Judentum
1. Begriff
Der Begriff „J.“ wird gewöhnlich vom griechischen Abstraktnomen Ioudaismós abgeleitet, das man etwa mit „judäische/jüdische Kultur und Lebensweise“ übersetzen kann. Der Terminus entwickelte sich im Kontext der kulturellen Auseinandersetzung mit dem Hellenismus, der nach der Eroberung der südlichen Levante durch Alexander den Großen (332 v. Chr.) seinen Einfluss zu entfalten begann. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels zu Jerusalem (70 n. Chr.) und im Zuge der Identitätsfindung des werdenden Christentums beanspruchten die Anhänger Jesus von Nazaret den biblischen Volks- und Verheißungsnamen Israel für sich, indem sie sich selbst als das Neue Israel kennzeichneten. Für ihre jüdischen „Gegner“ hingegen nutzten sie den Begriff Ioudaismós/J., der sich sukzessive auch als Selbstbezeichnung etablierte. „Das J.“ ist seit seiner Entstehung im 2. Jh. v. Chr. stets eine pluralistische Erscheinung gewesen – und ist es noch. Trotzdem zeigen sich bei aller Vielfalt der Kulturen, Sprachen und Siedlungsräume einige Konstanten: die Tora (hebräisch: Weisung; fünf Bücher Mose bzw. die Bibel), in hebräischer Sprache sorgfältig studiert und aktualisiert; das Land Israel als konzeptionelle oder tatsächliche Heimat; sowie das Volk Israel als eine ethnisch-religiös konnotierte Gemeinschaft. Erst im 19. Jh. machten sich Risse in diesem prägenden Rahmen bemerkbar. Es entwickelten sich säkulare Strömungen (bspw. große Teile der zionistischen Bewegung, Zionismus), die sich zwar nicht mehr auf die Tora bezogen, wohl aber auf die hebräische Sprache, das Volk und das Land Israel. Andererseits entstanden jüdische Konfessionen (wie das liberale J.), die sich zwar auf die Tora, nicht aber auf das Land Israel und weniger auf die ethnische Dimension des J.s stützten.
2. Geschichte
2.1 Spätantike und Mittelalter
Das J. entwickelte sich etwa ab dem 2. Jh. n. Chr. (somit zeitgleich mit dem Christentum) zu einer ethnisch-kulturell-kultisch bestimmten Gemeinschaft. Beide bezogen sich auf die in der Bibel, dem sogenannten Alten Testament, beschriebene Religion Alt-Israels als ihre Herkunftstradition. Den wesentlichen Impuls für diese Neuausrichtung beider vermittelten mehrere gescheiterte Aufstände gegen das Imperium Romanum. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n. Chr. sahen sich die überlebenden jüdischen Strömungen vor die Aufgabe gestellt, ihre ethnische, kulturelle und spirituelle Identität neu zu fassen. Dieser Prozess vollzog sich mit klaren gegenseitigen Abgrenzungen und Bezugnahmen zwischen dem 1. und dem 5. Jh. n. Chr.
In einer Phase der Resignation und teilweisen Akkulturation an die graeco-romanische Kultur entwarf eine marginale Gruppe von Gelehrten, die Rabbinen (von hebräisch Rav, Meister), ihr Konzept eines jüdischen Lebens ohne Tempel. Es basierte auf der Idee, die einst mit Jerusalem, dem Heiligtum und den täglichen Opfern verknüpfte Ordnung in jedes jüdische Haus zu transferieren. An die Stelle des priesterlichen Kults trat die Tora, die im täglichen Studium, im Tun der Gebote und im Gebet den Alltag und das Leben einen jeden von Israel prägen sollte. Das mutmaßlich erste schriftliche Zeugnis der Arbeit der Rabbinen, die Mischna (2./3. Jh.), spiegelte dieses Bestreben. Sie bietet eine Art heiliger Utopie, die in einer feindlich gesinnten Umwelt von Gewalt und Unordnung den Rückzug in eine innere Ordnung ermöglichen sollte. In den folgenden Jahrhunderten wuchsen die Schar der Gelehrten und ihr Einfluss auf das jüdische Leben. Ihre zunächst v. a. mündlich tradierten Auffassungen und Erzählungen wurden sorgfältig gesammelt, bis sie schließlich in den Babylonischen Talmud (7. Jh.) mündeten. Zu jener Zeit hatte sich das Zentrum jüdischen Lebens bereits aus der südlichen Levante in das Zweistromland verlagert. Grund für die jüdische Migration war der wachsende Druck, der durch die Christianisierung des Imperium Romanum, v. a. durch die antijüdischen Gesetze und Edikte der Kaiser nach Konstantin, auf die jüdische Minderheit ausgeübt wurde. Mittels der großen Schulen („Akademien“) der „babylonischen“ Rabbinen manifestierte sich nicht nur der steigende Einfluss der Gelehrten auf weite Teile der jüdischen Diaspora; in ihnen wurde auch der (babylonische) Talmud kompiliert und als maßgebliche Tradition durchgesetzt.
Die Eroberung des Sassanidenreichs und der südlichen Levante durch die muslimischen Araber im 7. Jh. bedeutete für die jüdischen Gemeinschaften eine Zeitenwende. Gewöhnlich identifiziert man deshalb den Beginn des jüdischen Mittelalters mit dieser Zäsur. Das jüdische Mittelalter kann als diejenige Epoche definiert werden, in der das J. unter die Fremdherrschaft islamisch und christlich geprägter Reiche geriet. Unter ihrem Einfluss prägten sich (neben etlichen kleineren) drei große Kulturkreise aus: der sefardische, der byzantinische und der aschkenasische.
Das sefardische J. (von hebräisch &Sakut;’farad, Spanien), benannt nach einem der bedeutendsten Zentren mittelalterlich-jüdischen Lebens, war bis zum Hochmittelalter die sowohl demographisch wie auch kulturell einflussreichste Gemeinschaft. Sie nutzte das Arabische als Wissenschafts- und Literatursprache und entwickelte eigene Varietäten der spanischen Dialekte, die sich nach der Vertreibung der Sefarden von der Iberischen Halbinsel im Jahre 1492 zum sogenannten „Judenspanisch“ verdichteten. Bis zur Jahrtausendwende lebten etwa 90 % der jüdischen Gemeinschaft unter islamischer Herrschaft, wo sie im Vergleich zum lateinischen Westen in der Regel größere Rechtssicherheit und eine deutlich bessere soziale und ökonomische Integration erfuhren. Der Einfluss der arabisch-islamischen Wissenschaft und Kultur auf die jüdische Gelehrtenwelt war enorm. Im Unterschied zu den anonym überlieferten Kollektivwerken der rabbinischen Ära entstand nun (wieder) eine Autorenliteratur. Sie war im Unterschied zum Talmud nicht enzyklopädisch ausgerichtet, sondern differenzierte sich entlang neu entstehender Einzeldisziplinen wie der Medizin, der Grammatik oder der rationalen Philosophie. Im Unterschied zu klar auf die Tradition bezogenen Werken war die wissenschaftliche und literarische Autorenliteratur in der Regel auf Arabisch verfasst.
Bis zu den Invasionen berberischer Muslime im 11. und 12. Jh. erlebte die jüdische Gemeinschaft in Andalus, dem muslimisch beherrschten Teil der Iberischen Halbinsel, eine beispiellose Blütezeit. Jüdische Poeten und Universalgelehrte schufen literarische, philosophische, historische, grammatische und medizinische Werke von bleibendem Rang. Einigen gelang es, sich in hohen politischen Positionen zu etablieren. Eine ähnliche Blütezeit erlebte die jüdische Gemeinschaft in denjenigen Regionen, die im Zuge der sogenannten Reconquista (rück)erobert wurden. Solange die christlichen Herrscher der jüdischen Eliten bedurften, um zur Entwicklung von Infrastruktur und Verwaltung der neu gewonnenen Gebiete beizutragen, schützten sie die Sefarden und statteten sie mit Privilegien aus. Das Blatt wendete sich jedoch dramatisch, als das lateinische Christentum im 13. Jh. zu einer systematischen Missionierung und Diskriminierung der (muslimischen und) jüdischen Minderheiten überging. Die Verfolgung von Juden und Muslimen äußerte sich in Gewalt und Massakern ebenso wie in Zwangsdisputationen und Missionspredigten. Sie gipfelte 1492 im sogenannten Al-Hambra-Dekret der Könige von Kastilien und Aragón und hatte die Vertreibung aller Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet zum Gegenstand, so sie sich nicht zum Christentum bekehrten. Nachdem Portugal sich den Verfolgungsmaßnahmen anschloss, hatte die größte und glanzvollste europäisch-jüdische Gemeinschaft zum Ende des 15. Jh. im Wesentlichen zu existieren aufgehört.
Bis zur Jahrtausendwende repräsentierten die Juden im Byzantinischen Reich die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft auf dem Gebiet des ehemaligen Imperium Romanum. Sie erlebten Perioden relativer Ruhe mit guter Integration in das soziale und ökonomische Leben ebenso wie Phasen der Unterdrückung. Ab dem 11. Jh. verschlechterte sich die Situation der jüdischen Gemeinschaften in Byzanz jedoch generell, bis in der Folge des Vierten Kreuzzugs (1204) das Imperium zerfiel. Einige der von Juden besiedelten Regionen gerieten unter lateinische Herrschaft, andere, v. a. Teile Kleinasiens und der Westen der Peloponnes, wurden von lokalen (griechischen) Regenten verwaltet. Die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahre 1453 markierte das Ende von Byzanz und brachte für dessen jüdische Bewohner eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen mit sich.
Die byzantinischen Juden, gelegentlich als Romanioten bezeichnet, verfügten über einen eigenen Ritus und entwickelten auf der Grundlage des Koiné-Griechischen eine eigene Sprache. Sie wird als Juden-Griechisch oder romaniotisch bezeichnet. Diese spezifische Kultur ging weitgehend unter, als das Osmanische Reich im 16. Jh. zum Ziel der Immigration Tausender Sefarden wurde, die fortan das Antlitz des jüdischen Lebens im einstigen Byzanz prägten.
In den lateinisch-sprachigen Gebieten Europas entwickelten sich gleich mehrere jüdische Gemeinschaften, unter denen die Juden des Midi (der Provence und des Languedoc) sowie die Juden in den verschiedenen Besitzungen Italiens auf eine bes. lange, ungebrochene Siedlungsgeschichte zurückblicken konnten. Während der Herrschaft der Karolinger durften sich, zum Zwecke des Fernhandels mit Luxusgütern aus dem Orient, jüdische Familien im Alten Reich niederlassen. Zwischen den jüdischen Gemeinden in Nordfrankreich (hebräisch Zarfat) und im Rhein-Main-Donau-Gebiet (hebräisch Aschkenas) entwickelte sich ein enger kultureller Austausch.
Obwohl vermutet werden kann, dass einige Städte entlang des Rheins (etwa Trier oder Köln) bereits während des Imperium Romanum jüdische Bewohner aufwiesen, können zwischen dem 5. und dem 9. Jh. (bisher) keine Belege für jüdische Gemeinden im fraglichen Raum erbracht werden. Zu den bedeutendsten jüdischen Gemeinden im Rhein-Main-Donau-Gebiet im frühen Mittelalter gehörten diejenigen in Mainz, Worms und Speyer, dazu Köln, Regensburg und Würzburg. Der Anteil an Juden in Aschkenas war bis zum Jahr 1000 äußerst gering; die Gemeinden umfassten meist nur wenige Familien. Bald entwickelten sich in den Häusern großer Gelehrter Talmudschulen, die (wie z. B. die Jeschiva von Mainz) weit über das Rhein-Main-Gebiet hinaus Schüler anzogen. So verließ der berühmte Bibel- und Talmudkommentator Schlomo ben Jitzchaki Rasch“i seine Heimatstadt Troyes, um in Worms zu studieren.
Bis zum sogenannten Bauernkreuzzug (Volkskreuzzug) von 1096 lebten die Gemeinden in Zarfat und Aschkenas zumeist in gutem Einvernehmen mit ihren christlichen Nachbarn. Entgegen der rechtlichen Vorschriften besaßen sie (mindestens in Zarfat) sogar Weinberge und betrieben Landwirtschaft und Handwerk. Insofern erlebten sie die Massaker und Zwangstaufen, welche die Gemeinden in Mainz, Köln, Regensburg u. a.n Städten verheerten, als unvorhersehbare Katastrophe. Zwar erholte sich die aschkenasische Gemeinschaft demographisch und ökonomisch recht schnell; der Schock und die Trauer wirkten indessen lange nach und hinterließen tiefe Spuren im Ritus.
Der kirchliche Paradigmenwechsel von einer Duldung der jüdischen Minderheit hin zu aktiver Missionierung und Vertreibung führte zu einer bedrohlichen Verschlechterung der Lage der Gemeinden in West- und Mitteleuropa. Die in jener Zeit entstehenden Dominikaner- und Franziskanerorden bildeten die Speerspitze dieser Aktivitäten. Der ökonomische Wandel, verbunden mit der Urbanisierung und dem erwachenden Interesse der Christen am Handel, tat sein Übriges. Sobald die jüdischen Gemeinden, zunehmend aus wirtschaftlichen Kreisläufen verdrängt und ausgeschlossen, die zu ihrem „Schutz“ erhobenen horrenden Sondersteuern und Abgaben nicht mehr aufbringen konnten, drohte ihnen die Vertreibung.
Den Anfang nahm, nach einem vergeblichen Versuch in Frankreich (1182), England (1290). Mehrere französische Edikte folgten (1306; 1321; 1394), bevor, v. a. im 15. und 16. Jh., die deutschen und italienischen Städte und Regionen Ausweisungsedikte erließen (z. B. 1421 Wien; 1434 Würzburg; 1473 Mainz; 1510 Mark Brandenburg). Begleitet wurden die Vertreibungen durch Gewaltexzesse (z. B. die Rintfleisch-Morde ab 1298 in Süddeutschland; die Pest-Pogrome ab 1348). Interregna oder allgemein unsichere Zeiten wie die Hussitenkriege 1419–1436 begünstigten in der Regel die Verfolgung der jüdischen Minderheit. Die Ausweisungsedikte führten zu erheblichen Migrationsbewegungen gen Osten, und zwar in die aufstrebenden Länder Polen und das Osmanische Reich. Dort wurden die Flüchtlinge wiederum der Entwicklung von Wirtschaft und Infrastruktur dienlich. Etliche der aus deutschen Städten oder Regionen Vertriebenen zogen es vor, möglichst in der Nähe ihrer Heimat zu bleiben und nutzten dafür die Kleinstterritorien im Alten Reich oder Ortschaften mit mehreren Besitzern (Kondominien) als Siedlungsnischen. So entstand das süddeutsche Land-J., eine sozial und ökonomisch heterogene Form jüdischer Existenz, die sich in kleinen und kleinsten Gemeinden, aber auch überregional organisierte. Erst die gewaltigen Bevölkerungsverluste durch den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) veranlassten manche Territorialherrscher, die Vertreibungspolitik zu korrigieren und religiöse Minderheiten, darunter auch Juden, in ihren Gebieten zuzulassen (sogenannte Peuplierung).
2.2 Frühe Neuzeit (16. bis 18. Jh.)
Für die europäische Judenheit bildete das Alhambra-Edikt von 1492 die entscheidende Zäsur, die das Ende einer Epoche markierte. Die jüdische Gemeinschaft sah sich aus weiten Teilen Europas vertrieben bzw. aus den Städten verdrängt. Im Osten des Kontinents entstand mit dem ost(mittel)-europäischen J. ein neues Zentrum, das sich bis zum Ende des 19. Jh. zu einzigartiger Größe und Bedeutung entwickeln sollte. Die aus deutschen Ländern migrierten Juden nahmen ihre Kultur und Lebensweise in ihre neuen Heimat, das polnisch-litauische Königtum, mit. Sie sprachen jiddisch und bewahrten ihre Riten und Organisationsformen.
Bereits im 13. Jh. hatten die Könige Polens begonnen, die jüdische Einwanderung umfassend zu unterstützen. Zu jener Zeit entstanden in etlichen größeren Städten wie Kraków, Lvov oder Sandomierz Gemeinden. Seit der Herrschaft Kasimirs III. (1333–1370) wurden jüdische Migranten v. a. dazu eingesetzt, die in der heutigen Ukraine und Weißrusslands gelegenen Grenzgebiete ökonomisch und administrativ zu entwickeln. Trotz einiger Phasen der Verunsicherung gelang es der polnisch-litauischen Judenheit, eine einzigartige Selbstverwaltung zu etablieren, die bis Mitte des 17. Jh. Bestand hatte. Anfang des 17. Jh. dürften auf dem Territorium des Alten Reichs kaum mehr 10 000 Juden (etwa 1 Promille der Bevölkerung) gelebt haben. In der Mitte desselben Jahrhunderts betrug der jüdische Anteil an der Bevölkerung Polens und Litauens hingegen bereits etwa 5 % (ca. 500 000 Menschen).
Die Spannungen zwischen den polnisch-litauischen Grundbesitzern und der südostslawischen Landbevölkerung entluden sich in mehreren Rebellionen, die auch und v. a. die jüdische Minderheit als Verwalter und Pächter polnischer Adliger trafen. Der katastrophalste jener Erhebungen war der Kosakenaufstand unter Bohdan Chmielnicki (1648–1657). Zehntausende Opfer waren zu beklagen; hunderte Gemeinden wurden vernichtet. Die Massaker hatten nicht nur eine Rückwanderung nach Mittel- und Westeuropa zur Folge, sondern zogen auch eine spirituelle Verunsicherung nach sich, die sich u. a. in mehreren messianischen Bewegungen (vgl. Schabtai Zvi oder Jakub Frank) äußerte.
Schabtai Zvi, ein Messiasprätendent aus Izmir (Smyrna), dessen Endzeitbotschaft 1665/66 fast die gesamte Judenheit elektrisierte, lenkt den Blick auf die zweite große Diasporagemeinschaft der Frühen Neuzeit, diejenige im Osmanischen Reich. Hier sind zwei Zentren hervorzuheben, die auf je ihre Weise das jüdische Leben nachhaltig prägten: Saloniki und das obergaliläische Safed (Zefat). Beide Städte zogen jüdische Eliten aus aller Herren Länder an. In Zefat bildete sich eine einzigartige Kolonie von führenden Mystikern (Kabbalisten) und Talmudgelehrten. Unter ihnen ragt Jitzchak Luria heraus, dessen grandioses kabbalistisches System sich ab dem 17. Jh. in ganz Europa verbreitete und einen tiefgreifenden spirituellen Umbruch im Denken, im Ritus und in der Frömmigkeit auslöste. Auf lurianische Modelle und Metaphern beriefen sich die Theoretiker der sabbatianischen Bewegung ebenso wie der sich ab dem 18. Jh. in der heutigen Ukraine, Belarus und Kleinpolen verbreitende osteuropäische Chassidismus. Innerhalb weniger Jahrzehnte, beginnend mit dem Wirken des Dov Ber Friedman von Mi&epolh;dzyrzecz, veränderte der Chassidismus das Leben und die Sozialstruktur des ost(mittel)europäischen J.s. Nicht mehr die kommunale Gemeinde, sondern der Zaddik (hebräisch Gerechter), vermittelte seinen Anhängern (sozialen) Beistand, Segen und/oder spirituelle Instruktion.
Im westlichen Europa vollzog sich unter dem Einfluss der europäischen Aufklärung und der Französischen Revolution 1789 eine völlig andere Entwicklung. Inspiriert von Person und Werk des Moses Mendelssohn, verfasste der preußische Diplomat Christian Wilhelm von Dohm seine berühmte Denkschrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781). Im Titel angedeutet finden sich bereits die beiden Modelle, nach denen die Emanzipation der jüdischen Minderheit in West- und Mitteleuropa betrieben werden würde. In Frankreich, wo der Gabriel de Riqueti Marquis de Mirabeau – unter Berufung auf C. W. von Dohm – um die bürgerliche Verbesserung der Juden kämpfte, beschloss die Nationalversammlung 1791 unter Hinweis auf die Menschen- und Bürgerrechte die Gleichstellung der französischen Juden. In Preußen und der Habsburger Monarchie akzentuierte man hingegen die bürgerliche Verbesserung der Juden und meinte, sie erst durch Restriktionen und Bildungsmaßnahmen zu „nützlichen Subjekten“ erziehen zu müssen, bevor man ihnen gleiche Rechte gewähren könne. Ausdruck dessen ist das zweite sogenannte „Toleranzpatent“ Kaiser Josephs II. von 1782. In den Napoleonischen Kriegen verbreitet, erfuhr das „französische Modell“ bürgerlicher Emanzipation in der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress 1814/15 schwere Widerstände, wofür beispielhaft an die ab 1816 in vielen deutschen Städten ausbrechenden Hep-Hep-Krawalle erinnert werden soll.
2.3 Moderne und Gegenwart (19. bis 21. Jh.)
Das 19. Jh. war, soweit es die jüdischen Gemeinschaften Europas betrifft, geprägt vom Ringen um gesellschaftliche Gleichstellung und Integration. Restriktive Ansiedlungs- und Erwerbsbestimmungen, wie sie etwa das bayerische Judenedikt von 1813 vorsah, führten zu einer massiven Auswanderung deutscher Juden, v. a. in die USA. Man schätzt, dass zwischen 1840 und 1910 etwa 250 000 Juden aus den mitteleuropäischen Ländern dem Kontinent den Rücken kehrten. Auch das zarische Russland, in dem sich ab den achtziger Jahren des 19. Jh. schwere Pogrome ereigneten, erlebte eine beispiellose Emigrationswelle. Über zwei Mio. Jüdinnen und Juden verließen das Land. Seinen Höhepunkt erreichte die Fluchtbewegung im östlichen Europa während des Ersten Weltkriegs, da sich deren traditionellen Siedlungsgebiete mitten im Kampfgebiet der Ostfront wiederfanden. Die Bürgerkriege, die sich nach 1917 im polnisch-russisch-ukrainischen Raum abspielten, kosteten zehntausende Juden das Leben.
In den deutschen Ländern, bes. in Preußen, reagierten die Juden mit einer eigenen Initiative, der Haskala (hebräisch Verstandesnutzung, Bildung), auf die europäische Aufklärung. Neben dem Kampf um bürgerliche Gleichberechtigung zielte die Haskala v. a. auf eine Reform der jüdischen Bildung, und zwar in einem doppelten Sinn: Zum einen ging es darum, den eigenen Beitrag in Sprache, Religion, Geschichte und Kultur für die Entwicklung Europas zu akzentuieren; zum anderen darum, den Anschluss an die Mehrheitskultur zu erreichen. Als Urbild und Modellfigur der Haskala fungierte M. Mendelssohn, der sich weithin autodidaktisch den Zugang zu westeuropäischen Philologien, Philosophie(n), zur Geistesgeschichte seiner Zeit erarbeitete.
Die Haskala veränderte das deutsche J. rasant und tiefgreifend. Bereits in der Generation nach M. Mendelssohn wurde dessen philosophische (!) Beschreibung des J.s als einer Vernunftreligion dahingehend (miss-)verstanden, dass die kultischen Gebote der Tora im Gegensatz zu den als universal geltenden ethischen Maßgaben weitgehend obsolet seien. Je nach Position zu den sogenannten „Ritualgesetzen“ (wie Speise- oder Kleidungsvorschriften) entwickelten sich Ansätze zu mehr oder weniger drastischen Reformen. Das deutsche J. konfessionalisierte sich.
Die konsequentesten Veränderungen propagierten Abraham Geiger und seine Mitstreiter, auf die sich das liberale (progressive) bzw. Reform-J. zurückführt. Die Halacha (von hebräisch das Gehen, der Wandel), ein Korpus an Regelungen für ein gelungenes jüdisches Leben, wird in dieser Strömung als historisch bedingt und daher wandelbar verstanden. Die Ritualgesetze sollten nur insoweit Geltung behalten, als sie eine jüdische Integration in die europäischen Gesellschaften nicht behinderten. Die synagogalen Gottesdienste wurden (teilweise nach dem Modell des deutschen Protestantismus) grundlegend reformiert: Gebete und Predigten in der Landessprache, eine akademische Ausbildung der Rabbiner und die kultische Gleichberechtigung der Frauen gehörten zu den prägnantesten Punkten der Agenda.
Konservativer als A. Geiger, fasste der Breslauer Oberrabbiner Zacharias Frankel sein Verständnis der Halacha als „positiv-historisch“: Zwar sei die Tora geschichtlichen Wandlungen unterworfen, und ihre Gebote könnten bis zu einem gewissen Grad modifiziert werden; als Offenbarung am Sinai dürften sie aber nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. Was Z. Frankel als „positiv-historische“ Strömung fasste, etablierte sich in den USA als Conservative Judaism (in Israel als Masorti, d. i. traditionell).
Gegen beide im Grunde reformorientierte Denominationen wandte sich die sogenannte Neo-Orthodoxie mit ihrem charismatischen Begründer Samson Raphael Hirsch. Sein Motto Tora īm Derekh Eretz (etwa: Die Tora mit der landesüblichen Lebensweise) implizierte mit Blick auf das Reform-J. letztlich eine Umkehrung der Prioritäten: Eine Akkulturation an die moderne Kultur dürfe nur insoweit erfolgen, als dass die in voller Gültigkeit befindlichen Gebote dem nicht entgegenstünden. Wohl könne man sich z. B. in der Kleidung an europäische Gepflogenheiten anpassen und an weltlichen Bildungsangeboten aktiv partizipieren, die strenge Befolgung der Speise- oder Schabbatgebote stand jedoch nicht zur Disposition. In den USA (und Israel) firmiert diese Denomination unter der Bezeichnung Modern Orthodoxy.
Damit sei zugleich auf die Problematik der Bezeichnung hingewiesen: Der ohnehin sperrige Begriff Orthodoxie („Rechtgläubigkeit“) verleitet zu Verwechslungen mit traditionellen nicht-konfessionellen Strömungen des J.s, wie etwa dem süddeutschen Land-J., das erst Jahrzehnte nach den städtischen Zentren durch wissenschaftlich ausgebildete Rabbiner in den Prozess der Konfessionalisierung einbezogen wurde. Auch das ost(mittel)europäische J. in seinen chassidischen und nicht-chassidischen Strömungen wird (mitsamt seinen heutigen Nachfahren in den USA und Israel) als „orthodox“ oder gar steigernd als „ultra-orthodox“ gekennzeichnet, hat aber mit der „Modern Orthodoxy“ oder der Neo-Orthodoxie S. R. Hirschs wenig gemein. Gleiches gilt für die sich gegenwärtig in Deutschland als „orthodox“ bezeichnenden Gemeinden und ihre Rabbiner. Sie sind oft von osteuropäischen Überlebenden der Vernichtungslager gegründet oder maßgeblich geprägt worden, pflegen also eher ein traditionelles denn ein konfessionelles Verständnis von Orthodoxie.
Der mühsame Emanzipationsprozess war begleitet von einer massiven Landflucht. Wo immer es möglich war, versuchten jüdische Männer, ihrer meist kümmerlichen Existenz als Viehhändler oder Hausierer zu entrinnen. Sie strömten in die Universitäten, um sich auf diese Weise eine tragfähige Position in der Gesellschaft zu erarbeiten. Bis zur Mitte des 19. Jh. verhinderten jedoch massive berufliche Restriktionen den Zugang von Juden insb. zu Beamtenpositionen. Die akademische Bildung der jüdischen Minderheit führte trotzdem zu einer beispiellosen wissenschaftlichen und künstlerischen Bereicherung des deutschen (und europäischen) Geisteslebens.
Der Kampf um die bürgerliche Gleichstellung der Juden sollte in den deutschen Ländern – von C. W. von Dohms Denkschrift an gerechnet – mehr als 80 Jahre dauern. In Preußen zog er sich bis in das Jahr 1869 hin, als Otto von Bismarck das „Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“ promulgierte, welches 1871 für das neu entstandene deutsche Kaiserreich übernommen wurde.
Die gewaltigen politischen und sozio-ökonomischen Umbrüche, welche die Reichsgründung begleiteten und auf sie folgten, begünstigten allerdings auch das rasche Um-sich-Greifen einer rassistisch motivierten Judenfeindlichkeit, des Antisemitismus. Antisemitische Schriften wie die des Nationalökonomen Eugen Dühring (vgl. „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“ von 1881), Parteien (vgl. die Christlich-soziale [Arbeiter-]Partei Adolf Stoeckers) und Ereignisse wie der Berliner Antisemitismusstreit (1879–1881) oder die Dreyfus-Affäre (1894–1899) vergifteten zunehmend die gesellschaftlichen Diskurse. Sie deuteten einerseits auf die große Katastrophe des europäischen J.s im 20. Jh. voraus, führten aber andererseits zur Entstehung einer (weithin) säkularen jüdischen Nationalbewegung, des Zionismus.
Der Zionismus, dessen Breitenwirkung in Westeuropa sich wesentlich dem organisatorischen und literarischen Talent Theodor Herzls verdankt, hatte mehrere geistige Ahnen (vgl. Moses Hess, Leon Pinsker) und praktische Vorläufer. Letztere stammten v. a. aus dem Zarenreich, wo ab 1881 eine Pogromwelle zu einer bis dato ungeahnten Fluchtwelle führte. Bis zum Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten waren vier große zionistische Auswanderungswellen zu verzeichnen, die weit überwiegend osteuropäische Juden nach Palästina brachten, das seit 1920 britisches Mandatsgebiet war.
Ungeachtet der bes. in den Krisen nach dem Ersten Weltkrieg rapide anwachsenden antisemitischen Propaganda dachten die meisten deutschen Juden hingegen nicht an Auswanderung. Sie waren überwiegend deutsche Patrioten und hielten den zunehmenden Erfolg der nationalsozialistischen Hetze gegen sie für eine vorübergehende Verirrung des deutschen Kulturvolks. Unmittelbar nach der Machtübernahme Adolf Hitlers am 30.1.1933 begann die Verfolgung und Ausgrenzung der deutschen Juden.
Die Shoa, der vom nationalsozialistischen deutschen Staat und seinen Verbündeten ins Werk gesetzte Versuch, die europäische Judenheit zu vernichten, führte zur Ermordung von etwa sechs Mio. Jüdinnen und Juden.
Nach dem Sieg der Alliierten fanden sich auf dem Gebiet des ehemaligen Reiches und seiner Verbündeten noch ca. 250 000 Überlebende der Vernichtungslager oder einstmals Untergetauchte, die sich der Deportation hatten entziehen können. Die weitaus meisten von ihnen stammten aus Osteuropa und wollten den Kontinent so schnell wie möglich verlassen. Da sich die britische Mandatsmacht weigerte, der 1917 beschlossenen Balfour-Deklaration zu entsprechen und dem jüdischen Volk einen Teil Palästinas zur Verfügung zu stellen, blieben etliche der jüdischen sogenannten Displaced Persons zunächst unfreiwillig in Europa. Das Pogrom in Kielce (1946) und die zunehmende antisemitische Stimmung in der UdSSR und ihren Satellitenstaaten (ab 1948) führten zu einer neuerlichen Fluchtwelle. Allein aus Polen floh der Großteil der etwa 300 000 überlebenden polnischen Juden, v. a. in die amerikanische Besatzungszone.
Nachdem die UNO im November 1947 den Teilungsplan Palästinas beschlossen hatte und am 14.5.1948 der moderne Staat Israel gegründet worden war, eröffnete sich den jüdischen Überlebenden ein verlässlicher Fluchthafen. Die vielfache Erfahrung von Verfolgung und der Weigerung – auch westlicher Länder – die an Leib und Leben Bedrohten aufzunehmen, sollte in einem jüdischen Staat ein Ende haben.
Obwohl ursprünglich als ein Provisorium betrachtet, entwickelte sich das jüdische Leben in der BRD (in sehr viel geringerem Maß auch in der DDR) zu einem dauerhaften Bestandteil der Gesellschaft. Die überwiegend von Überlebenden aus dem östlichen Europa (wieder-) gegründeten, eher traditionell ausgerichteten jüdischen Gemeinden im Westteil schlossen sich 1950 zum Zentralrat der Juden zusammen. Derzeit gehören ihm 23 Landesverbände mit 108 Gemeinden und etwa 100 000 Mitgliedern an.
Die Zentren des jüdischen Lebens haben sich jedoch seit der Shoa außerhalb Europas etabliert. Die größte Vielfalt jüdischen Lebens trifft man in Israel (2014: ca. 6,1 Mio. jüdische Einwohner) und den USA (geschätzt: 6,2 Mio.) an. Von den europäischen Ländern ragen die Gemeinschaften in Frankreich (2008: 490 000) und Großbritannien (2008: 295 000) demographisch heraus. Die einst größte europäische Diaspora auf dem Gebiet der (ehemaligen) Sowjetunion reduzierte sich durch massive Abwanderung v. a. seit den 1990er Jahren auf etwa 215 000 (2008). Viele der aus den GUS-Staaten emigrierten Jüdinnen und Juden kamen als sogenannte Kontingentflüchtlinge in die BRD, wo sie die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung stellen.
3. Jüdisches Leben: Alltag, Feste und Rites de Passage
Wie bereits in der Spätantike durch die rabbinischen Gelehrten konzipiert, wird das jüdische Leben durch das Tun der Gebote, das Studium der Tora (bzw. der Traditionsschriften wie z. B. dem Talmud) und das Gebet strukturiert. Das gemeinsame („öffentliche“) Gebet orientiert sich zeitlich im Wesentlichen an den einstigen Opfern im Tempel: Es findet zur Abenddämmerung (Arevit- bzw. Ma’arivgebet), am Morgen (Schacharit) und – v. a. im traditionellen J. – am Nachmittag (Mincha) in der Synagoge statt. Das synagogale Gebet an den Wochentagen wird im konfessionellen J. eher selten frequentiert; der Gang zur Synagoge beschränkt sich zumeist auf den Schabbat. Überhaupt wird die konkrete Form von Gebet, Gebot und Studium stark vom jeweiligen Kulturkreis (aschkenasisch, sefardisch u. a.) geprägt; bei europäisch oder amerikanisch sozialisierten Juden auch durch die jeweiligen Denominationen (progressiv, konservativ, modern-orthodox) oder durch traditionelle Varianten. Herausragende Identitätsmerkmale (identity marker) bilden seit biblischen Zeiten die Kaschrut, die Beschneidung und die Heiligung des Schabbat.
Die Kaschrut (hebräisch „Geeignet-Sein“) legt u. a. fest, welche Nahrungsmittel zum Verzehr geeignet sind. Als wesentliche Rationale dafür gilt die Heiligung des Lebens. Es darf also nichts gegessen oder getrunken werden, in dem sich Blut (als Sitz des Lebens) oder Aas (als Symbol des Todes) befindet. Eine weitere Grundregel betrifft die strikte Trennung von Milch- und Fleischprodukten bei den Mahlzeiten und in deren Zubereitung. Dies geht formal auf eine biblische Festlegung zurück, der zufolge man „das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen“ darf (Ex 23,19; 34,26; Dtn 14,21). Aufgrund jener Trennung unterscheidet man zwischen fleischigen und milchigen Nahrungsmitteln sowie „neutralen“ (hebräisch parve), wie z. B. Fisch, Nüssen, Obst und Gemüse. Letztere können sowohl mit Fleisch- als auch mit Milchprodukten kombiniert werden. Abgesehen von Aasfressern (wie bspw. Aal) gilt auch das Fleisch anderer Tiere als zum Verzehr kultisch ungeeignet (hebräisch/jiddisch trefe). Der ursprüngliche Brauch orientierte sich an der Nahrungsgewohnheit der frühen Israeliten; die Regeln wurden erst später qua Induktion entwickelt. So wird Schweinefleisch nicht verzehrt, weil die alt-israelitische Kultur keine Schweine hielt. Nachdem die angestammten Wohngebiete und die ererbte Viehzuchtkultur aufgegeben wurden, hielt man zur Wahrung der Identität an diesem Usus fest.
3.1 Rites de Passage
Ähnliches gilt für den Brauch der Beschneidung: Solange die Israeliten in ihrem angestammten Siedlungsraum lebten, war die Beschneidung ein gewöhnlicher Übergangsritus (rite de passage), der von allen Völkern der Region, einschließlich Ägyptens, praktiziert wurde. Erst durch Exil und Fremdherrschaft, beginnend mit dem Babylonischen Exil (587/86–530 v. Chr.), entwickelte sich die Beschneidung (hebräisch B’rit Mila) zu einem Identität stiftenden Ritual, das den Eintritt in die (kultische) Gemeinschaft Israels markiert. Die B’rit Mila wird am achten Lebenstag (Gen 17,10–14) an einem von einer jüdischen Mutter geborenen Jungen vollzogen. Die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk ergibt sich aus der matrilinearen Abstammung. Ferner kann man zum J. konvertieren: männliche Konvertiten und Jungen, die zwar einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben, können die Beschneidung im Rahmen des Konversionsprozesses durchlaufen. Für jüdische Mädchen existiert kein Initiationsritual. Ihr Name wird am ersten Schabbat nach der Geburt in der Synagoge verkündet.
Erst seit dem Hochmittelalter ist ein eigenständiger Brauch für den Übergang ins Erwachsenenalter überliefert. Mit dem 13. Lebensjahr gilt ein Junge als religionsmündig, als Bar Mizwa (hebräisch Sohn des Gebots); er ist verpflichtet, die Gebote, das Studium und die Gebetszeiten einzuhalten. Die gleichnamige Zeremonie feiert diesen Akt durch einen ersten Aufruf des Jugendlichen zur Tora-Lesung, die in hebräischer Sprache erfolgen muss. In jüngerer Zeit entwickelte sich in progressiven und konservativen Gemeinden ein analoger Brauch für Mädchen (Bat Mizwa, Tochter des Gebots).
Nach biblisch-rabbinischer Tradition sollte der Mensch „nicht allein“ sein (Gen 2, 18); das Mehrungsgebot (Gen 1,28) wird dahingehend verstanden, dass jeder Mensch Kinder haben und daher eine Ehe eingehen sollte. Die ethnische Konnotation jüdischer Identität erklärt die „offizielle“ Zurückhaltung des J.s gegenüber sogenannten Mischehen: Heiratet ein jüdischer Mann eine nichtjüdische Frau, so sind seine Kinder nichtjüdisch. Heiratet eine jüdische Frau hingegen einen nichtjüdischen Mann, so sind die Kinder zwar jüdisch; die Weitergabe der Tradition ist jedoch gefährdet, da sie genuine Aufgabe des Vaters ist. In praxi ist jedoch der Anteil der sogenannten Mischehen v. a. in den konfessionellen jüdischen Strömungen hoch. Naturgemäß gibt es regional sehr unterschiedliche Riten und Bräuche rund um eine jüdische Hochzeit. Gemeinsam ist den Zeremonien die Einheit von Verlobung (hebräisch Qidduschin, d. i. Heiligung) und Hochzeit (hebräisch Nissu’in), die sieben Segenssprüche sowie die Verlesung eines Ehevertrages (Ketubba, d. i. Geschriebene). Die Ketubba in den traditionellen jüdischen Strömungen (enthielt und) enthält u. a. Festlegungen über die Mitgift und finanzielle Regelungen im Scheidungsfall. In einer konfessionellen Ketubba finden sich derlei Ausführungen selten. Vielmehr enthalten sie eher (oft individuell verfasste) Texte zur ehelichen Liebe und zu gemeinsamer Verantwortung als finanzielle Vereinbarungen.
Die Sorge um Sterbende und Trauernde gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer jüdischen Gemeinde. Zu diesem Zweck entstanden Heilige Bruderschaften (Chevrot Kadischot, Singular: Chevra Kadischa). Die Mitglieder einer solchen Bruderschaft setzten sich zumeist aus den Eliten einer Gemeinde zusammen. Für Frauen gab es eigene Strukturen. Die Chevra begleitet den Sterbenden und seine Angehörigen durch den gesamten Prozess und organisiert die Beerdigung. Diese sollte (eine Reminiszenz an das Klima im Heiligen Land) möglichst schnell erfolgen, nicht jedoch am Schabbat oder an Festtagen. Nach dem Tode eines geliebten Menschen treten die Hinterbliebenen in eine mehrstufige Trauerphase ein: In den ersten sieben (hebräisch schiv’a; daher: „Schive-Sitzen“) Tagen verlassen sie ihr Haus nicht und werden von Gemeindemitgliedern, Freunden und Verwandten versorgt und getröstet. Die zweite Phase umfasst 30 Tage, weshalb man sie Sch’loschim (hebräisch 30) nennt. Man tritt wieder in den Arbeitsprozess ein, meidet jedoch Trubel und Feiern. Die dritte Periode endet mit Ablauf des ersten Jahrestages, der Jahrzeit des Gestorbenen.
3.2 Der jüdische Festkreis
Der Schabbat (von hebräisch schabbat, ruhen) „ist das Urbild aller jüdischen Feste“ (Zobel 1936: 15). Alle gewichtigen jüdischen Feiertage – die sogenannten Vollfeiertage, von denen die „Halbfeiertage“ (Chol ha-Mo’ed) unterschieden werden – folgen ihm in seinem grundsätzlichen Gestus von strikter Arbeitsruhe. Das Prinzip des Schabbat besteht darin, den Alltag möglichst vollständig zu unterbrechen und einen festlichen Ausnahmezustand herzustellen, da Mensch und Tier von der sechstägigen Werkarbeit ruhen. Die Vorbereitungen auf die festlichen drei Mahlzeiten, das Schmücken des Hauses und seiner Bewohner sind bereits Bestandteil der Schabbatfreude. Der Tag der Ruhe wird mit dem Abschluss des Schöpfungswerks (Gen 2,2–3) und dem Gedenken an die Sklavenarbeit der Israeliten in Ägypten (Dtn 5,15) begründet. Am Schabbat darf nicht nur keine zielgerichtete Arbeit verrichtet werden; man sollte auch nichts unternehmen, was ein Mitglied der Festgemeinschaft ärgern, anstrengen oder beunruhigen könnte.
Die jüdischen Jahresfeste entwickelten sich zunächst auf der Grundlage kanaanäischer Erntefeste. Nach Ablösung von ihrem agrarischen Ursprung wurden sie theologisch überformt und dienten der Vergegenwärtigung der biblischen Geschichte. Die gilt insb. für die drei biblischen Wallfahrtsfeste Pessach (Erinnerung an den Exodus), Schavu’ot (Wochenfest; Erinnerung an die Gabe der Tora) und Sukkot (Laubhüttenfest; gemahnt an die Wüstenwanderung). Pessach und Schavu’ot bilden die prägenden Elemente des Frühlingsfestkreises, während Sukkot den Herbstfestkreis beschließt. Die jüdischen Feste folgen dem traditionellen lunisolaren Kalender, sind also nicht mit festen Daten des gregorianischen Kalenders zu identifizieren.
Der Herbstfestkreis markiert den Beginn des (bürgerlichen) jüdischen Jahres; Pessach (im März/April) hingegen den Anfang des kultischen. Der herbstliche Zyklus beginnt im September/Oktober mit Rosch ha-Schana (hebräisch Jahresanfang), der die jährliche Bußzeit einläutet: Zu Rosch ha-Schana und den folgenden neun Tagen ist jeder Jude gehalten, sich mit seinen Mitmenschen zu versöhnen, Streit und Konflikte mit Anderen beizulegen. Der strenge Fastentag Jom Kippur (hebräisch Versöhnungstag) dient hingegen dem Neuanfang im Verhältnis Israels zu Gott. Flehentliche Bitten um Vergebung prägen das mehr oder weniger den ganzen Tag andauernde Gebet in der Synagoge; wahre Versöhnung bedarf aber auch der Bemühung um den Mitmenschen in den zehn Tagen zuvor. Zwei Feste aus spät- (Purim) bzw. nachbiblischer Zeit (Chanukka) thematisieren die Rettung der jüdischen Gemeinschaft vor den Ränken ihrer Verfolger. Zwischen Pessach und Schavu’ot und den großen Herbstfesten gedenkt man am Neunten Av (Juli/August) der Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels zu Jerusalem und der darauf folgenden großen Verfolgungen des jüdischen Volkes.
Festkreis und Ritus des J.s spiegeln somit die Komplexität und Vielgestaltigkeit der jüdischen Geschichte in ihren tiefsten Katastrophen und befreienden Momenten ebenso wie den Reichtum ihrer unterschiedlichen Kulturen und Strömungen, den es – in der Regel als erwünschte, geduldete oder bedrohte Minderheit, seit der Gründung des modernen Staates Israel aber auch wieder als prägende Mehrheit – lebt und entwickelt.
Literatur
R. Bonfil u.a.: Jews in Byzantium: Dialectics of Minority and Majority Cultures, 2011 • D. Boyarin: Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums, 2009 • G. Stemberger: Das klassische Judentum, 22009 • M. Brenner: Kleine jüdische Geschichte, 2008 • M. Brenner: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nach 1945, in: APuZ 50 (2007), 10–17 • M. R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter, 2005 • B. Lewis: Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, 2004 • S. Galley: Das jüdische Jahr: Feste, Gedenk- und Feiertage, 2003 • M. Toch: Die Juden im Mittelalterlichen Reich, 22003 • S. Schwartz: Imperialism and Jewish Society, 200 B.C.E. to 640 C.E., 2001 • S. J. D. Cohen: The Beginnings of Jewishness: Boundaries, Varieties, 1999 • F. Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden, 1990 • M. Zobel: Das Jahr des Juden in Brauch und Liturgie, 1936.
Empfohlene Zitierweise
S. Talabardon: Judentum, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Judentum (abgerufen: 21.11.2024)