Prestige
Unter P. (französisch prestige, lateinisch praestigia: „Gaukelei, Blendwerk“) versteht man das Ansehen, die Geltung, die Anerkennung und soziale Wertschätzung, die Personen, sozialen Positionen (v. a. innerhalb einer Berufsordnung) oder sozialen Gruppen in einer Gesellschaft entgegengebracht wird. Die Wahrnehmung von P. wie die P.-Zuschreibung erfolgt somit relational und dient nicht lediglich der Identifizierung und Bewertung des Anderen (als bestimmte Person, Rollenträger oder Positionsinhaber) oder der Anderen (i. S. sozialer Formationen), sondern zugleich der eigenen Verortung auf einer intersubjektiv geteilten P.- und Statusordnung. Sowohl das persönliche Erleben (P. als subjektive Variable) als auch die ordnungsstiftende Funktion (P. als Strukturkomponente) kommen folglich im P.-Begriff zum Tragen, was Bernd Wegener treffend als den „Doppelcharakter von Prestige“ (Wegener 1985: 209) pointiert.
In die Sozialwissenschaften hat der P.-Begriff spätestens mit Max Weber und dessen Konzeption von Klasse, Stand und Partei Einzug gehalten, findet sich aber bereits einige Jahre zuvor in der Theorie der feinen Leute von Thorstein Veblen, welcher die Herstellung sozialen P.s durch demonstrativen Konsum und Müßiggang sowie durch die Zurschaustellung von Besitz (oder: von P.-Gütern) einer ausbeuterischen Oberklasse in den USA um die Wende zum 20. Jh. kritisiert. Bei Max Weber findet sich der P.-Begriff v. a. in seinen Analysen der ständischen Lebensführung in Abgrenzung zu den Ordnungsprinzipien Klasse und Partei. Im Gegensatz zu Klassen, die nach M. Weber durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen unter Marktbedingungen (Güter- oder Arbeitsmarkt) bestimmt sind und je nach Verfügung über sachlichen Besitz spezifische Lebenschancen schaffen, sowie in Abgrenzung zu Parteien, die „primär in der Sphäre der ‚Macht‘ zu Hause“ (Weber 1980: 539) sind und vor dem Hintergrund eines planvoll erstrebten Zieles die Herstellung einer rationalen Herrschaftsordnung anstreben, sind Stände als Gemeinschaften „von amorpher Art“ (Weber 1980: 534) durch je typische Komponenten des Lebensschicksals bestimmbar. Deshalb definiert M. Weber ständische Lage als „eine typisch wirksam in Anspruch genommene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung“ (Weber 1980: 179; Herv. i. O.), wobei jene P.-Ansprüche sowohl durch die Art des Berufes als auch erbcharismatisch bedingt sein können und mit einer Monopolisierung materieller wie auch ideeller Güter oder Chancen einhergehen. Ständische Gliederung erzeugt folglich eine soziale Ordnung, die primär als Sphäre der Verteilung von Ehre bestimmten sozialen Gruppen Exklusivität ermöglicht und folglich soziale Geschlossenheit generiert. Gliederung nach Ehre, Ansehen und P. wird bei M. Weber zum entscheidenden Merkmal einer vertikal differenzierten Gesellschaftsordnung.
Eine ähnliche Sichtweise findet sich bei Pierre Bourdieu, der in seiner Theorie der Kapitalien (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) P. als viertes, sogenanntes symbolisches Kapital einführt und ihm die Funktion zuweist, die durch die ersten drei Kapitalarten bestimmte Platzierung des Individuums in der gesellschaftlichen Hierarchie, also seinen Status, „lesbar“ zu machen. Bes. deutlich wird der Zusammenhang zwischen P. und Status in der amerikanischen Soziologie. Insb. Talcott Parsons weist darauf hin, dass jedweder Mitglieder-Status innerhalb einer sozialen Einheit (einer sozialen Gruppe, einer solidarischen Gemeinschaft, einer Gesellschaft) mit einem spezifischen P. einhergehe bzw. dieses befördere. Je höher die Beiträge bewertet werden, die eine soziale Einheit respektive ein Teilsystem für das Gesamtsystem erbringe, desto höher das P. dieses Teilsystems und desto größer dessen Einfluss. Deshalb erscheint P. als Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und Macht zu erlangen. Darüber hinaus denkt T. Parsons P. auch als Strukturkomponente, die eine entscheidende, weil integrierende Funktion für die Gesamtgesellschaft hat, indem sie die aus unterschiedlich hoch oder niedrig bewerteten Leistungen resultierenden Status- und P.-Unterschiede, und damit soziale Ungleichheiten, legitimiert – eine Sichtweise, die bereits Helmuth Plessner in seiner Abwehr des Gemeinschaftsradikalismus entwickelte, als er P. als zentralen Bedingungsfaktor gesellschaftlicher Ordnung erkannte.
Etwa zeitgleich hält das Konzept von P. und Status Einzug in die empirischen Untersuchungen zur bundesdeutschen Sozialstruktur der 1960er und 70er Jahre. Zu nennen sind hier v. a. Karl Martin Bolte u. a. und deren Untersuchungen zu Statusunterschieden in norddeutschen Wohngemeinden, die im sogenannten Zwiebelmodell als Abbild des Ungleichheitsgefüges Deutschlands in den 1960er Jahren münden, welches die Sozialforscher auch als P.-Statusaufbau definieren. P. wird hier zu einem entscheidenden Strukturelement, „an dem sich der einzelne orientiert, um sich selbst und andere einzuordnen“ (Bolte 1967: 343). Der bereits hier erkennbare Zusammenhang von P. mit der beruflichen Stellung bzw. mit der beruflichen Tätigkeit gilt bis heute als Grundlage empirischer Sozialstrukturforschung. P. wird nahezu ausschließlich als Berufs-P. operationalisiert und erhoben und dient als berufsbasierte Komponente der Erfassung sozialer Ungleichheiten in modernen Gesellschaften – sowohl im Rahmen nationaler als auch international vergleichender Sozialforschung. I. d. R. basierend auf der Standardklassifikation der Berufe der ISCO gelten als die wichtigsten Skalen zu P. und sozioökonomischem Status die Berufs-P.-Skala von Donald J. Treiman (SIOPS), der Standard ISEI von Harry B. G. Ganzeboom u. a. sowie die für die Sozialforschung der BRD wichtigste nationale P.-Skala, die MPS von B. Wegener.
Ob und inwiefern sich Menschen aufgrund von Zuordnungen unterschiedlicher sozialer Wertschätzung im Mit- und Zueinander mehr oder weniger angesehen verhalten, beschränkt sich jedoch nicht auf die Untersuchung von beruflicher Tätigkeit und Berufsstellung, sondern wird immer auch überall dort virulent, wo „äußerlich erkennbare Gegebenheiten den Prestigestatus eines Menschen anzeigen [sollen]“ (Hradil 2005: 292 f.). Mit dem Wandel von einer zunächst ab den 1950er Jahren wirtschaftlich florierenden, zunehmend konsumorientierten Wohlstandsgesellschaft zu einer sich sukzessive individualisierenden und pluralisierenden Multioptionsgesellschaft und einem damit verbundenen Wertewandel von materiellen hin zu postmateriellen Werten bzw. von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstverwirklichungs- und Selbstentfaltungswerten haben sich auch die Erscheinungsformen von P. und P.-Gütern gewandelt, und das heißt v. a.: entmaterialisiert. Wenngleich Konsum und Demonstration von Gütern (wie Autotypus oder Wohnaccessoires) weiterhin eine Rolle spielen, bilden Sprach- und Lebensstil, Geschmack und Lebensphilosophie bis hin zur Präsenz als Influencer in den sozialen Medien (Social Media) mindestens ebenso relevante und signifikante Merkmale der wechselseitigen Zuschreibung, der An- und Aberkennung von P. in heutigen spätmodernen Gesellschaften.
Literatur
S. Hradil: Soziale Ungleichheit in Deutschland, 82005 • J. H. P. Hoffmeyer-Zlotnik/A. J. Geis: Berufsklassifikation und Messung des beruflichen Status/Prestige, in: ZUMA-Nachrichten 27/52 (2003), 125–138 • H. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, 2001 • P. Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen“, 1985 • B. Wegener: Gibt es Sozialprestige?, in: ZfS 14/3 (1985), 209–235 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 51980 • T. Parsons: Equality and Inequality in Modern Society, or Social Stratification Revisited, in: SI 40/2 (1970), 13–72 • K. M. Bolte: Deutsche Gesellschaft im Wandel, 21967 • T. Veblen: The Theory of the Leisure Class, 1899.
Empfohlene Zitierweise
L. Friedrich, W. Gebhardt: Prestige, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Prestige (abgerufen: 21.11.2024)