Sprache
I. Sprachwissenschaftliche Grundlagen
Abschnitt drucken1. Dimensionen von Sprache als Kommunikationssystem
S. ist ein den Menschen kennzeichnendes Kommunikationssystem. Als kommunikatives System ist S. für Zwecke des menschlichen Handelns (Handeln) entwickelt. In ihm werden Strukturen der physischen Welt mit kommunikativen Funktionen gekoppelt. Die Formen im Kommunikationssystem und die Funktionen, für die sie eingesetzt werden, bilden eine unabdingbare Einheit.
Drei Dimensionen sind dabei zu unterscheiden: a) Das sprachliche Handeln verbindet Menschen zur gemeinsamen Realisierung von Handlungszwecken, zu deren Erfüllung Interaktion erforderlich ist. Dies ist die teleologische Dimension von S. b) Zugleich bietet S. die Möglichkeit, intramentale Strukturen in einer organisierten Weise zu speichern, für das Gedächtnis handhabbar zu machen, für das Denken und Erkennen vorzuhalten und für die Projektion von Handlungsplänen zu nutzen. Dies ist die gnoseologische oder epistemische Dimension. c) Interaktionales Handeln geschieht nicht in einer isolierten Dyade, sondern in jeweiligen Gruppen. S. hat für die Konstituierung und für den Erhalt der Gruppen und ihrer Mitglieder eine wichtige Aufgabe: die kommunitäre Dimension von S.
2. Die Lautlichkeit der Sprache und ihre Funktionalität
S. nutzt die akustische Dimension der sinnlich wahrnehmbaren Welt (Laut-S.n; anders Gebärden-S.n sowie die Schrift). Die akustische Dimension ermöglicht durch physiologische Spezifika des artikulatorischen Apparats des Sprechers die Erzeugung von distinkten Lauten. Sie können vom Hörer auditiv aufgenommen und identifiziert werden. Solche Laute können zu Lautketten kombiniert und moduliert werden (Intonation im engeren Sinn). Die Lautketten sind artikulatorisch wiederholbar, und sie sind in ihren Strukturen memorierbar, weisen also eine Gestaltkonstanz auf. Das macht sie geeignet für das „Andocken“ mentaler Einheiten.
Die konstanten Lautkombinationen sind, wenn sie artikuliert werden, Schallereignisse in der Zeit. Sie verlaufen linear. Die mentalen Einheiten unterliegen einer solchen Linearität nicht, sind vielmehr in sich synchron als komplexe Netzstrukturen präsent. Zwischen dieser unterschiedlichen Chronizität des Mentalen und des Verbalen besteht ein Spannungsverhältnis, das durch Formstrukturen höherer Abstraktionsstufe bearbeitet wird.
Jeder einzelnen Sprachgemeinschaft gemeinsam ist ein spezifisches Inventar lautlicher Einheiten, der Phoneme. Sie sind Abstraktionen über die je einzelnen Artikulationen. Aufgrund ihrer Konstanz sind sie zur Unterscheidung weiterer, größerer Einheiten, z. B. semantischer, geeignet. Die geordnete Reihung einzelner Phoneme, z. B. zu Silben, und dieser wiederum zu noch größeren Einheiten geschieht unter Nutzung einer gesellschaftlich stabilisierten Menge von Inventaren. Sie machen die lautliche Sprachstruktur der einzelnen S.n aus. Diese wird linguistisch – meist auf der Basis des griechisch-lateinischen Schriftsystems – erfasst. Vorgaben dieses Systems ermöglichen die Aussonderung von Wörtern und Sätzen. Entsprechende Sprachbeschreibungen sehen S. also als ein Ensemble einer Grammatik und eines Lexikons.
Sehr viel schwieriger als die lautlichen Strukturen von S. sind all jene Strukturen zu erfassen, die alltagssprachlich als „Bedeutung“ gefasst werden, die Funktionen. Erst durch sie und in ihnen wird S. als Kommunikationssystem konkret.
3. Sprachen und Sprachtypen
Die Anzahl der S.n der Welt kann nur als Schätzung angegeben werden. Man rechnet mit 5 000 bis 7 000 S.n. Schwierigkeiten bei der Bestimmung dieser Schätzungen ergeben sich aus der unzureichenden Sprachbeschreibung; sie ergeben sich aber auch aus dem, was als eine S. gelten soll: Sind z. B. die sogenannten Dialekte als eigene S.n oder als Untergruppen einer S. zu sehen?
Die einzelnen S.n weisen sehr unterschiedliche Zahlen von Sprechern auf. Einige von ihnen zählen Mio., wie Chinesisch, Hindi, Spanisch, einige weisen gerade noch wenige Dutzend Sprecher auf. Für eine größere Zahl der S.n sterben die letzten Sprecher aus, oder es gibt nur noch mehr oder minder rudimentäre Relikte solcher S.n („tote S.n“).
Den „Sprachen der Welt“ (Wunderlich 2015; s. auch Haspelmath u. a. 2005, [www.ethnologue.com www.ethnologue.com]) liegen, formal gesehen, unterschiedliche Strukturentscheidungen zugrunde, die im Gebrauch der Sprecher in langdauernden Gebrauchsprozessen getroffen wurden. Eine umfassende Struktursystematik aller bekannten und beschriebenen S.n der Welt liegt nicht vor. Bedeutende Grundlagen sind in den Arbeiten Wilhelm von Humboldts gelegt (Trabant 2012). Gewisse Grundtypen lassen sich erkennen. Vier von ihnen sind als solche relativ gut erfasst:
a) der flektierende Sprachtypus,
b) der agglutinierende Sprachtypus,
c) der isolierende Sprachtypus,
d) der inkorporierende Sprachtypus.
Beispiele für den flektierenden Sprachtypus sind viele S.n im indoeuropäischen Bereich (Hindi, Farsi, Griechisch, Polnisch, Deutsch, Französisch, Lettisch), aber auch die meisten semitischen S.n (Arabisch, äthiopische S.n). Die Nutzung des Merkmals Flexion ist dabei unterschiedlich stark ausgeprägt. Beispiele für den agglutinierenden Typus sind das Japanische und Koreanische oder das Türkische. Der isolierende Typus ist durch das Chinesische repräsentiert, die, was die Sprecherzahlen anlangt, meistverwendete S. der Welt. Der inkorporierende Typus findet sich bei einer größeren Zahl indigener S.n des amerikanischen Kontinents, z. B. bei der S. der Inuit (Inuktitut).
Bei den Sprachtypen handelt es sich um idealtypische Bestimmungen. Zudem verändern einzelne S.n in langfristigen Prozessen ihre typologische Charakteristik, wie dies etwa am heutigen Englisch (vom flektierenden zu einem isolierenden Sprachtyp) gut zu beobachten ist. In Bezug auf die Beschreibung dieser S.n hat sich das an der hochflektierenden S. Griechisch entwickelte linguistische Instrumentarium unterschiedlich gut, z. T. aber auch nahezu gar nicht bewährt.
4. Sprachtheoretische Entwicklungen im 20. Jh.
Die Sichtweisen auf S. sind stark von dem bestimmt, was durch die griechisch-lateinisch basierte Sprachwissenschaft vorgegeben und durch deren Tradierung als Schulgrammatik ins allgemeine Wissen übergegangen und zur stillschweigenden Voraussetzung geworden ist. Im 20. Jh. haben in der wissenschaftlichen Befassung mit S. sehr unterschiedliche Teilbereiche Aufmerksamkeit gefunden; andere sind fast völlig aus dem Blick geraten. – Einflussreiche Konzeptionen sind zeichen- bzw. symbolzentriert (Ferdinand de Saussure, Charles Sanders Peirce). Ausgehend von dem saussureschen Konzept entwickelte sich bis weit in die Sozialwissenschaften hinein der Strukturalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen (vgl. z. B. Claude Lévi-Strauss, Roman Ossipowitsch Jakobson). Die mit dem Namen Noam Chomsky verbundene Generative Grammatik konzentriert sich auf syntaktische Merkmale, die sie als universell betrachtet.
Erst mit der sogenannten Pragmatischen Wende im letzten Drittel des 20. Jh. wird die Vielfalt von Aspekten, die das Kommunikationssystem S. für die Handelnden bedeutet, näher erforscht und kategorial erfasst. Von den Kategorien der Sprechhandlung und der Illokution aus wird die teleologische Dimension in ihrer Bedeutung für das sprachliche Handeln der Aktanten, aber auch für das Sprachsystem als Ensemble von Handlungsmitteln erkennbar.
Unter dem Stichwort einer kognitiven Linguistik werden mentale Aspekte von S. und Sprachverwendung – auch interdisziplinär – verstärkt in den Blick genommen.
Veränderte Fragestellungen ergeben sich v. a. durch ein neues Interesse für die gesprochene S. Sie ist die primäre Erscheinungsweise von S. Für ihre Untersuchung bedarf es differenzierter Aufzeichnungsmittel und eigens dafür entwickelter Transkriptionssysteme (vgl. Dittmar 2009).
Gesprochene S. ist die S., die sich Kinder in der konkreten Interaktion mit ihren Bezugspersonen aneignen (Ehlich/Bredel/Reich 2009), und die mündliche Kommunikation bestimmt die sprachliche Handlungswirklichkeit der meisten Interaktanten. Die Möglichkeiten der Schriftlichkeit und die der Digitalisierung sind davon abgeleitet, entwickeln allerdings ihre je eigene Charakteristik und Dynamik.
5. Die teleologische Dimension von Sprache: Sprechhandlungen, Diskurse, Texte
Die Sprechhandlungsanalyse hat in der einzelnen Sprechhandlung eine ihrer zentralen Kategorien. In deren Mittelpunkt steht der Handlungszweck. Er wird im illokutiven Akt der Sprechhandlung interaktiv erkennbar und verpflichtend gemacht, z. B. als Warnung oder als Versprechen. Die Sprechhandlung ist ein Teil der komplexen Kooperation zwischen den beteiligten Interaktanten (Rehbein 1977). In der Sprechhandlung bedienen sich die Interaktanten spezifischer Prozeduren, die in die Sprechhandlung konstituierend eingehen (Ehlich 2007, Bd. 2). Viele Sprechhandlungen werden zu Diskursen (Wrana u. a.) zusammengeschlossen. Sie gehören unterschiedlichen Diskursarten an. Eine Systematik der Diskursarten steht aus.
Gegenüber der Flüchtigkeit der konkreten sprachlichen Handlung, die sich aus ihrer Bindung an die akustische Dimension der Wirklichkeit ergibt, bedarf es für viele Handlungszwecke einer Verstetigung. Diese ist nicht einfach zu gewinnen, aber von hoher Relevanz. So wird die einzelne Sprechsituation zeitlich zerdehnt. Vermittlungen zwischen der Äußerung selbst und ihrer Rezeption treten ein. Memorierende Techniken und die Entwicklung eines reichen Repertoires von Formen werden für die Verdauerung des sprachlichen Handelns eingesetzt. Das Ergebnis sind Texte. Diese sind phylogenetisch zunächst und für lange Zeit mündlich. Erst mit der Schrift bildet sich ein zweites Verfahren der Textualisierung heraus, das sich als außerordentlich leistungsfähig erweist und für viele Zusammenhänge die mündliche Textualität ablöst (zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit S. Koeh/Oesterreicher 1985, Ehlich 2007, Bd. 3).
6. Institutionelle v homilëische Kommunikation
Große Teile der alltäglichen Kommunikation sind institutionelle Kommunikation. Das Verständnis dieser Kommunikation wird erst mit der linguistischen Pragmatik auf systematische Weise möglich. Auch Institutionen (Organisationen wie politische Verbände, Kartelle usw., Institutionen im engeren Sinn wie Schulen, Krankenhäuser usw.) sind zweckgetriebene gesellschaftliche Einrichtungen. Schwerpunkte der bisherigen Forschung zur institutionellen Kommunikation liegen bei der medizinischen Kommunikation, der juristischen, der Kommunikation in der Schule und in der Wissenschaft, der administrativen Kommunikation, der Kommunikation in der Politik (Wolfgang Bergsdorf). Die Rezeption der linguistisch gewonnenen Erkenntnisse durch die institutionellen Handlungsfelder hat bisher erst ansatzweise stattgefunden, ist aber nicht nur ein dringendes Desiderat, sondern für die nähere Zukunft auch zu erwarten.
Von der institutionellen Kommunikation ist systematisch zu unterscheiden die homilëische Kommunikation, sprachliches Handeln, das der Geselligkeit und Unterhaltung der Interaktionspartner dient. Dazu gehört v. a. das alltägliche Gespräch. Seine Analyse wird z. T. ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt; die Gesprächs- oder Konversationsanalyse greift aber auch auf ältere, literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen und deren Begrifflichkeit zurück („Genre“).
7. Die gnoseologische Dimension von Sprache
Die gnoseologische Dimension von S. hat es primär mit den mentalen Sphären des Menschen und ihren kommunikativen Nutzungen zu tun. Sprachliche Systeme halten Instrumentarien vor, um das Wissen der Interaktanten mental verfügbar und kommunikativ vermittelbar zu machen. Dies geschieht in Einheiten wie den Wörtern, die in ganzen Strukturfeldern („Wortfeldern“) geordnet sind, aber auch in grundlegenden Organisationsangeboten, die die S.n für Wissen machen (vgl. z. B. Nominativ-Akkusativ-S.n wie Deutsch v Ergativ-S.n wie Baskisch). In einer radikalisierten Konzeption wird daraus eine unüberwindbare Determination des Wissens durch die Präformationen der S. (bei einer prinzipiellen Unübersetzbarkeit einzelner S.n ineinander) theoretisch gefasst (Sapir-Whorf-Hypothese). In einer weniger strikten Form geht es darum, die Rolle der einzelsprachspezifischen Wortungen der Welt konkret und differenziert in ihren kommunikativen Auswirkungen zu erforschen und Übersetzung als einen Prozess wechselseitigen Transfers und einer aus der Differenz entwickelten und sie nutzenden Weiterentwicklung einzelner Sprachsysteme anzusehen.
Die neurologischen Grundlagen für S. werden zunehmend weiter erforscht (vgl. Pulvermüller 2002). Für adäquate Konzeptualisierungen des Verhältnisses zwischen neurologischen Grundlagen und sprachlichen Strukturen wird es noch erheblicher linguistischer kooperativer Arbeit bedürfen. Sie wird sowohl von linguistischer Seite wie von psychologischer Seite aus angegangen (Psycholinguistik, Sprachpsychologie). Als ein problematisches Erbe der neuzeitlichen Theoriebildung stellt sich dabei die Trennung zwischen Kognition und Emotion heraus. Die Überwindung dieser Trennung und die Erforschung der konkreten Interrelationen von beidem innerhalb der Individuen und bei der Interaktion zwischen Individuen gehören mit zu den bes. interessanten, aber auch bes. aufwendigen Analyseaufgaben.
Zur gnoseologischen Dimension gehören als herausragende Gebiete insb. die für die neuzeitlichen Entwicklungen wichtigen und sich immer weiter differenzierenden Fach-S.n (Roelcke 2005). Der Ausdruck „S.“ wird für sie in einem metonymischen Sinn angewendet, denn sie sind lediglich Teilrepertoires einer ihnen zugrundeliegenden Alltags-S. Die Systematisierung von Terminologieentwicklungen durch Instanzen, die sprachlich normierend tätig sind, wie z. B. DIN und ISO bildet einen wichtigen Teilbereich der Versuche, sprachliche Strukturen zu vereinheitlichen und so deren Einsatzmöglichkeiten zu optimieren.
Von erheblicher Bedeutung für die gnoseologische Dimension sind zudem die S.n, die innerhalb der wissenschaftlichen Kommunikation zum Einsatz kommen (Oberreuter u. a. 2012). Eine der wichtigsten gegenwärtigen sprachenpolitischen Auseinandersetzungen betrifft die Frage nach einer wissenschaftlichen Mehrsprachigkeit, die die entwickelten neuzeitlichen Wissenschafts-S.n wie Französisch, Russisch, Italienisch, Deutsch usw. gnoseologisch nutzt, gegenüber einer Einsprachigkeit, die mit dem Englischen eine dieser S.n zum alleinigen Medium wissenschaftlicher Kommunikation erhebt (vgl. z. B. Ammon/McConnell 2003; zur Kritik s. [www.adawis.de www.adawis.de], Münch u. a. 2020).
8. Die kommunitäre Dimension von Sprache
S. gehört zu den wichtigsten Mitteln für die Gemeinschaftsbildung: die kommunitäre Dimension. S. ermöglicht Partizipation – und verhindert sie, wenn der Zugang zu ihr versperrt wird. Sprachteilhabe fällt allerdings weder extensional noch intensional mit anderen Mitgliedschaftsausweisen einfach zusammen. Sie geht mit diesen vielmehr komplexe Wechselverhältnisse ein. Durch die Entwicklung des „Projekts Nation“ seit der Französischen Revolution zu Beginn des 19. Jh. hat S. gemeinschaftskonstituierende Funktionen übernommen, die ihr keineswegs an sich zukommen. Bis zu einem Ausschließlichkeitsanspruch hin erfolgte und erfolgt seither eine Diskreditierung der Mehrsprachigkeit, die als inkompatibel mit dem durch eine S. konstituierten Nationalstaat erscheint und propagiert wird. Mehrsprachigkeit gehört aber zu den sprachlichen Möglichkeiten des Menschen, und zwar keineswegs nur als Ausnahme. Große Teile der heutigen Menschheit sind faktisch mehrsprachig. Der Kampf um die Herstellung nationaler Homogenität verhindert leicht den Blick auf diese sprachlichen Realitäten. Dies wird im Rahmen von weltweiten Migrationsbewegungen (Migration) nicht selten ideologisch ein- und umgesetzt.
Die kommunitäre Dimension der S. ist genuines Forschungs- und Analysegebiet einer sprachsoziologisch ausgerichteten Linguistik. Von der demographischen (oder besser gesagt: glottographischen) Erfassung der Sprachlichkeit der Weltbevölkerung und der Bevölkerung einzelner Räume über die ethnographische Beschreibung der S.n-Verwendungen in größeren und kleineren Vergemeinschaftungsformen bis hin zu didaktisch-pädagogischen Großprojekten wie der Welt-Alphabetisierung und der sprachlichen Curricularentwicklung in den einzelnen Ländern erstrecken sich die Arbeitsfelder. Dabei bildet ein reflektierter Zugang zu S. als gesellschaftlichem Basisphänomen eine unabdingbare Voraussetzung für ein erfolgreiches gesellschaftliches Handeln. Dies gilt bes. für demokratisch verfasste Wissensgesellschaften, für die kommunikatives Verständigungshandeln (Habermas 1981) zu den unhinterfragbaren Grundlagen gehört.
Literatur
U. Münch u. a. (Hg.): Die Sprache von Forschung und Lehre, 2020 • H. Glück/M. Rödel (Hg.): Metzler Lexikon Sprache, 52016 • D. Wunderlich: Sprachen der Welt. Warum sie so verschieden sind und sich doch alle gleichen, 2015 • D. Wrana u. a. (Hg.): DiskursNetz, 2014 • H. Oberreuter u. a. (Hg.): Deutsch in der Wissenschaft, 2012 • J. Trabant: Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt, 2012 • N. Dittmar: Transkription, 2009 • K. Ehlich/U. Bredel/H. H. Reich: Referenzrahmen zur altersspezifischen Sprachaneignung, 2 Bde., 2009 • K. Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln, 3 Bde., 2007 • M. Haspelmath u. a. (Hg.): The World Atlas of Language Structures, 2005 • T. Roelcke: Fachsprachen, 2005 • U. Ammon/G. McConnell: English as an Academic Language in Europe. A Survey of Its Use in Teaching, 2003 • F. Pulvermüller: The Neuroscience of Language, 2002 • P. Koch/W. Oesterreicher: Sprache der Nähe, Sprache der Distanz, in: RJb 36 (1985), 15–43 • G. Ungeheuer/H. E. Wiegand (Hg.): Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft/Handbooks of Linguistics and Communication Science, ab 1982 • J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., 1981 • J. Rehbein: Komplexes Handeln, 1977.
Empfohlene Zitierweise
K. Ehlich: Sprache, I. Sprachwissenschaftliche Grundlagen, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sprache (abgerufen: 21.11.2024)
II. Sprache und Kommunikation
Abschnitt druckenS.n dienen dem Denken, der Wahrnehmung der Wirklichkeit, dem Wissen und der Kommunikation. Sie sind das menschliche Ausdrucksmittel schlechthin und die Grundlage der Vielfalt menschlicher Kulturen. Sie treten in der Evolution nicht erst mit dem Menschen auf, sondern in Vorstufen der Kommunikation mit lautlichen und gestischen Mitteln schon sehr viel früher. Die menschliche Sprachfähigkeit hat sich in der Evolution allmählich entwickelt, nicht zuletzt in Abhängigkeit von Veränderungen des Kehlkopfs. Die genetische Disposition, S.n zu erlernen, hat auch unter den Hominiden eine lange Vorgeschichte. Wie sich diese Disposition durch Mutation und Selektion entwickelt hat, ist ein evolutionstheoretisches Forschungsproblem. Der Zusammenhang zwischen S. und der Struktur des Gehirns wird neurobiologisch immer besser verständlich. Dieser Zusammenhang erklärt aber weder die Vielfalt noch die Struktur der S.en, v. a. aber nicht den Gebrauch und die Bedeutungen von Worten und Sätzen. Linguistik und Sprachphilosophie wollen dies erklären. Ähnlich wie sich die Sprachentwicklung nicht von Kultur und Gesellschaft trennen lässt, kann sie nicht von Neurobiologie und Hirnforschung getrennt werden. Die Wiederherstellung der Sprachfähigkeit nach Läsionen des Gehirns etwa durch Unfälle oder Schlaganfälle ist auf neurobiologische und neuromedizinische Erkenntnisse angewiesen.
Die Frage nach dem Ursprung der S. ist mit der Philosophie entstanden, hatte aber noch bei Johann Gottfried Herder keine naturwissenschaftliche oder historisch-genetische Bedeutung. J. G. Herders Frage ist zeitlos gemeint und will Prinzipien der Entstehung von S. finden. Er glaubt, dass S. aus dem Wesen des Menschen zu begründen ist. Einen Zusammenhang mit den Lautäußerungen der Tiere lehnt er ebenso ab wie die Herkunft aus dem Kommunikationsbedürfnis. Auch einen göttlichen Ursprung der S. verneint J. G. Herder. Wilhelm von Humboldt glaubt auch an den Ursprung aus dem Wesen des Menschen, sieht aber einen engen empirischen Zusammenhang zwischen den Lauten, dem Denken und der Erfahrung. Erfahrung ohne Denken hält er für ebenso unmöglich wie Denken ohne die Verwendung lautlicher Zeichen. Er glaubt, dass das Denken sprachabhängig ist und grenzt S. und Denken nicht voneinander ab. Der Begründer der modernen Linguistik, Ferdinand de Saussure (Strukturalismus), unterscheidet dagegen den „äußeren“, von Geschichte, Politik und Kultur geprägten, Bezirk der Linguistik vom „inneren“, das Sprechen (parole) von der S. (langue). F. de Saussure versteht die S. als ein System. Es besteht aus einer Menge von Sprachelementen (Vokabular). Die Elemente dieser Menge sind miteinander durch „Anreihungen“ (z. B. „für uns“, „ab-reißen“) oder assoziativ (z. B. „Belehrung“, „Bekehrung“) verkettet. Nach F. de Saussure entsprechen diese beiden Beziehungen der Elemente „zwei Arten unserer geistigen Tätigkeit“ (Saussure 1967: 147). Er erklärt diese Beziehungen unabhängig vom „äußeren Bezirk“ (Diachronie) der S. Das Sprachsystem betrachtet er nur synchron, unabhängig von den Bedingungen seiner Entstehung. Diesem Internalitätsprinzip der Spracherklärung folgt auch Noam Chomsky. Er reduziert den Begriff der S. auf die syntaktischen Strukturen von Sätzen. Die Syntax bzw. Grammatik ist die Beschreibung der Regeln, die dem Sprachverhalten zugrunde liegen und damit die Beschreibung des idealen Sprechers und Hörers in seiner S. Die so charakterisierte Sprachkompetenz hat in N. Chomskys strukturalistischer Linguistik Vorrang vor der Performanz, dem Sprachgebrauch. Er entwickelt mit mathematischen Mitteln den Begriff der generativen Grammatik: mit einem endlichen Vokabular und einer endlichen Menge von Regeln kann eine unendliche Menge an Sätzen erzeugt werden. Die Fähigkeit dazu folgt Rekursivregeln, die beliebig oft auf die Ergebnisse ihrer Befolgung angewandt werden können. Die generative Grammatik soll die internen mentalen Strukturen und Prozesse beim Sprechen repräsentieren. N. Chomsky vertritt nicht die These von Benjamin Lee Whorf, dass das linguistische System in Gestalt der Grammatik die Gedanken der Menschen formt. Dem Erwerb aller menschlichen S.en liegt, wie N. Chomsky glaubt, die von ihm konstruierte, angeborene Universalgrammatik mit den identischen Mustern der syntaktischen Kategorien von Nomen und Verb (linguistische Universalien) voraus. N. Chomsky wird ein reduzierter Sprachbegriff vorgeworfen, der nicht beachte, dass S. nicht aus isolierten Sätzen bestehe, sondern eingebettet sei in das außersprachliche menschliche Handeln (Handeln). Die neuere Linguistik berücksichtigt dagegen außersprachliche Faktoren und beschreibt mit theoretischen Mitteln Sprachvariation und Sprachveränderung. Die Theorie der Syntax wird durch Pragmatik und Semantik ergänzt. „Semantik“ steht für das Verhältnis der Zeichen zu den Gegenständen, „Pragmatik“ für die Beziehungen zwischen Zeichen und Benutzer, „Syntax“ für das formale Verhältnis der Zeichen untereinander. Diese auf Charles William Morris zurückgehenden Unterscheidungen sind nicht scharf, sondern gehen ineinander über.
Dies gilt v. a. für die theoretische Untersuchung des Zusammenhangs von S. und Kommunikation. C. W. Morris bestimmt in Anlehnung an George Herbert Mead S. als Kommunikations-System. Dieses System bestehe aus konventionalen Zeichen, die nach bestimmten Regeln kombiniert und artikuliert werden. Es sei ein von Menschen gemachtes System. G. H. Mead erläutert den Symbolcharakter der Zeichen als signifikante und bewusste Gesten. Kommunikation entstehe dann bewusst, wenn Gesten zu Zeichen würden. Dann erhielten sie für das Individuum, das sie verwendet und beantwortet, bestimmte Bedeutungen. Hinter dieser Zeichentheorie (Semiotik) steht G. H. Meads Auffassung, Kommunikation entstehe im sozialen Prozess der wechselseitigen Anpassung individueller menschlicher Akte. Ein Individuum übernehme dabei die Rolle eines anderen. Der „generalized other“ (Mead 1974: 154) entstehe in diesem Rollenspiel. Die Position G. H. Meads ist von einem der Gründer des amerikanischen Pragmatismus, John Dewey, beeinflusst. J. Dewey war überzeugt, dass sprachliche Bedeutung überhaupt erst durch Kommunikation entsteht. G. H. Mead erweitert diese Auffassung um die Dimension der Teilnahme am Anderen. Die Übernahme der Rolle des Anderen eröffnet die Möglichkeit, das Verhalten des Anderen ebenso wie sein eigenes selbstbewusst und selbstkritisch zu prüfen. Auf diese Weise wird durch Kommunikation soziale Kontrolle möglich.
Jürgen Habermas stellt sich in die von G. H. Mead begründete Tradition. G. H. Meads Theorie sei bereits auf den Entwurf einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ (Apel 1976: 431) angelegt. Er selbst leitet aus diesem Ideal die Maßstäbe vernünftiger, wahrheitsfähiger Kommunikation ab und rekonstruiert damit Intersubjektivität als zwanglose Verständigung der Individuen miteinander ebenso wie die Selbstidentifikation. J. Habermas’ Kommunikationstheorie lehnt sich an die Theorie der Sprechakte (Analytische Philosophie) an. Die universalen Normen des wahrhaften, wahren, verständlichen und richtigen Sprachgebrauchs dienen der Begründung einer zwangfreien, rationalen Kommunikation. Ihr Ziel ist nicht nur die Lösung von Verständigungsproblemen, sondern auch die Aufklärung verdrängter und verdeckter Gewaltverhältnisse (Gewalt) in der menschlichen Sozialgeschichte. Diese Verhältnisse spiegeln sich in der S. und ihrem Gebrauch. Tatsächlich reflektiert der Sprachgebrauch nicht nur die sozialen Beziehungen, sondern beeinflusst auch die soziale, ökonomische und politische Ungleichheit.
Basil Bernstein hat dies im Hinblick auf das Sprachverhalten von Kindern und deren Lernfähigkeit (Pädagogische Anthropologie) empirisch untersucht. Seine These ist, dass Kinder der Mittelschicht aufgrund ihrer soziokulturellen Umwelt befähigt sind, nicht nur auf eine „öffentliche“, d. h. durch lokale Tradition gebundene und durch starre syntaktische Strukturen gekennzeichnete, S. zu reagieren, sondern eine ungebundene (sogenannte formale) S. zu handhaben: sie eröffnet eine größere Zahl sozialer Beziehungen, als sie Kindern offenstehen, die lediglich eine „öffentliche“ S. sprechen. B. Bernstein zeigt, dass der Sprachgebrauch dazu dient, die Einflüsse der jeweiligen soziokulturellen Umwelt zu einer Synthese zu vereinigen. Kinder lernen die sozialen Strukturen, in denen sie leben, durch deren S.n kennen. Allgemein gilt, dass bestimmte S.n innerhalb einer Gesellschaft bestimmten sozialen Strukturen korrespondieren, mit denen sich Menschen bewusst oder unbewusst identifizieren. S. kann aufgrund dieser Korrespondenz als Instrument der Beeinflussung und Manipulation von Überzeugungen missbraucht werden. Sie kann aber auf derselben Basis auch zur Aufklärung irrationaler und falscher Überzeugungen dienen. Die neuere Linguistik entwickelt theoretische Instrumentarien, um diese sozialwissenschaftlichen Bedingungen der Kommunikation berücksichtigen zu können. Sie bemüht sich auch, eine Verbindung zwischen theoretischer Linguistik und Sprachphilosophie anhand einer Analyse der mereologischen, relationalen Strukturen der S. herzustellen.
Literatur
D. Poeppel: The Neuroanatomic and Neurophysiological Infrastructure for Speech and Language, in: Current Opinion in Neurobiology 28 (2014),142–149 • E. Leiss: Sprachphilosophie, 2009 • R. R. Hausser: Surface Compositional Grammar, 1984 • J. Habermas: Theorie kommunikativen Handelns. Bd. 2, 1981 • G. Seebaß: Das Problem von Sprache und Denken, 1981 • N. Chomsky: Reflexionen über die Sprache, 1977 • H. Fricke: Die Sprache der Literaturwissenschaft, 1977 • K.-O. Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2, 1976 • A. V. Cicourel: Cognitive Sociology, 1974 • G. H. Mead: Mind, Self, and Society, 191974 • D. Wunderlich: Grundlagen der Linguistik, 1974 • H. Holzer: Kommunikationssoziologie, 1973 • B. Bernstein: Class, Codes and Control, Bd. 1, 1971 • F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 21967 • S. Ullmann: Grundzüge der Semantik, 1967 • N. Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax, 1965 • B. L. Whorf: Language, Thought and Reality, 1956 • W. von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (1827–1829), in: ders: Ges. S., Bd. 6, Erste Hälfte, 1907, 111–303 • J. G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, 1891, 1–154.
Empfohlene Zitierweise
W. Vossenkuhl: Sprache, II. Sprache und Kommunikation, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sprache (abgerufen: 21.11.2024)
III. Sprache in Politik und Gesellschaft
Abschnitt druckenPolitik bewegt sich im Spannungsverhältnis von Konsens und Konflikt. Um den Einsatz von physischer Gewalt zu vermeiden, benutzt Politik S. als wichtigstes Zeichensystem der Gesellschaft. Mit ihr werden Ziele dargestellt und Zustimmungsbereitschaft ersucht. S. ist nicht nur Kommunikationsinstrument, um Übereinstimmung, Unterscheidung oder Gegnerschaft zu eruieren, sondern auch Handlungsanleitung zur Erreichung des angestrebten Zieles. S. wird so zum kaum überschätzbaren Mittel der Sozialisation, indem sie Teilhabe am wichtigsten Symbolsystem der Gesellschaft ermöglicht. Die Kernbereiche der politischen S. sind Rhetorik, Sprachpolitik und Felder der politischen S.; bei letzteren spielen Schlüsselbegriffe eine wichtige Rolle.
1. Rhetorik
Im Anfang der Beschäftigung mit der politischen S. stand die Rhetorik. Als mit dem Ende der Tyrannis in den griechischen Stadtdemokratien politische Auseinandersetzung möglich wurde, entdeckten v. a. Platon und Aristoteles ihre Bedeutung für die Politik. Rhetorik lieferte immer wieder Referenzrahmen für die beiden zentralen Alternativen der politischen Ordnung: einerseits ein für Meinungsfreiheit offenes Staatswesen und andererseits eine vom Wahrheitsanspruch (Wahrheit) einiger Weniger geleitete geschlossene Ordnung. Aristoteles bindet die Rhetorik an die Demokratie, also an Rede und Gegenrede. Ziel ist es, in der Öffentlichkeit zu politischen Entscheidungen zu kommen und gemeinsames Handeln (Handeln) festzulegen. Beredsamkeit und Überzeugungskraft gewinnen immer dann an Bedeutung, wenn die Willensdurchsetzung von Machthabern durch Wettbewerb der Meinungen abgelöst wird. Umgekehrt verliert Rhetorik immer dann an Bedeutung, wenn absolute Fürsten (Absolutismus) oder ständisch-feudale Herrscher politisch entscheiden, unter denen die Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen ist. Anders war dies bei den totalitären Diktatoren des 20. Jh. (Totalitarismus). Sie konnten auf Öffentlichkeit nicht verzichten, weil S. jetzt dazu diente, Massen zu mobilisieren, zu indoktrinieren und ideologische Geschlossenheit zu erzeugen. Rhetorik war im Nationalsozialismus wie im Kommunismus ein Mittel zur Legitimation der Herrschaftssysteme. In totalitären Systemen wird Rhetorik monologisch eingesetzt („von oben nach unten“), in pluralistischen jedoch dialogisch („auf Augenhöhe“).
Die Instrumentalisierung der Rhetorik für autoritäre und totalitäre Zwecke zeigt ihre ethische Ambivalenz, die im Umschlag zu Propaganda und Demagogie zu erkennen ist. Allerdings befördert oder verhindert nicht die Kunst der Rhetorik politische Entwicklungen, sondern Menschen, die sich ihrer zum Zwecke der Überzeugung oder Überredung bedienen. Der Erfolg solcher Bemühungen hängt von den politischen und kommunikativen Rahmenbedingungen ab, unter deren Herrschaft politische Rhetorik und damit auch politische Terminologie entfaltet werden.
2. Sprachpolitik
Hier wird S. selbst zum Gegenstand politischen Handelns. Jeder Staat betreibt Sprachpolitik, indem er seine Amts-S.(n) festlegt. In Staaten mit verschiedensprachiger Bevölkerung ordnet sie das kommunikative Zusammenleben. Innerhalb einer faktisch oder tendenziell einsprachigen Gesellschaft bezieht sie sich auf Aufbau, Normierung und Pflege der Amts-S. Wenn eine S. wie Deutsch in mehreren Ländern als Amts-S. fungiert, sind regierungsamtlich indizierte Veränderungen, z. B. in der Orthographie, nur schwer durchzusetzen, wie die bis heute umstrittene Rechtschreibreform der 1990er-Jahre zeigte, an der neben Deutschland auch Österreich, die Schweiz, Frankreich und Belgien beteiligt waren.
Die außenpolitische Variante der Sprachpolitik ist der Export der eigenen S. in anderssprachige Staaten: eine Aufgabe der auswärtigen Kulturpolitik. Dieses Angebot muss unterschieden werden von einer Sprachausbreitung v. a. aus ökonomischen und militärischen Gründen, wie sie für die Epoche des Kolonialismus typisch war. Sie hat teilweise auch noch heute, etwa in Afrika, sprachpolitische Konsequenzen, wie z. B. die Frankophonie.
a) S.n-Frage: Sie kann pluralistisch durch das Prinzip gleichberechtigten Nebeneinanders mehrerer S.n innerhalb eines Staates gelöst werden (z. B. Schweiz) oder zentralistisch zur Durchsetzung einer einheitlichen S. im gesamten Staatsgebiet (National-S.). Für die BRD ist Deutsch überall Amts-S.; im Norden und Osten sind Friesisch, Dänisch, Sorbisch und Romanes als Minderheits-S.n anerkannt, seit 1994 auch Plattdeutsch. Ähnliches gilt für Frankreich; auch hier genießen Minderheits-S.n wie Baskisch, Bretonisch, Korsisch und Okzitanisch staatliche Anerkennung. Anders der Sprachpluralismus: Er beruht rechtlich entweder auf dem Territorialprinzip (Aufteilung des Staatsgebietes in mehrere, jeweils einsprachige Gebiete, z. B. harmonisch Schweiz oder konfliktuell Belgien), oder aber dem Personalprinzip (Aufteilung der Bevölkerung in Sprachgruppen mit jeweils eigenen Rechten, z. B. Südtirol).
b) Sprachwandel: Jede S. ist ein lebendiges System, dessen sich Menschen bedienen, deren Vorstellungswelten sich verändern. Nicht eine zentrale Instanz bewirkt Wandel, sondern jene Berufsgruppen, deren Handwerkszeug die S. ist, also Lehrer, Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller. Politische Moden kennzeichnen das, was üblicherweise gesagt werden kann, ohne anzuecken (Political Correctness).
c) Sprachbeeinflussung: Hierunter versteht man die Anstrengung amtlicher oder mit hoher Autorität ausgestatteter Institutionen, Einfluss auf den Sprachgebrauch und seine Veränderungen zu nehmen: z. B. staatliche Vorgaben für den muttersprachlichen Unterricht in der Schule, die Normung der Terminologie oder die Namensgebung von Straßen, Brücken o. ä., die v. a. den kommunalen Vertretungskörperschaften kreative Spielräume verschaffen.
d) Sprachlenkung: So heißen alle Maßnahmen, mit denen eine zentrale Instanz die Verwendung politischer Termini gebietet oder verbietet. Sie ist in autoritären oder totalitären Systemen die Regel, weil sie die Gleichschaltung aller konkurrierenden Institutionen (Verbände, Medien) unter einen politischen Willen voraussetzt. Diese Regime nutzen ihr Herrschaftsmonopol, um im öffentlichen Sprachgebrauch Begrifflichkeiten einschließlich ihrer ideologischen Konnotationen (Ideologie) durchzusetzen. Beispiele sind die Presseanweisungen des Reichspropagandaministeriums während der NS-Herrschaft, später in der DDR ähnliche Vorschriften, denen die Medien Folge zu leisten hatten. Wie sich der Sprachgebrauch der Medien in die Öffentlichkeit transponierte, zeigen Victor Klemperer für den NS-Staat und Jean-Paul Picaper für die DDR.
3. Felder der politischen Sprache
Wenn über politische Themen oder aus einer Machtposition öffentlich geredet wird, gehören diese Äußerungen zur politischen S. Man unterscheidet idealtypisch fünf wesentliche Felder, wobei die Übergänge fließend sind.
a) Die S. der Gesetzgebung und Rechtsprechung hat zur Aufgabe, die Handlungen der Bürger vorzuprägen, durch Gebote und Verbote für ein an den gesetzlichen Normen ausgerichtetes Verhalten zu sorgen. Für sie ist Schematisierung kennzeichnend, denn ihre Anweisungen sollen auf alle Bürger anwendbar sein. Individualität wird hier sprachlich nicht berücksichtigt.
b) Die S. der Verwaltung gibt Handlungsanweisungen, ob in der Form eines Steuerbescheids oder eines militärischen Befehls. Auch die Verwaltungs-S. hat eine stark dezisionistische Komponente; sie ist eine Fach-S.: terminologisch durchgegliedert, präzis, sachbezogen.
c) Die S. der Verhandlung präsentiert sich geschmeidiger in der Formulierung und verbindlicher im Ton. Ihre Aufgabe besteht eher darin, Übereinstimmung herbeizuführen als einen Sachverhalt an sich darzustellen. Sie entwickelt ein abgestuftes System von Formulierungen, das dem Sprecher erlaubt, seinem Partner die eigenen Interessen und Ziele darzulegen, ohne verbal in Konflikt mit dessen Interessen und Zielen zu kommen (diplomatische S.).
d) Die S. der politischen Erziehung soll eine normative Struktur errichten und politische Meinungen bilden. Sie ist emotiv, flexibel und argumentativ. In der politischen Bildung, in Schule und Hochschule wie im nachdenklicheren Teil der Massenmedien dient sie dazu, politische Werte und Überzeugungen zu begründen. Die polemische Komponente wird stark zurückgenommen, die Positionen des angenommenen Gegners werden in der Präsentation der eigenen Position dargestellt, um sie mit überzeugender Argumentation zurückweisen zu können.
e) Die S. der politischen Auseinandersetzung wird v. a. in politischen Reden und der Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und Parteien benutzt. Sie soll Handlungen auslösen, indem bestehende Wertstrukturen und Meinungen bestätigt oder verändert werden. Sie ist ebenso emotiv und werthaltig wie die S. der politischen Erziehung, besitzt jedoch nicht deren Flexibilität und Argumentationsfähigkeit: Die Präzision ihrer Begrifflichkeit ist vage, um den Kreis ihrer Adressaten möglichst groß zu halten. Diese S. ist das wichtigste Medium des sprachlich geführten Kampfes um politische Macht. Ihre Begriffssysteme verfügen über einen hohen Grad an Emotionalität und eine im Vergleich mit den anderen Sprachfeldern der Politik starke polemische Komponente. Die Darstellungsfunktion der S. tritt hinter ihre appellative Leistung zurück. Je stärker der Appell dominiert, desto eher kann von Propaganda gesprochen werden.
4. Schlüsselwörter
Die politische S. wird häufig als S. der Begriffe wahrgenommen, die die politische Auseinandersetzung charakteristisch prägen. Begriffe sind nicht nur Symbole wie Wörter, die als Namen oder Zeichen für einen Gegenstand oder eine Handlung stehen. Die Bedeutung von Wörtern wird durch den allgemeinen Sprachgebrauch geregelt, während Begriffe normierte oder normierende Bedeutung haben. Begriffe sind verdichtete Symbole, die für Zusammenhänge stehen und durch sie bestimmt werden. Erst diese Zusammenhänge bestimmen ihre Bedeutung. Ohne Zusammenhänge sind sie unvollständig, ergänzungsbedürftig, „ungesättigt“ (Frege 1975: 22). Begriffe werden so zu „Orientierung über Orientierungen“ (Orth 1978: 147). Weil sie mit Werten aufgeladen sind, eignen sie sich für die Politik als Mittel im Kampf um Macht. V. a. ihre idealtypische Verwendung macht Schlüsselwörter in Politik und Geschichte so erfolgreich. Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, aber auch Demokratie, Fortschritt und Sozialismus fungieren als Schlüsselwörter, die Parteinahme verlangen. Sie sind an einem Begriff festgemachte Zukunftsentwürfe mit Vergangenheitsdeutungen, die politische Philosophien suggerieren, ohne sie deutlich zu explizieren. Die hohe Verwendungsfrequenz solcher Schlüsselwörter markiert die Möglichkeiten ihrer ideologischen Aufladung. Auch umgekehrt gilt: Diese Ideologisierbarkeit ist Voraussetzung ihrer Wirksamkeit im Kampf um Macht. Die der politischen S. aus dem ideologischen Potenzial ihrer zentralen Begriffe zufließende Irrationalität erschwert die rationale Perzeption der Politik. Sie trägt dazu bei, die jahrhundertealte Aversion gegen Politik auch unter den Mitwirkungsmöglichkeiten der parlamentarischen Demokratie (Parlament) am Leben zu erhalten. Die Forderung nach mehr Rationalität in der politischen S., nach mehr Präzision und inhaltlicher Konstanz in der Verwendung ihrer zentralen Begriffe ist deshalb ein politikwissenschaftliches und demokratietheoretisches Postulat, um die Zukunftsfestigkeit der pluralistischen Demokratie (Pluralismus) zu stärken.
Literatur
T. Niehr/J. Kilian/M. Wengeler (Hg.): Hdb. Sprache und Politik, 3 Bde., 2017 • J. Klein: Von Gandhi und al-Qaida bis Schröder und Merkel, 2016 • H. D. Schlosser: Die Macht der Worte, 2016 • W. Bergsdorf: Rhetorik und Stilistik in der Politologie, in: U. Fix/A. Gardt/J. Knape (Hg.): Rhetorik und Stilistik, Bd. 2, 2009, 1842–1855 • M. Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, 2009 • U. Pörksen: Die politische Zunge, 2002 • J. Kopperschmidt: Politik und Rhetorik, 1995 • M. Opp de Hipt/E. Latniak (Hg.): Sprache statt Politik? Politikwissenschaftliche Semantik- und Rhetorikforschung, 1991 • V. Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, 41987 • W. Bergsdorf: Herrschaft und Sprache, 1983 • K. D. Bracher: Schlüsselwörter der Geschichte, 1978 • E. W. Orth: Theoretische Bedingungen und methodische Reichweite der Begriffsgeschichte, in: R. Koselleck (Hg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte, 1978, 136–153 • J.-P. Picaper: Kommunikation und Propaganda in der DDR, 1976 • W. Dieckmann: Sprache in der Politik, 21975 • G. Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung, 41975 • H. D. Lasswell/N. Leites: Language of Politics, 1968.
Empfohlene Zitierweise
W. Bergsdorf: Sprache, III. Sprache in Politik und Gesellschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sprache (abgerufen: 21.11.2024)