Hermeneutik

1. Allgemein

H. ist zunächst die Kunst der Interpretation. Das dem Wort zugrunde liegende absolut gebrauchte Adjektiv hermeneutiké, das durch téchne, „Kunst“, zu ergänzen ist, wird schon von Platon verwendet (Plato: Politikos 260d). Die Grundbedeutung des dem Adjektiv entsprechenden Verbs, hermeneúein, ist „übersetzen“, doch es bedeutet auch „erklären“, „in Worte fassen“, „artikulieren“. Das entspricht der Sache. Übersetzend und erklärend fasst man etwas in Worte; man sagt in eigenen Worten, in den Worten einer Sprache, was in derselben Sprache anders oder in einer anderen Sprache gesagt ist. Derart bekundet man, dass man das Gesagte oder Geschriebene verstanden hat. So ist H. die Kunst der Interpretation um willen des Verstehens. Diese Kunst ist seit der klassischen Antike mannigfach praktiziert und ausgebildet worden. Sie blieb jedoch meist an bes. Zusammenhänge gebunden – v. a. als theologische und juristische H. – und wurde so nicht zum Gegenstand einer auf die allgemeine und systematische Klärung des Interpretierens und Verstehens zielenden Reflexion. Selbst der Titel „H.“ ist erst im 17. Jh., mit Johann Dannhausers „Hermeneutica sacra“ (1654), belegt, und danach dauerte es noch deutlich mehr als hundert Jahre, bis Friedrich Schleiermacher eine „allgemeine Hermeneutik“ (Schleiermacher 1977: 75) entwarf, deren Aufgabe es sein sollte zu klären, was es heißt, „die Rede eines andern, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen“ (Schleiermacher 1977: 71). Wilhelm Dilthey nahm F. Schleiermachers Impuls auf, indem er das Verstehen als die eigentümliche kognitive Leistung der Geisteswissenschaften bestimmte und entspr. die Grundlegung der Geisteswissenschaften zum hermeneutischen Programm machte. Doch erst mit Hans-Georg Gadamers Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ (1960) gewinnt die H. den Charakter einer originär philosophischen Konzeption. Geprägt durch den Gedanken seines Lehrers Martin Heidegger, dass das Verstehen eine Wesensbestimmung des menschlichen Daseins in seiner „Faktizität“, im „Wie seines eigensten Seins“ (Heidegger 1988: 7), sei, entwickelt H.-G. Gadamer die „Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung“, die wesentlich die Erfahrung geschichtlichen Verstehens im „Medium“ der Sprache ist. H.-G. Gadamers philosophische H. hat mannigfach gewirkt und ist von so unterschiedlichen Philosophen wie Paul Ric&olig;ur, Jürgen Habermas, Richard McKay Rorty, John McDowell, Gianni Vattimo, und Jacques Derrida aufgenommen worden. Die H. wird handlungstheoretisch interpretiert (P. Ric&olig;ur), sie gilt als Plädoyer für eine „bildende Philosophie“ mit zurückgenommenen Erkenntnisansprüchen (R. Rorty), als plausible Gegenposition zu einem physikalistisch reduzierten Verständnis des Menschen (J. McDowell), als Philosophie der Verständigung (J. Habermas) oder sie wird zum Vorbild eines nicht mehr metaphysisch gebundenen „weichen Denkens“ (G. Vattimo). Auch kritische Einwände wie z. B. die von J. Derrida, der die Kraft des „guten Willens“ zum Verstehen bezweifelt, bestätigen, dass mit H.-G. Gadamer die Sache der H. zu einer Sache der modernen Philosophie geworden ist, von der aus diese sich in ihrer Komplexität erschließen kann.

2. Die Sache der Hermeneutik

Die Sache der H. ist, wenn man H.-G. Gadamer folgt, das Verstehen. Dieses wird von H.-G. Gadamer weder, im Sinn W. Diltheys, als erfolgreiche, auch in den Geisteswissenschaften praktizierte Einfühlung in das vom Autor eines Textes Gemeinte bestimmt noch als das Verstehen seiner selbst, als das M. Heidegger es fasste. Zwar ist das Verstehen auch für H.-G. Gadamer keine spezielle und isoliert zu betrachtende kognitive Leistung. Aber es ist nicht, wie für M. Heidegger, die „Erschlossenheit“ (Heidegger 1977: 190 ff.) des eigenen Seins und der von diesem Sein her sich als „eigentlich“ (Heidegger 1977: 57) erweisenden Möglichkeiten, in der Welt sein zu können, sondern vielmehr ein Geschehen, in das die verstehenden Individuen gehören. Im Verstehen geschieht Überlieferung, und zwar weniger dadurch, dass man sich bewusst auf das Überlieferte bezieht, als so, dass man dieses in sich wirken und sich von ihm bestimmen lässt; die Überlieferung ist wie ein Spiel, das das Tun derer, die es spielen, in sich einbegreift. Und so, wie ein Spiel in jedem Spielen mehr oder weniger anders ist, kommt die Überlieferung immer dann, wenn sie verstanden wird, anders und neu zur Geltung. Sie ist kein toter Bestand, sondern findet zur lebendigen Gegenwart des „wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins“ (Gadamer 1986: 305–312). Insofern trifft der gelegentlich gegen H.-G. Gadamer erhobene Vorwurf des Traditionalismus nicht zu; nicht auf die Konservierung der Tradition kommt es ihm an, sondern darauf, dass diese im Verstehen ihre jeweilige, immer unvorhersehbare Gegenwart findet und so die Gegenwart, die auf unklare Weise immer schon von der Tradition bestimmt war, auf lebendige Weise in ihrer Geschichtlichkeit zur Sprache kommen lässt. In diesem Gespräch von Gegenwart und Überlieferung geschieht Verstehen.

Indem H.-G. Gadamer die H. derart als Philosophie einer sprachlich geschehenden Wirkungsgeschichte ausarbeitet, gelingt es ihm auch, das Verstehen in seiner ihm eigenen Sachlichkeit zu fassen. Das Verstehen ist keine der Sehergabe ähnliche Verwandlung in das zu Verstehende, als das F. Schleiermacher es mit dem Begriffe der „Divination“ (Schleiermacher 1977: 169) bestimmt hatte und ebensowenig, im Sinne W. Diltheys, die einfühlende Vorstellung dessen, was „gemeint“ sein könnte. Verstehen geschieht vielmehr in der sprachlichen Darstellung eines sprachlichen Gehaltes, dessen Sinn die Darstellung als solche bestimmt. Im Verstehen ist ein sprachlicher Gehalt in seiner Darstellung selbst da, und zwar derart, dass es zwischen diesem Gehalt und seiner Darstellung keine Differenz gibt; in seiner Darstellung stellt der Gehalt sich selbst dar, sodass im Verstehen, wie H.-G. Gadamer es fasst, eine „totale Vermittlung“ (Gadamer 1986: 125) geschieht. Allerdings klärt H.-G. Gadamer nicht, wie die Totalität dieser Vermittlung damit vereinbar sein kann, dass ein sprachlicher Gehalt immer wieder neu und anders darstellbar ist. Ist die jeweilige Darstellung eines Gehalts immer wieder anders, so wird ein Gehalt in einer jeweiligen Darstellung nicht unmittelbar und ohne jede Differenz manifest sein können. Vielmehr ist dann jede Darstellung nur eine mögliche Darstellung unter anderen, und entspr. geht der darstellbare Gehalt in keiner Darstellung ganz auf.

Mit diesem Einwand zeichnet sich die Möglichkeit einer philosophischen H. ab, die H.-G. Gadamers Einsicht in die Sachlichkeit des Verstehens folgt, ohne den problematischen Gedanken einer vollständigen Manifestation des verständlichen Gehaltes im Verstehen zu übernehmen. Eine solche H. kann die Unabschließbarkeit des Verstehens, die H.-G. Gadamer mit dem Gedanken einer sich immer neu aktualisierenden Überlieferung ins Spiel gebracht hatte, in sachlich angemessener Weise berücksichtigen, indem sie die Darstellung eines zu verstehenden Gehaltes nicht zugleich als dessen Selbstdarstellung, sondern als Interpretation fasst und so an die griechische Bedeutung des Ausdrucks „H.“ anschließt. Die Interpretation, die in H.-G. Gadamers Entwurf einer philosophischen H. so gut wie keine Rolle spielt, rückt damit ins Zentrum der hermeneutischen Reflexion. Das geschieht jedoch nicht um einer Kunst der Interpretation willen, die immer nur im Zusammenhang jeweiliger Sachbereiche, also z. B. philologisch, theologisch oder juristisch, auszubilden ist, sondern vielmehr, um ein genaueres Verständnis des Vermittelns und Übertragens zu gewinnen, das die hermeneutische Grunderfahrung ist.

Für diese Grunderfahrung ist die Interpretation von Texten paradigmatisch. Verstehbare Gehalte können umso besser interpretiert und im Interpretieren verstanden werden, je eindeutiger sie fixiert und als fixierte Ordnungen zugänglich sind. Texte sind solche Ordnungen – Gewebe, wie das Wort textus sagt, bestehend aus verschiedenen, in ihrer Zusammengehörigkeit festgelegten, aber in ihrer Zusammengehörigkeit nicht ohne weiteres erfassbaren Elementen. Texte können, aber müssen nicht sprachlich sein; auch ein Bild, das eine Struktur hat, oder eine Partitur ist ein Text. In ihrer Festgelegtheit und in ihrer mit der Festgelegtheit einhergehenden Stabilität können Texte immer wieder und immer wieder neu zur Interpretation herausfordern. Derart sind Texte die Gegenstände des Interpretierens, in jenem wörtlichen Sinn des Ausdrucks, dass sie entgegenstehen und von keiner Interpretation zu erschöpfen sind. Weil Texte in keiner Interpretation aufgehen, können sie verschiedene, einander ergänzende Interpretationen an sich binden und sich in deren Differenzierungen entfalten.

3. Hermeneutischer Realismus

Texte sind nur im Interpretieren zugänglich, aber kein Text geht in seinen Interpretationen auf. Immer ist es die Realität eines Textes, was zur Interpretation motiviert, und immer sind verschiedene Interpretationen dadurch miteinander verbunden, dass sie Interpretationen des-selben, in seiner Selbigkeit identifizierbaren Textes sind. Ohne die Realität der Texte könnten Interpretationen nicht sein, was sie sind, und es wäre unmöglich zu sagen, was doch offenkundig ist: dass es von einem Text verschiedene Interpretationen gibt und dass diese Interpretationen sich also auf denselben Text beziehen. Immer ist es die Realität des Textes, die in einer Interpretation zur Geltung kommt, und dennoch wäre es unangemessen, diese Realität als ein für alle Mal erfasste zu behaupten. So kann die hermeneutische Reflexion des Interpretierens von Texten das Modell für einen Realismus bilden, der ohne die Annahme einer vermittlungslos zugänglichen Welt auskommt und ebenso wenig eine kanonische Beschreibung der Welt wie die naturwissenschaftliche als einzig realistische behauptet. Die hermeneutische Reflexion kann am Modell der Gemeinschaft von Interpreten außerdem zeigen, dass eine Verständigung, die andere Perspektiven anerkennt, auf den Anspruch der Sachlichkeit nicht verzichten muss, sondern im Gegenteil aus der sachlichen Orientierung die Freiheit gewinnt, von der Behauptung und Durchsetzung eigener Interessen abzusehen. Derart verstanden, lässt die philosophische H. sich nicht mehr den Geisteswissenschaften zuordnen und den Naturwissenschaften entgegensetzen. Sie ist auch nicht mehr nur die Reflexion eines geschichtlichen Seins und Bewusstseins im Sinn H.-G. Gadamers. Vielmehr gewinnt sie Bedeutung für das Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens und der Erkennbarkeit überhaupt. Und in hermeneutischer Reflexion lässt sich klären, wie sich Sachlichkeit und menschliches Leben in seiner Individualität und Sozialität zueinander verhalten. So wird die H. zum Modell einer sachlich orientierten Sozialphilosophie.