Spiel

Trotz aller erdenklichen Unterschiede haben die heute noch existierenden ca. 4 500 Säugetierarten eine evolutionsentscheidende Eigenschaft gemeinsam: Sie spielen, sie lernen und – im besten Falle – sie innovieren. Auch der Mensch, mit Friedrich Nietzsche kulturkritisch als „vernunftbegabtes Raubtier“ (1954: 785) verstanden oder anthropologisch als „homo ludens“ (Huizinga 1939) konstruiert, ist insb. in seiner Kindheit, teils auch bis ins hohe Alter hinein ein ausgelassener Spieler voller Neugierde, Lerneifer und Explorationsdrang. Dabei werden im Folgenden zunächst vier Diskurse über das Phänomen S. gebündelt, danach die Formen des S.s aufgezeigt und schließlich der pädagogische Zugang und die Förderung des S.s einer kritischen Würdigung unterzogen, ein kurzes Fazit rundet den Beitrag ab. Aufgrund der Weite und Multidisziplinarität des Themas sowie der besonderen Entwicklungsbedeutung für Kinder wird das Thema vorwiegend aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive auf das Lebensalter der frühen Kindheit fokussiert.

1. Diskurse um das Phänomen Spiel

Verhaltensbiologisch betrachtet sind alle Säugetiere in ihrer Kindheit und Jugend ausgesprochene „Neugierwesen“, die aktiv neue Situationen und Objekte aufsuchen, explorieren und spielen. Dieses spielerische Verhalten war und ist Gegenstand zahlreicher Studien etwa aus der Biologie, der Anthropologie, der Kulturwissenschaft oder aus der Wirtschaftswissenschaft. Derzeit lassen sich vier zentrale Diskurse im Themenfeld S. differenzieren: Der a) sozialromantische, der b) wirtschaftswissenschaftliche, der c) entwicklungspsychologische und der d) Diskurs um die Merkmale des S.s.

a) Der in der Epoche der Aufklärung einsetzende sogenannte sozialromantische Diskurs über die pädagogische Bedeutung des S.s, prominent etwa von Jean-Jacques Rousseau, Heinrich Pestalozzi, Friedrich Schiller oder Friedrich Fröbel vertreten, fasst dabei S. als etwas ausschließlich Positives und die frühe Kindheit als reine S.-Zeit, als Zeit der Unschuld und unverbildeten Natürlichkeit. Diese naturalistische Sichtweise, die im heutigen Alltagsverständnis Lernen und Spielen zumeist als Gegensätze begreift und spätestens mit dem Zeitpunkt des Schuleintritts die durchaus bedauernde Vorstellung verbindet, die „S.-Zeit“ sei nun endgültig vorbei (vgl. Leuchter 2013: 575), prägt aktuell die herrschende westliche Meinung.

b) Etwa seit den 1970er Jahren spielt die von John von Neumann und Oskar Morgenstern 1944 begründete Spieltheorie im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs eine wichtige Rolle. In diesem Verstehenshorizont wird S. als eine mathematische Methode verstanden, die das Handeln der Akteure auf einem Markt als S. auffasst. Ziel dabei ist das Verständnis von rationalem Verhalten in Entscheidungssituationen, das nicht nur vom eigenen, sondern auch vom Verhalten anderer Akteure beeinflusst wird (vgl. Wildmann 2014: 203 ff.).

c) Insb. die in der ersten Hälfte des 20. Jh. entstandene Kindheitspsychologie hat unser Denken über das S. am einflussreichsten geprägt. Es ist evident, alle Kinder haben von Anfang an das natürliche Bedürfnis nach spielerischer Betätigung. Auch ist die existenzielle Bedeutsamkeit des S.s für eine gesunde biopsychosoziale Entwicklung, für kulturelle Teilhabe und für das Wohlbefinden des Kindes mittlerweile unumstritten und seit 1989 in Art. 31 der UN-KRK rechtlich geschützt: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit an, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben“.

d) Der vierte Diskursstrang widmet sich dem Phänomen S., seinen Merkmalen und Wesensmomenten. Statt einer Definition ist hier in Anschluss an Johan Huizinga, Andreas Flitner und Hans Scheuerl eine phänomenologische Explikation zielführender. Somit kann unter einem S. eine Handlung, eine Geschehniskette oder auch eine Empfindung verstanden werden, die intrinsisch motiviert ist, durch freie Wahl entsteht, ihr Ziel in sich trägt (Prozess vor Ergebnis), von positiven Emotionen begleitet ist, eine Balance von Unter- und Überforderung anstrebt, ein gewisses Flowerleben ermöglicht und sich i. S. eines So-tun-als-ob von realen Lebensvollzügen absetzt.

Insgesamt ist die Diskussion um S. sehr normativ aufgeladen, intrinsische Motivation und das Fehlen von äußeren Zielen werden dabei häufig mit dem Spielen in der Kindertagesstätte identifiziert; Lernen wird dagegen mit extrinsischer Motivation assoziiert und unter die Bedingung der Erreichung von äußeren Zielen – bspw. guten Noten in der Schule – gestellt. Gouvernementalitätsstudien untersuchen derzeit die sozialen Konstruktionen hinter den aufgezeigten Diskursen.

2. Formen des Spiels

Bereits dem intrinsisch motivierten S. unter dreijähriger Kinder liegt eine gewisse Intentionalität zugrunde. Diese spiegelt sich kongruent zu den einzelnen Entwicklungsabschnitten in Form der priorisierten S.-Formen der Kinder wider. Der Übergang zwischen den einzelnen S.-Formen gestaltet sich fließend und entspr. des soziokulturellen sowie ökosozialen Hintergrunds des Kindes.

Das Übungs-S. (sensomotorisches S., Funktions-S., Explorations-S.) führen Säuglinge bereits ab der Geburt aus. Hier stehen die Wiederholung sowie das Austesten der Körperfunktionen im Modus eines Ursachen-Wirkungsprinzips im Vordergrund der S.-Freude. Das Symbol-S. (Illusions-S., Fantasie-S.) setzt etwa ab dem ersten Lebensjahr ein und zeichnet sich durch das Nachspielen bestimmter Handlungen oder Verhaltensweisen aus. Diese S.-Form zeigt sich zunächst in Form der gegenseitigen Nachahmung bei Kindern i. S. eines Parallel-S.s, welches als Voraussetzung für das später einsetzende Konstruktions- sowie das soziale Rollen-S. gilt (Soziale Rolle). Dieses setzt zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr bei Kindern ein, wenn sie sich auf einen „gemeinsamen Gegenstandsbezug“ (Renner 2008: 114) zur Initiierung von Geschichten und Rollenzuschreibungen einigen können. Auch wenn grundsätzlich alle bisher aufgezeigten S.-Formen gewissen Regeln unterliegen, sind beim Regel-S. die Regularien im Besonderen spielleitend, auch wenn das Handeln der Spieler „im Rahmen der Regeln prinzipiell offen“ (Fritz 2004: 59) bleibt. Das Regel-S. mündet in Wettkampf-S.e bei Kindern ab sechs Jahren.

3. Pädagogischer Zugang und Begleitung des Spiels

Die pädagogische Begleitung des kindlichen S.s ist in ihrem spezifischen Verständnis von S. bereits ambivalent zu hinterfragen. Wie kann zwischen S. und Nicht-S. pädagogisch unterschieden werden? Während Kinder ein spezifisches Verhalten und Handeln womöglich als spielerisch einstufen, kann dieses Verhalten von Erwachsenen als Ungehorsam oder bewusste Provokation erlebt werden. Das spielerische Verhalten steht demnach in vielen Fällen in einer engen Verknüpfung mit der Gesamtsituation und dem Zusammenwirken der beteiligten Personen. Die „ökologische Spielforschung“ legt darüber hinaus einen Fokus auf das „Wechselverhältnis von Spiel und Umweltgegebenheiten“ (Schäfer 2011: 180) als weiteren wesentlichen Einflussfaktor auf das kindliche S. Dieses verortet sich demnach stets in der aktuellen Lebenswelt und spiegelt auch „gesellschaftliche Einflüsse mit ihren Normen, Rollenstrukturen und übergreifenden Wertvorstellungen wider“ (Fritz 2014: 110).

Damit das Kind in das Phänomen S. und in eine „Spielwelt“ (Fritz 2014: 32) vordringen kann, braucht es verlässliche Bezugspersonen und Bindungen. Hier gilt zu beachten, dass „nicht nur die verlässliche Befriedigung primärer Bedürfnisse, sondern auch die Anregung und Befriedigung von Spielbedürfnissen einen wichtigen Entwicklungsbeitrag leisten“ (Renner 2008: 105). Dies ist im Besonderen im Hinblick auf die Vermeidung von S.-Hemmungen bei Kindern zu beachten. „Die Freiheit des Spiels besteht geradezu darin, dass jede Festlegung und Fesselung an einen eindeutigen ‚Aktionstunnel‘ fehlt“ (Scheuerl 1990: 87). Das freie S. und die Erfahrung eigener S.-Dynamiken stellen demnach für alle Kinder bedeutsame Möglichkeitsräume dar. Auch wenn die Themen „Lernen, Bildung und Förderung“ (Stenger 2014: 273) die Diskurse in der Frühpädagogik seit vielen Jahren dominieren, darf das kindliche S. nicht aus dem Blick geraten: „Das Spiel ist ein zentrales Bildungsmedium – nicht nur in der Kindheit“ (Stenger 2014: 274).

4. Fazit

Aktuell ist eine Tendenz zur „Ludifizierung von Alltagspraxen“ jenseits der Domäne S. zu beobachten. Trendbegriffe wie Gamification, Gamifizierung oder Spielifizierung beschreiben Übertragungsprozesse, in denen spieltypische Merkmale und Vorgänge in spielfremde Kontexte transformiert werden mit dem Ziel der Verhaltensänderung und Motivationssteigerung. Dies findet nicht mehr nur digital und online im Unterhaltungs- und Werbebereich statt, sondern vermehrt Anwendung im Fitnessbereich, beim Shopping, in betrieblichen Produktionsprozessen und in pädagogischen Lernumgebungen und knüpft an älteren Formaten wie Game-based Learning, Edutainment oder Serious Games an (vgl. Raichle 2016: 222 ff.). Einem zukünftigen ideologiekritischen Diskurs bliebe es vorbehalten zu klären, wo die Grenze zwischen Motivation und Manipulation gezogen werden könnte.