Wertewandel

In der Soziologie spielen Werte eine wichtige Rolle, wobei sie die Methoden der modernen Befragungsforschung (Demoskopie) zum Einsatz bringt. Damit hat sie schon länger die Philosophie abgelöst, die darin einst Kirche und Religion entthronte. Dieser langfristige Wechsel ist selbst ein Hinweis auf einen W. Danach sind Werte heute stärker als früher im Hier und Jetzt verankert; sie wurden aus hohen, teils überhöhten Idealen, denen sich die geistige Elite widmete, zu Standards der Lebensqualität in der Massengesellschaft. Staat und Politik müssen sich bemühen, ihnen gerecht zu werden. Das gilt bes. für liberale Gesellschaften. Auch realsozialistische Gesellschaften folgten mit der Zeit diesem Verständnis, wenn auch weniger liberal und ökonomisch mäßig erfolgreich. Russland und China setzen heute ökonomisch auf Liberalität, bewahren jedoch ein hohes Maß an politischer Kontrolle. In der islamischen Welt erneuerte sich mit der Revolution im Iran die Religion als politische Kraft. Werte und Recht leiten sich aus religiösen Geboten ab, während in weiten Teilen der Welt religiöse Vorgaben über längere Zeit in weltliche Werte übersetzt wurden. So wirken sie auf Gesellschaft, Politik, Staat und Recht.

Die Soziologie versteht unter Werten die „Vorstellungen vom Wünschenswerten“ (Kluckhohn 1951: 395), die als Standards des Wünschens-Werten tief in der Persönlichkeit des Menschen verankert sind. Werte sind nicht wahr, sondern sie gelten. Über Werte kann zwar rational diskutiert werden, sie sind jedoch auch stark von Gefühlen bestimmt. Zu einem soziologischen Thema wurde der W. erst mit den politischen und industriellen Revolutionen der neueren Zeit. Veränderte Herrschaftsformen und neue Technologien formten das Leben der Menschen radikal um, insb. wegen der Abwanderung aus dem ländlichen Raum und mit der sehr schnellen Bildung von Ballungsräumen. Hier musste sich eine bunt zusammengewürfelte Bevölkerung neu zusammenfinden. Entwurzelung, Armut, Krankheit und hohe Kriminalität belasteten oft die soziale Organisation.

Friedrich Nietzsche sprach in dieser Zeit von einer „Umwerthung aller Werte“ (Nietzsche 1988: 218), was sicher übertrieben war. Die Faszination des technischen Wandels und dessen Tendenz zur Internationalisierung führen auch heute dazu, die beharrenden Kräfte gewachsener Kulturen zu unterschätzen. Werte geraten so in eine Zwitterstellung. Oft wird angenommen, dass sie sich bei den meisten Menschen vor allem auf das Neue richteten, das mit den enormen materiellen Fortschritten der neueren Zeit als das Bessere gilt. Dagegen erhob sich schon früh eine Gegenströmung, die auf die Verluste hinwies, denen das Leben der Menschen und die städtische und natürliche Umwelt durch den forcierten Wandel ausgesetzt sind. Bes. das „innere“ Leben der Menschen, die Quelle des Wertvollen, schien von den Fortschritten wenig zu profitieren, ja darunter zu leiden. Jene Funktion der Werte, den Einzelnen in der Gesellschaft und der Welt emotionalen Halt zu geben, meldet sich gerade im schnellen Wandel wieder. Sie ist sehr alt und in der Mentalität von Menschen, Gruppen und Gesellschaften auf der ganzen Welt weiterhin tief verankert, allerdings nicht so einfach zu erfassen. Religion und Kunst spielten dabei schon immer eine wesentliche Rolle. Heute helfen Befragungen.

W. heißt also nicht nur, dass sich Menschen an die äußeren Bedingungen anpassen, indem sie den Wechsel bejahen, sondern auch, dass sie Werte bewahren und wieder aktivieren, um sich gegen negative Veränderungen zu schützen. Diese Rolle der Werte lässt sich aus der uralten Beziehung zur Religion erfassen, die die Dinge des Lebens im Ur-Gefühl des Glaubens bündelte. Diese Funktion ist weiterhin zu erkennen, wenn sich viele Menschen auch in der heutigen Massengesellschaft an soziale Regeln halten, obwohl das einen gewissen Aufwand kostet, und Fehlverhalten weniger auffällt oder bestraft wird. Das wird oft aus einem Glauben heraus getan, dass die meisten anderen Menschen das auch tun. Im kategorischen Imperativ Immanuel Kants wurde das Gebot der sozialen Verträglichkeit bereits ohne Bezug zur Religion ausgesprochen. Menschen halten sich freiwillig an Normen, also an Werte, die in Gebote oder Verbote gefasst sind, weil sie befürchten, dass mit der Verweigerung vieler auch die eigene Lebensqualität verlieren würde („Wenn das alle tun würden!“). Ein aufschlussreicher Fall ist die demokratische „Wahlnorm“. Obwohl die einzelne Stimme in der Masse untergehen muss, wählen dennoch viele, inzwischen sogar wieder deutlich mehr; Scheu, Pflichtgefühl, Selbstachtung, auch Spannung und andere Gefühle wirken dabei mit.

Neu am verweltlichten Glauben an Werte ist, dass Scheu vor sozialem Fehlverhalten (Devianz) nicht mehr aus Angst vor sozialen Sanktionen erwächst, sondern aus Furcht vor allgemeiner Regellosigkeit (Anomie). Eine öffentliche Werte-Pädagogik beschwört diese Drohkulisse, und begegnet sich mit den inneren Quellen der Werte in der menschlichen Psyche. Die Medien machen wertverletzendes Fehlverhalten, sowohl bei einfachen Menschen als auch in führenden Kreisen, öffentlich – oft in skandalisierender Form. Darin also, wie heute die Werte den gesellschaftlichen Verbund der Massengesellschaft sichern, steckt wie in der Religion ein „Vorschuss“ an „Irrationalität“. Die Einzelnen haben keine Gewähr, dass andere auch gut handeln, wollen aber aus „positivem Denken“ daran glauben. Anders liegen die Dinge bei den Urwerten sozialer Stabilität in überschaubaren sozialen Kreisen, die den Menschen bes. wichtig sind; also die Familie, Liebe, Freundschaft, Partnerschaft. Sie können mehr als die Werte der großen Gemeinschaft wechselseitig erlebt werden. In mittlerem Maße werden Werte angestrebt, die sich auf Erfolg im Leben und Wohlstand richten. Politik und öffentliches Leben haben für viele Menschen nur mäßige Bedeutung, erhöhte für gebildete Gruppen.

Soziologische Theorien des W.s müssen auch daran gemessen werden, ob sie Erkenntnissen aus der Biologie, Psychologie und der Geschichte gerecht werden. Zu oft wird über die in der Moderne hervorgehobene innovative Funktion der Werte die stabilisierende vergessen. Beide Faktoren streben offensichtlich nach einem Gleichgewicht, wobei die soziale Stabilität und Integration für die meisten Menschen weiterhin den Vorrang zu haben scheint. Schübe der Veränderung, die seit der industriellen Revolution (Industrialisierung, Industrielle Revolution) immer häufiger von Technologien ausgehen, rufen Gegenreaktionen hervor. Eliten, die die Veränderung freudig bejahen, weil sie davon profitieren, steht eine Bevölkerung gegenüber, die neue Entwicklungen oft gemischt, teils sogar negativ beurteilt. Das liegt daran, dass die Grundlagen, auf denen sich heute die Wertungen vollziehen, evolutionär unter anderen Bedingungen entstanden sind. Abwehr von Gefahr ist in den tiefsten Schichten des Stammhirns abgespeichert und diese Teile sind einer bewussten Kontrolle kaum zugänglich. Je höher die Funktionen des Gehirns, desto freier sind sie, aber auch umso theoretischer. Sie stehen zwar der Veränderung offen, haben jedoch wenig direkten Einfluss auf das praktische Verhalten der Menschen.

Doch auch die höheren wertenden Teile der menschlichen Persönlichkeit, die in enger Beziehung zur Rationalität stehen, haben einen eher beharrenden Charakter. Die Werte-Standards, nach denen sie urteilen, werden in Kindheit und Jugend gelegt, in jener langen Phase, in der Kinder in der Familie des Menschen aufwachsen. Sigmund Freud hat diese Besonderheit im Vergleich zu den höheren Tieren bes. betont. Familiäre Vermittlung von Werten führt zur Prägung der Kinder durch das Vorbild der Eltern. Die Bevölkerung gibt der Familie bei der Vermittlung von Werten einen sehr deutlichen Vorrang, vor dem Bildungssystem, noch mehr der Politik, und das gilt sowohl für den faktischen als auch den gewünschten Einfluss. Die wertsetzende Funktion der Familie führt auch zur Vermittlung der kulturellen Tradition, zuallermeist nicht durch bewussten Einfluss, sondern durch Nachahmung und Lernen am Modell. In schwierigen oder turbulenten Phasen der Geschichte kann dieser Mechanismus aber beeinträchtigt werden.

Ronald Inglehart, der heute bekannteste Werteforscher, hat auf jene Generation hingewiesen, die durch die Besonderheit der Zeit der Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg geprägt wurde. Diese Menschen erfuhren in Kindheit und Jugend starken wirtschaftlichen Druck oder sogar die Gewalt und Not des Krieges. Sie würden zeitlebens ökonomische Sicherheit bes. schätzen („Materialismus“). In der Folge jedoch wuchs eine neue Generation in schnell steigendem Wohlstand auf, und diese nahm ideelle Werte („Post-Materialismus“) bes. wichtig, weil im Unterschied zu der Zeit, in der die Eltern aufwuchsen, nicht das Materielle, sondern das Ideelle „knapp“ war. R. Inglehart schloss aus der Ökonomie, dass stets das Knappe hoch bewertet wird. Nachwachsende „Post-Materialisten“ sollten sich im Laufe der Generationen in den USA und ähnlichen Ländern immer weiter ausbreiten. Dieses Ideenkonzept wurde als zu euphorisch kritisiert. Noch mehr befremdete, warum Werte wie Ordnung, Sicherheit, Tüchtigkeit u. a., die in der Bevölkerung weit verbreitet waren, schon vom Begriff her als „materialistisch“ abgewertet wurden, und R. Inglehart damit zugleich die innovative Funktion der Werte über die sozial stabilisierende Funktion setzte.

In Deutschland erhob Helmut Klages Einspruch mit einer Theorie, die die Tendenz zum Gleichgewicht zwischen Erneuerung und Beharrung berücksichtigte und die Wertepole ausgewogener benannte: Auf der einen Seite steht die Pflichtorientierung für kulturelle Stabilität und auf der anderen Selbstentfaltung der Person für den Wandel. Das verringerte auch das Ausschließliche des „Materialismus“ und des „Idealismus“. An Stelle von „Postmaterialisten“, die eng an die junge Bildungsschicht angelehnt waren, bezog sich H. Klages auf einen anderen sozialen Leittyp: „Aktive Realisten“ aus der breiten Mittelschicht. In Ausübung ihrer beruflichen und familiären Verantwortung gehen sie über einen nur intellektuellen Wertausschnitt hinaus, ihr breites Wertespektrum berücksichtigt zugleich alltägliche Probleme der Ökonomie und Sicherheit. H. Klages konnte 30 %–40 % der Bevölkerung dieser Haltung zuordnen. Damit ging er über die berechtigte, aber einseitige Kritik an den Schattenseiten des Wandels durch Elisabeth Noelle-Neumann hinaus. Realisten fungieren als Mittler zwischen jenen Gruppen, die im W. allzu schnell oder wert-negierend vorgehen (Idealisten, Hedonisten) und jenen, die den W. strikt ablehnen oder schlicht davon überfordert sind.

H. Klages realistisches Modell will zeigen, wie eine vermittelnde Gruppe Impulse aus den vorangehenden Gruppen aufnimmt, jedoch in gemäßigte Formen umsetzt, die allgemein akzeptabel erscheinen, damit aber auch das Tempo des W.s abbremst und diesen für die Gesellschaft erträglicher macht. Sie ist sich dieser Rolle z. T. bewusst und bleibt zugleich Träger der Tradition, aber i. S. d. moderaten Anpassung an die sich verändernden Umstände. Untersuchungen zeigen, dass der Umfang dieser Gruppe schwankt, langfristig aber eher stabil ist. Unter jungen Menschen ist diese eigentlich untypische Gruppe seit der Wiedervereinigung wichtig geworden. Die erste Ursache war die forcierte Globalisierung, die folgte, dann der unerwartete Erfolg Deutschlands, nachdem es von den Experten in aller Welt bereits als „kranker Mann“ abgestuft war. Je sicherer der Aufschwung jedoch inzwischen erscheint, desto mehr schwenkt die nachwachsende Jugend wieder auf ihre angestammte experimentelle Rolle im W. zurück. Es kann sein, dass sich heute ein neuer Konflikt aufbaut; zwischen jenen jungen Leuten, die in der Krise an die Tradition anknüpften, dann Verantwortung in Beruf und Familie übernahmen und jenen, die jetzt als Nachwachsende davon profitieren.