Realität
Die deutsche Sprache erlaubt es, den Begriff der R. von dem der Wirklichkeit zu unterscheiden. „Wirklichkeit“ ist zu verstehen als die Übersetzung des lateinischen actualitas, die wiederum auf die aristotelische energeia zurückführt werden kann. Insb. in der Gedankenwelt der Mystik in Verbindung mit der theologischen Denkfigur des actus purus klingt in dem Wort „Wirklichkeit“ der aktivische Sinn des Wirkens und Wirksamseins an, der wiederum den teleologischen Aspekt von „Verwirklichung“ als der letzten Konstitutionsquelle des Seienden in Erinnerung hält. Demgegenüber ist der Begriff R. aus dem lateinischen Begriff res (Einzelding, Sache) abgeleitet.
1. Die Komplexität des Wirklichen
In der Tradition der rationalistischen Philosophie bezeichnet der Begriff der „Wirklichkeit“ zum einen den Gegensatz zum „bloß“ Gedachten, also zu den Inhalten von Irrtum, Lüge, Traum, Illusion, Täuschung und Einbildung und zum anderen das, was zur Möglichkeit hinzukommen muss, damit sie Tatsache wird. Ludwig Wittgenstein hat in der „Logisch-philosophischen Abhandlung“ (1960) diese Tradition fortgesetzt, die Wirklichkeit aber als das „Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten“ definiert (Wittgenstein 1960: 2.06). Die Wirklichkeit ist demnach der Inbegriff aller bestehenden und aller anderen Sachverhalte, die bestehen könnten, es aber nicht tun. Dies verweist indirekt auf das für den gesamten Rationalismus einschließlich Immanuel Kant zentrale Axiom der Einheit, Einzigkeit und durchgängigen Bestimmtheit der Welt. Die Möglichkeit sicherer Erkenntnis und einer exakten Sprache hat demnach zur Bedingung, dass die Gesamtheit der Tatsachen ein eindeutig umgrenztes und durchgängig zusammenhängendes Ganzes bildet. Nur so kann man explizieren, worauf sich falsche Aussageinhalte (und damit Irrtum, Einbildung usw.) und auch negative Aussagen („es gibt außer der Erde keine bewohnten Planeten im Sonnensystem“) beziehen, nämlich indirekt auf jenes eindeutig umgrenzte Weltganze, dem etwas als Teil zugeschrieben wird, das ihm nicht zukommt. Wirklichkeit ist also aufs Engste mit der Differenz von Wahr und Falsch verbunden und gründet auf jenem eindeutigen Zusammenhang von allem mit allem, auf den man sich verlassen kann, wenn man die Wahrheit sagt und gerade nicht, wenn man lügt.
Jenseits aller metaphysischen und religiösen Dimensionen gilt schon aufgrund dieser substanziellen Bezogenheit auf seine Gegen- und Komplementärkonzepte, dass man den Wirklichkeitsbegriff sicher nicht auf den Bereich der positiv feststellbaren Fakten einengen kann. Das Wirkliche ist prinzipiell vielschichtig konstituiert. Den philosophisch bedeutsamsten Aspekt dieser Komplexität hat Aristoteles herausgearbeitet, und zwar in seiner Auseinandersetzung mit dem megarischen Möglichkeitsbegriff. Dieser besagt, dass Wirkliches und Mögliches objektiv in eins fallen, denn daran, dass etwas nicht wirklich wird, erweist sich, dass es auch nicht möglich war. Diese Lehre, so Aristoteles, würde das Phänomen der Bewegung zum bloßen Schein machen. Vielleicht nicht für unsere subjektive Meinung, aber objektiv wäre demnach alles Wirkliche ein vollständig determinierter, alternativloser Zusammenhang, ein parmenideischer Seinsmonolith. Damit wäre auch Freiheit eine bloße subjektive Illusion. Man muss daher, so Aristoteles, dem megarischen Möglichkeitsbegriff die Annahme entgegensetzen, dass es eine genuine „Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen“ (so die Definition der Bewegung in Aristot. phy. 201a11, 202a8) gibt. Im Zusammenhang damit macht Aristoteles auch die hochbedeutsame Unterscheidung zwischen Möglichkeit als bloßer Denkbarkeit (es wäre möglich, dass die Menschheit noch in diesem Jahr auf dem Mars landet) und Möglichkeit als real existierender Disposition. Letzteres ist wieder wesentlich, wenn es um die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Normativem geht. Der zentrale Dispositionsbegriff, auf den man zurückgehen muss, wenn man der in der Neuzeit lange virulenten Verabsolutierung der Disjunktion zwischen Sein und Sollen entgegentreten will, ist der Begriff der Natur, sowohl in seiner hylemorphistisch begründeten Fassung bei Aristoteles (physis) – die in der chinesischen Denkfigur des ziran eine bedeutsame Entsprechung hat – als auch in dem bei Cicero grundgelegten und in den „Quellen des Selbst“ (Taylor 1996) aufzuspürenden Gedanken einer im Individuum angelegten Leitlinie des eigenen Lebens („Authentizität“), der nach Charles Taylor ein „Verwirklichungskonzept“ des Menschseins voraussetzt, wonach „jede Person ihre eigene, originäre Form der Selbstverwirklichung besitzt, die sie ganz unabhängig entfalten kann“ (Taylor 1992: 120).
Das Nachdenken über die Komplexität des Wirklichen gehört zweifellos zu den weitreichendsten und grundsätzlichsten Motiven des Philosophierens überhaupt; so etwa die Frage nach der Wirklichkeit des Mathematischen und des Logischen. „Man könnte sagen: Wenn es eine Logik gäbe, auch wenn es keine Welt gäbe, wie könnte es dann eine Logik geben, da es eine Welt gibt“ (Wittgenstein 1960: 5.5521), ist einer der kryptischsten Sätze L. Wittgensteins, dessen Thematik man zumindest bis zu Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Polemik gegen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückverfolgen kann („Das wahre Logische, das Logische im wirklichen Denken, hat in sich eine nothwendige Beziehung auf das Seyn, es wird zum Inhalt des Seyns und geht nothwendig ins Empirische über“; Schelling 1858, Bd. 3: 101 f.). Ein ganz eigenes Thema ist wiederum die Suche nach der Wirklichkeit des Vergangenen und des Zukünftigen, die Augustinus im Ausgang von seiner berühmten Frage „Quid est ergo tempus?“ (conf. XI, 14) in den „Confessiones“ in der menschlichen Seele verortete und die man noch in Paul Ric&olig;urs Grübeln über den Ort des Gewesenen wiederfinden kann. Immerhin dreht sich im Faust II der Irrtum des Teufels, der ihn wohl zuletzt den Wettgewinn kostet, um den Unterschied zwischen „vorbei“ und „nie gewesen“. Womit man an den Zusammenhang zwischen unserer Grammatik und der Wirklichkeit des Transzendenten gelangt, aus dem Robert Spaemann seinen „letzten Gottesbeweis“ (2007) gezogen hat.
2. Die Problematizität der Realität
Das Wort „R.“, das sich vom lateinischen res (Sache) herleitet, hat in der Philosophie eine spezifische Funktion gewonnen in der Auseinandersetzung mit dem Problem der „R. der Außenwelt“, d. h. dem Nachdenken über die einigermaßen lebensfremde Frage, ob nicht all das, was wir als objektive Wirklichkeit erfahren, samt seiner ganzen Komplexität, als Korrelat oder Inhalt eines ihm entzogenen, gewissermaßen gegenüberstehenden Erkenntnissubjekts rekonstruiert werden müsse, das in einer zur realen komplementären, „ideellen“ Sphäre angesiedelt sei. Hintergrund ist der methodische Zweifel, der für René Descartes ein Gedankenexperiment bildete, mit dem er die intuitive Evidenz, mit welcher der Zweifelnde in allem Angezweifelten die Vorgängigkeit seines Zweifelns und damit seines Denkens wiederfindet, begrifflich zu kennzeichnen vermochte. I. Kant hat die Sache dann in mehrfacher Weise verwickelt: Zum einen entwarf er, um den genuinen Wahrheitsanspruch normativer im Unterschied zu deskriptiv-empirischer Erkenntnis zu begründen, das epistemologisch konstituierte, aber letztlich metaphysisch fundierte Modell des „transzendentalen Idealismus“, wonach alle theoretische und insb. wissenschaftliche Erkenntnis sich immer nur auf die Erscheinungen zu richten vermag, die dem zeitenthobenen, transzendentalen Subjekt, das uns alle zu denkenden, rechnenden und sprechenden Wesen verbindet, gegeben sind, nicht aber auf eine allfällige ihnen noch vorausgehende, von uns unabhängige R., die er mit dem bloßen Grenzbegriff des „Dings an sich“ markierte (Kant 1984, Bd. 3: B 45), während die wahrhaftige praktische Erkenntnis uns eben zu dieser die Erscheinungen gebenden Sphäre Zugang eröffnet, weil ihre Begriffe „die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen, [die Willensgesinnung] selbst hervorbringen, welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist“ (Kant 1984, Bd. 7: A 116). Zum anderen wollte er aber mit der Dichotomie von Erscheinung und Ding an sich keinesfalls den Wahrheitsanspruch der wissenschaftlichen Erkenntnis relativieren, sondern der transzendentale Idealismus sollte im Gegenteil die unwiderrufliche Begründung des „empirischen Realismus“ bedeuten, d. h. die Fähigkeit des erkennenden Subjekts, die gesamte Natur durchgängig und lückenlos als gesetzlich determinierten Zusammenhang vollumfänglich nachzuvollziehen. Das wiederum unterlegte er mit einem Lehrstück von der „Widerlegung des Idealismus“ (Kant 1984, Bd. 3: B 274), wonach das Dasein der Gegenstände im Raum durch das Bewusstsein von meinem Dasein in der Zeit bewiesen werde, womit er dem „Skandal“ Abhilfe zu schaffen beanspruchte, dass bis anhin „das Dasein der Dinge außer uns“ (Kant 1984, Bd. 3: B XXXIX, Anm.) nicht bewiesen worden sei. In der Folge ist manches verzerrte Bild von einer Grundsatzalternative zwischen „Realismus“ und „Idealismus“ entworfen worden, von der die Philosophie und gar ihre Geschichte prinzipiell geprägt seien. Im Kern aber handelt es sich hier vielleicht nicht um ein „Scheinproblem“ (so Carnap 2004), aber wohl doch um ein Reflexionsproblem, das nicht in einem argumentativen Gedankengang zu lösen, sondern in der Praxis unseres Daseins in der Welt immer schon gelöst ist. Martin Heidegger, L. Wittgenstein (Wittgenstein 1970: § 625: „Ein Zweifel ohne Ende ist nicht einmal ein Zweifel.“), Maurice Merleau-Ponty, Hilary Putnam (nach dessen Auffassung „rationale Akzeptierbarkeit das einzige Kriterium dafür ist, was eine Tatsache ist“ [Putnam 1982: 10]) und R. Spaemann haben von ganz verschiedenen Seiten auf den Kernpunkt hingewiesen, dass nicht ein subjektiver Akt unhintergehbar evidenter Einsicht, sondern die Praxis des genuin menschlichen, des rationalen Verhaltens und die durch sie ins Leben eingebettete Sicherheit unseres soziokulturell konstituierten und alle Menschen universal verbindenden Weltzugangs den R.s-Sinn begründet haben, den wir philosophisch nur zu erinnern und zu verteidigen, aber nicht aufs Neue zu erfinden vermögen. Dabei wird es in jedem Fall auf einen zeitlichen, womöglich sogar den genuin aktivischen Sinn ankommen, den gegenüber dem, was wir die „R.“ nennen, das Wort „Wirklichkeit“ noch in sich wahrt.
Literatur
W. Schweidler: Vollendete Präsenz, in: ArchFilos 86/2 (2018), 61–70 • Ders.: Der Ort des Gewesenen, in: A. Schlitte u. a. (Hg.): Philosophie des Ortes, 2014, 217–230 • Ders.: Die ontologischen Bedeutung des Leibes nach Merleau-Ponty, in: ders.: Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik, 2008, 305–342 • R. Spaemann: Wirklichkeit als Anthropomorphismus, in: H.-G. Nissing (Hg.): Grundvollzüge der Person, 2008, 13–35 • Ders.: Der letzte Gottesbeweis, 2007 • Derselbe u. a.: Natürliche Ziele, 2005 • R. Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie in: ders.: Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, 2004, 3–48 • M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 2004 • T. Trappe: Wirklichkeit, in: HWPh, Bd. 12, 2004, 830–845 • Q. Wang: „It-self-so-ing“ and „Other-ing“ in Laozi’s Concept of Zi Ran, in: B. Mou (Hg.): Comparative Approaches to Chinese Philosophy, 2003, 225–244 • T. Buchheim u. a. (Hg.): Die Normativität des Wirklichen, 2002 • P. Ric&olig;ur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, 1998 • C. Taylor: Quellen des Selbst, 101996 • M. Forschner: Über das Glück des Menschen, 1993 • C. Taylor: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 71992 • Aristoteles: Metaphysik, 2 Bde., 1991 • I. Kant: Werkausgabe, 11 Bde., 1984 • Ders.: Kritik der reinen Vernunft I, in: ebd., Bd. 3 • Ders.: Kritik der praktischen Vernunft, in: ebd., Bd. 7, 103–302 • H. Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, 1982 • M. Heidegger: GA, 102 Bde., ab 1975 • L. Wittgenstein: Über Gewißheit, 1970 • Ders.: Logisch-philosophische Abhandlung, 1960 • R. Descartes: Méditations, in: ders.: Oeuvres et lettres, 1953, 253–547 • F. W. J. Schelling: Sämmtliche Werke, 14 Bde., 1856–58.
Empfohlene Zitierweise
W. Schweidler: Realität, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Realit%C3%A4t (abgerufen: 23.11.2024)