgestoßen werden, und seine Kritik durch andere trifft nicht so persönlich wie die Widerlegung eines Wissens, das als eigene Erfahrung dargestellt wurde“ (Luhmann 1970: 95).
Im Ergebnis führt diese Rückwendung des Lernens auf sich selber dazu, dass Lernfähigkeit als das nicht überbietbare Ziel der E. gefasst wird. N. Luhmann und K. E. Schorr haben in ihrer Schrift über die „Reflexionsprobleme im Erziehungssystem“ (Luhmann/Schorr 1979) dazu das „Konzept des lernenden Lernenkönnens“ (Luhmann/Schorr 1979: 87) vorgestellt. Es „passt sich in eine funktional differenzierte Gesellschaftsordnung ein. […] Höhere Komplexität, die selektives Verhalten erzwingt, erfordert höhere Umstellfähigkeit auf der Ebene sozialer wie auf der Ebene personaler Systeme.“ (Luhmann/ Schorr 1979: 87) Lernfähigkeit führt über das aufklärerische Ideal der humanen Perfektion ebenso hinaus wie über das Programm der Bildung. „Vielmehr geht es um eine gelegentlich intensiv einsetzbare und dafür dauerhaft bereitzuhaltende Spezialkompetenz“ (Luhmann/Schorr 1979: 87, Herv. i. O.).
Was in der herkömmlichen und in der vormodernen Pädagogik ganz selbstverständlich gewesen ist, dass nämlich die E. mit dem Eintritt in die rechtlich-soziale Mündigkeit zu Ende ist, verliert seine Bedeutung. Das Lernen, einmal zu einer auf Dauer angelegten Kompetenz erhoben, geht weiter und eröffnet damit auch dem Erziehen ein neues Feld neben dem Schulunterricht und der Sozialpädagogik, nämlich das der Erwachsenenbildung. Es versteht sich, dass Erwachsene nicht nur anders lernen als Kinder und Heranwachsende, sondern dass der erzieherische Umgang ihre Mündigkeit zu berücksichtigen hat. Der Unterricht wird damit unvermeidlich teilnehmerorientiert, in dem Sinne, dass die Lernenden selbst darüber entscheiden, was sie auf welche Weise lernen. Indem die Selektion der Themen und ihrer Vermittlungsformen von den Erziehern an die Adressaten, d. h. von der Angebotsseite an die Nachfrageseite übergeht, entsteht ein verstärktes Bedürfnis nach Beratung. Das Beraten erscheint als die vorherrschende E.s-Form für Erwachsene. Es verordnet nicht, was gelernt wird, sondern stellt dies gewissermaßen den Lernenden anheim: Die Nachfrage bestimmt Form und Inhalt des pädagogischen Umgangs. Beratung ist die didaktisch-methodische Antwort auf die gegenüber der Eltern- und der Schul-E. eigentümliche Form des Lernens in der Erwachsenenbildung.
Zugleich öffnet diese Veränderung der pädagogischen Situation das Formenrepertoire der E. in Richtung psychotherapeutischer Methoden. Sie finden zunehmend Eingang in die pädagogische Technologie, und zwar in dem Maße, wie sie Selbstselektion der Lernenden schon in der Schule begünstigt und erwartet wird. Auch die Lehrkräfte haben in ihrer Ausbildung mehr zu lernen, als der herkömmliche Unterricht verlangt: Die Beratungskompetenz tritt als selbständige Kategorie neben die üblichen Kompetenzen der Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten und erweitert insofern den Aufgabenkreis der Schul-E.
Mit dem Ziel der Lernfähigkeit ergibt sich eine weitere Dimension der öffentlichen E., die sich als Umerziehung beschreiben lässt. Sie findet sich in einer schwachen Form dann, wenn das Verhalten großer Gruppen oder einer ganzen Gesellschaft auf neue Erfordernisse und Erkenntnisse umzustellen ist, z. B. in der Gesundheits-E. in Hinsicht auf das Rauchen oder den Alkoholmissbrauch. E. erscheint hier als Aufklärung und Information, aber auch gesetzliche Vorgaben sollen die gewünschten Effekte herbeiführen. Einschneidender sind volkserzieherische Initiativen der re-education, wie sie im Falle von politischen Neuorientierungen und Systemwechseln fällig werden. Nicht erst der Übergang von der nationalsozialistischen Ideologie (Nationalsozialismus) zur freiheitlich-demokratischen Werteordnung (Freiheitliche demokratische Grundordnung), sondern schon die „Nazifizierung“ des deutschen Volkes nach der Machtübernahme Adolf Hitlers wurden durch volkserzieherische Maßnahmen sekundiert und gestützt. Entscheidenden Anteil hatten und haben daran die modernen Medien, durch die die Erreichbarkeit der Adressaten der Umerziehung gewährleistet wird.
Darüber hinaus dürfte sich mit dem Aufkommen der neuen Medien und ihren Möglichkeiten der Informationsvermittlung die Gesamtlage der E. erheblich, wenn nicht grundlegend verändert haben und weiter verändern, und zwar nach beiden Seiten, der des Lernens wie der des Erziehens. Es scheint sich abzuzeichnen, dass das in der Tradition v. a. maßgebende nachhaltige Lernen auf Vorrat für das spätere Leben an Bedeutung verliert und durch ein gewissermaßen flüchtiges, aktualitätsbestimmtes und jederzeit bequem überholbares Lernen ersetzt wird, dessen Bedürfnisse durch leicht und schnell zugängliche Information zufrieden gestellt wird. Die Folgen für die Gesamt-E. und insb. für die Stellung der Eltern und Lehrer, aber auch für die Erwachsenenbildner und Sozialpädagogen, sind noch gar nicht abzusehen und stellen eine wichtige Herausforderung für die Pädagogik der Zukunft dar.
Literatur
K. Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung, 2005 • K. Prange/G. Strobel-Eisele: Die Formen des pädagogischen Handelns, 2005 • D. Benner/H. Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, 2 Bde., 2001 • F. Schleiermacher: Grundzüge der Erziehungskunst, in: derselbe S. 7–72: Texte zur Pädagogik, Bd. 2., 2000 • T. Schulze: Jenseits der Befangenheit, in: ZfPäd 41/3 (1995), 399–407 • F. Herbart: Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, 1989a • F. Herbart: Kurze Enzyklopädie der Philosophie, in: ders: Sämtliche Werke, Bd. 9, 1989b • R. Dreeben: Was wir in der Schule lernen. 1980 • N. Luhmann/K. E. Schorr: Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: dies.: Zwischen Technologie und Selbstreferenz, 1982, S. 11–40 • N. Luhmann/K. E. Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, 1979 • S. Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, 1973 • E. Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft, 1973 • N. Luhmann: Reflexive Mechanismen, in: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 1, 1970, 92–112 • I. Kant: Metaphysik der Sitten, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 4, 1966a S. 303–634 • I. Kant: Über Pädagogik, in: ebd., Bd. 6, 1966b S. 693–761 • W. Roeßler: Die Entstehung des modernen Erziehungswesens, 1961.
Empfohlene Zitierweise
K. Prange: Erziehung, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Erziehung (abgerufen: 21.11.2024)