Phänomenologie
1. Geschichte und Idee
Als Titel einer wissenschaftlichen Disziplin ist P. erstmals in einer Abhandlung Johann Heinrich Lamberts zu finden. Die P. soll durch die Vielfalt der Erscheinungen zur dahinter liegenden Sache vordringen, um deren Gesetz, Struktur oder Wesen aufzuspüren. J. H. Lambert macht diese ursprünglich aus der antiken Astronomie stammenden Vorstellungen methodologisch fruchtbar und überträgt sie auf die Beziehung von Sein und Schein in der philosophischen Erkenntnis. Der Schein oder die Erscheinung gewinnen zusehends Eigenbedeutung gegenüber ihrer vermeintlichen Quelle. Der Schein ist also keineswegs bloß das Falsche, das es zu überwinden gilt, sondern wird als ein unvermeidliches, den Sinn der Wahrheit mitbestimmendes Medium verstanden, durch welches hindurch die Erkenntnis ihren Gegenstand erst zu erfassen vermag.
Dieser Gedanke setzt sich bis in das moderne Verständnis von P. als „Methode“ fort, die sich auf die Erscheinungen beruft, um in ihnen das Sein und zugleich dessen Auffassungsbedingungen zu erforschen. Diesem aktuellen Verständnis gemäß wurde die P. als philosophische Einstellung, Lehre und Bewegung zu Beginn des 20. Jh. von Edmund Husserl begründet. Zu ihren bekanntesten Vertretern zählen darüber hinaus Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty.
Die P. versteht sich als methodisch reflektierter Versuch, unseren begrifflichen wie vorbegrifflichen Weltzugang und die darin herrschenden expliziten und impliziten Geltungsansprüche (Geltung) auf eine ursprüngliche Erfahrung zurückzuführen, um daraus das Zustandekommen von Erkenntnis- und Objektivierungsleistungen verständlich zu machen. Die Ausführung dieses Programms lässt unterschiedliche Akzentuierungen zu, bspw. als Aufklärung der Intentionalität des Bewusstseins, des leiblichen Verhaltens oder auch der sozialen Verständigungsleistungen. Gemeinsam ist solchen Versuchen der Anspruch auf eine phänomenal angemessene Erfassung ihres Untersuchungsgegenstandes, die ausdrücklich den Erscheinungscharakter der Welt, d. h. die Kontingenz der Gegebenheit des menschlichen Weltverhältnisses, wie auch die Involviertheit des Untersuchenden in die von ihm thematisierte Sache mit bedenkt. Insofern der letztere Aspekt sich insb. auf wissenschaftliche Beschreibungsformen der Welt auswirkt, wird mit ihm auch die „therapeutische“ Funktion der P. deutlich. Zugleich versteht sie sich selbst als Wissenschaft, insofern sie dem Ideal der Einsichtigkeit und des begründeten Wissens verpflichtet ist.
Die P. ist seit E. Husserl auch deshalb einflussreich, weil sie einerseits die konkrete Erfahrung von Leben und Welt zu ihrem Gegenstand macht und dabei andererseits immer neue Möglichkeiten der Anknüpfung und Weiterführung generiert. V. a. dank der Rezeption E. Husserls und M. Heideggers in Frankreich ab den 1930er Jahren und dem zunehmenden phänomenologischen Interesse angloamerikanischer Autoren in den letzten Jahrzehnten ist die P. zu einer der wichtigsten und einflussreichsten Strömungen der Philosophie des 20. und 21. Jh. geworden.
2. Methode
Die P. ist in erster Linie methodische Anweisung, wie zu philosophieren sei. Sie orientiert sich dabei an dem Umstand, dass die Welt im Medium ihres Erscheinens als sie selbst zur Auffassung gelangt. Und sie verfolgt dabei namentlich die Fragen, „wie es denn zu verstehen sei, dass das ‚an sich‘ der Objektivität zur ‚Vorstellung‘, ja in der Erkenntnis zur ‚Erfassung‘ komme, also am Ende doch wieder subjektiv werde“ (Hua XIX 1: 12 f.); wie es aber dennoch möglich sei, dass der intentionale Zusammenhang von Bewusstsein und Bewusstseinsgegenstand einen objektiven Sinn, ein objektives Sein konstituiert. Dieser Leistung des erkennenden Bewusstseins ist jedoch nur auf die Spur zu kommen, wenn sie nicht einfach mit vollzogen, sondern wenn ihr gegenüber eine skeptische Haltung, Epoché, eingenommen wird. Das Verhältnis von Auffassungsgegenstand und Auffassungsmodus ist dabei als korrelative Relation zu beschreiben und auf seine wesensmäßigen Charakteristika hin zu untersuchen. Dies gelingt unter Anwendung mehrerer Reduktionsschritte auf den konkret vollzogenen Akt der Erfahrung. Die eidetische Reduktion fokussiert auf wesentliche Typen von Bewusstseinsgegenständen, die transzendentale oder phänomenologische Reduktion beschreibt den Bewusstseinsakt seiner Struktur nach. Beide Reduktionsformen gehen somit vom Faktum des Erfahrungsvollzugs aus, sehen dann jedoch ausdrücklich von dieser Faktizität ab, „klammern“ deren schlichten Geltungsanspruch skeptisch „ein“, um dessen Rechtsbedingungen aufzuklären. Dementsprechend versteht sich die P. E. Husserls als Transzendentalphilosophie, die die Erkenntnis als Sinnstiftungsleistungen des erfahrenden Bewusstseins auslegt und nach deren Möglichkeitsbedingungen forscht. Welterfahrung wird hier strukturell reduziert auf das Verhältnis zwischen intentionalem Bewusstsein und intendiertem Sinnbestand.
Auch wenn diese Einstellung bereits früh Kritik auf sich zog, weil sie als transzendentaler Idealismus verstanden und abgelehnt wurde, war sie methodisch doch schwer vermeidbar. Obendrein ist sie nicht als absoluter Idealismus zu verstehen, denn die Evidenz der Welt wird ja nicht bereits geleugnet, nur weil man ihre „Zweifellosigkeit zu verstehen und ihren Rechtsgrund aufzuklären“ sucht (Hua V: 152 f.).
3. Entwicklungen
Dennoch verlaufen die Hauptlinien der weiteren Entwicklung der P. in andere Richtung. Zwar bleibt der Gedanke, die Begegnung von Mensch und Welt im Ausgang vom kontingenten Faktum der Welterfahrung aufzuklären, in allen Formen phänomenologischer Arbeit maßgebend. Damit bleibt auch das ursprüngliche Motiv, das Verhältnis von Sein und Schein nicht zu überspielen, sondern als unhintergehbaren Ausgangspunkt der Erfahrungsanalyse zu respektieren, weiterhin lebendig. Das Konzept erfährt jedoch eine anthropologische Erweiterung. Reduktionismen werden vermieden, da das erkennende Subjekt nun nicht mehr als Bewusstsein, sondern als konkreter Mensch in der Welt beschrieben wird. Auch diese Entwicklungen können sich zwar bereits auf Husserlsche Entdeckungen berufen, werden aber v. a. von M. Merleau-Ponty und M. Heidegger ausformuliert. Sie stehen unter den Stichworten „Leib“, „Lebenswelt“ und „Geschichte“ und dominieren den phänomenologischen Diskurs bis in die Gegenwart.
Die Analyse des Erfahrungsvollzugs, die über rein bewusstseinsphilosophische Reflexionen hinausgeht, betont die konstitutive Rolle des Leibes. M. Merleau-Pontys Verknüpfung Husserlscher, Heideggerscher und gestaltpsychologischer Einsichten legt das Erfahrungssubjekt als „inkarniertes“ aus, „weil es seine Selbstheit nur verwirklicht als Leib seiendes und durch diesen Leib in die Welt eingehendes“ (Merleau-Ponty 1966: 464). Dieser ursprünglich leibhaftigen Begegnung mit Welt korreliert ein Strukturzusammenhang, der unter dem Titel „Lebenswelt“ seit E. Husserl bis heute unterschiedlichste Auslegungen erfährt. Und so, wie das Subjekt seine transzendentale Souveränität an die Faktizität seines Inkarniertseins verliert, so erweist der Ausgang der phänomenologischen Analysen vom Faktum konkreter Welterfahrung aus zugleich auf deren historische Horizonte. Namentlich M. Heideggers Auslegung der phänomenologischen Analyse als „Daseinshermeneutik“ referiert auf den basalen Umstand, dass die Historizität des Subjekts keinen mit Mühe zu rekonstruierenden Zug einer transzendentalen Instanz, sondern schlicht den Ausgangspunkt jeder Frage danach darstellt, wie Mensch und Welt einander begegnen. Das die Welt „Konstituierende“ ist also keineswegs „reines“ Bewusstsein, es ist vielmehr der existierende Mensch als das in sein faktisches „Da“ „geworfene“ Sein, als „Dasein“. Damit ist der Umstand betont, dass Dasein sich immer bereits in der Welt vorfindet, bevor es selbst Welt-entwerfend agiert. Die phänomenologische Hermeneutik hat daher die Aufgabe, die Seinscharaktere des jeweiligen Daseins im faktisch herrschenden Wie seines Seins zugänglich zu machen.
Die Entwicklung der phänomenologischen Philosophie im 20. Jh. erweist sich somit insgesamt als paradigmatische Geschichte von Vermittlungsversuchen zwischen transzendentalen, anthropologischen und existenzphilosophischen (Existenzphilosophie) Diskursen.
Literatur
Quellen:
J.-P. Sartre: GW in Einzelausgaben, ab 1982 • M. Heidegger: GA, 102 Bde., ab 1975 • M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966 • J. H. Lambert: Über die Methode, die Metaphysik, Theologie und Moral richtiger zu beweisen, 1762.
Literatur:
C. Bermes: Maurice Merleau-Ponty zur Einführung, 32017 • F. Fellmann: Phänomenologie zur Einführung, 32016 • G. Figal: Martin Heidegger zur Einführung, 72016 • L. Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, 22015 • G. Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, 32013 • K.-F. Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft, 2011 • D. Zahavi: Husserls Phänomenologie, 2009 • Ders.: Phänomenologie für Einsteiger, 2007 • K.-H. Lembeck: Einführung in die phänomenologische Philosophie, 22005 • B. Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie, 1992 • N. W. Bokhove: Phänomenologie. Ursprung und Entwicklung des Terminus im 18. Jh., 1991 • E. Husserl: Logische Untersuchungen, in: Hua, Bd. XIX 1, 1984 • B. Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich, 1983 • E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch, in: Hua, Bd. V, 1971.
Empfohlene Zitierweise
K. Lembeck: Phänomenologie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Ph%C3%A4nomenologie (abgerufen: 21.11.2024)