Staatengemeinschaft

Der Begriff der S. besagt, dass Staaten in den internationalen Beziehungen nicht völlig frei agieren können, sondern miteinander in einer durch das Völkerrecht gefassten Gemeinschaft verbunden sind. In Anlehnung an die von Ferdinand Tönnies geprägte Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft basiert die Gemeinschaft auf Homogenität und Solidarität ihrer Mitglieder, die sich gemeinsamen Zielen verschreiben. In der S. gelten verbindliche Werte und Prinzipien, an denen sich die Einzelstaaten zu orientieren haben.

Der Terminus S. wird häufig synonym mit den Begriffen der Völkerrechtsgemeinschaft oder der internationalen Gemeinschaft verwandt. Allerdings betont der Terminus S. bes., dass Staaten die Hauptakteure im Völkerrechtssystem sind. Z. T. wird der Begriff auch zur Kennzeichnung von regionalen Verbünden von Staaten benutzt. So bezieht sich die Bezeichnung europäische S. auf die EU als bes. eng verflochtene Staatenverbindung. In der DDR wurde zudem das Bestehen einer auf gemeinsamen Werten beruhenden „sozialistischen S.“ hervorgehoben.

Historisch kann die Idee der S. weit zurückverfolgt werden. Bereits die spanischen Spätscholastiker Francisco de Vitoria und Francisco Suárez bekannten sich zu einer Völkergemeinschaft, die auf der Vernunft aller Völker beruhe bzw. das Gemeinwohl zu fördern habe. Auch die Protestanten Hugo Grotius und Christian Wolff gingen von der Existenz eines universell geltenden Völkerrechts aus, das die gesamte Menschheit und alle Staaten verbinde. Im 19. Jh. gewann allerdings gerade im hegelianisch geprägten Deutschland der Voluntarismus viele Anhänger, nach dem der unabhängige Staat rechtlich nur eingehegt werden könne, wenn er sich selbst dazu verpflichte. Zudem war im Zeitalter des Imperialismus die Mitgliedschaft in der S. auf die „zivilisierten“ Staaten Europas und Amerikas begrenzt. Kolonialisierte Völker in Asien und Afrika konnten sich nicht auf den Schutz völkerrechtlicher Regelungen berufen. Nach Gründung des Völkerbundes 1919 entwickelten einige Völkerrechtler die Idee einer Völkerrechtsgemeinschaft weiter, die auf gemeinsamen Grundlagen wie dem Grundsatz pacta sunt servanda beruhe. Nach Errichtung der Vereinten Nationen 1945 fand die Begrifflichkeit zunehmend Eingang in den allgemeinen völkerrechtlichen Sprachgebrauch.

In der Rechtspraxis spielt der Begriff der S. bzw. der internationalen Gemeinschaft eine wichtige Rolle. Nach dem BVerfG geht das GG in seiner Präambel und den Art. 24–26 von der Eingliederung des von ihm verfassten Staats in die Völkerrechtsordnung der S. aus. Daraus leitet das Gericht ab, dass insb. im Rechtshilfeverkehr Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen zu respektieren sind. Auf internationaler Ebene wird das Konzept der internationalen Gemeinschaft herangezogen, um zu begründen, warum das Völkerrecht auch unabhängig von staatlichem Konsens gelten kann. Art. 53 WVRK erkennt die Existenz von unabdingbaren Normen (jus cogens) an, die durch vertragliche Vereinbarungen nicht gebrochen werden dürfen. Klassisches Beispiel für eine solche Norm ist das in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta verankerte Gewaltverbot. Zudem hat der IGH bereits 1970 die Existenz von erga omnes-Normen anerkannt, die auf Grund ihrer Bedeutung alle Staaten betreffen und von diesen geltend gemacht werden können. Diese Idee hat die Völkerrechtskommission in Art. 48 des Artikelentwurfs zur Staatenverantwortlichkeit aufgenommen. Darüber hinaus finden sich in Resolutionen der Generalversammlung sowie des Sicherheitsrats routinemäßig Appelle an die internationale Gemeinschaft.

In der aktuellen völkerrechtswissenschaftlichen Debatte lässt sich beobachten, dass der Begriff der S. langsam durch den Begriff der internationalen Gemeinschaft abgelöst wird. Dadurch können auch internationale Organisationen als Mitglieder der Gemeinschaft erfasst werden, zumal ihr Status als Völkerrechtssubjekte nicht bestritten wird. Dagegen begegnet der Vorschlag, NGOs, internationale Wirtschaftskonzerne oder menschliche Individuen als vollwertige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft anzuerkennen, häufig Bedenken, da deren völkerrechtlicher Status (noch) nicht geklärt ist. Allerdings propagieren einige Völkerrechtler den Gemeinschaftsbegriff anzureichern und die völkerrechtliche Ordnung als eine Verfassungsordnung zu verstehen (Konstitutionalisierung des Völkerrechts). Nach dieser Theorie existieren nicht bloß Gemeinschaftswerte, sondern Verfassungsprinzipien, an die die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft gebunden seien.

Das Verständnis einer konstitutionalisierten internationalen Gemeinschaft, aber auch das klassischere Konzept der S. erfahren Kritik aus verschiedenen Lagern. Gegen den globalen Konstitutionalismus wird vorgebracht, dass die Souveränitätsorientierung aufstrebender Mächte wie China und Russland einem solchen idealistischen Verständnis entgegenstünde. Grundsätzlicher stellen Anhänger des politikwissenschaftlichen Realismus die Idee einer auf gemeinsamen Werten basierenden S. in Frage, da die für eine Gemeinschaft nötige Homogenität auf internationaler Ebene nicht existiere. Als pessimistisches Gegenbild geht die Vision eines Kampfes der Kulturen davon aus, dass verschiedene geopolitisch bedeutsame Regionen in Zukunft aggressiv um Macht und Herrschaft miteinander ringen. Aus postmoderner Perspektive wird zudem die Universalisierbarkeit von Gemeinschaftswerten abgestritten. Die Rede von der Gemeinschaft maskiere die Ausübung von hegemonialer Machtpolitik durch starke Staaten auf Kosten des globalen Südens. Auch die Fragmentierung des Völkerrechts, nach der sich immer mehr völkerrechtliche Rechtsbereiche ausdifferenzieren, die als Spezialrecht wenig Bezug zum allgemeinen Völkerrecht herstellen, wird teilweise als Herausforderung für die Idee der S. aufgefasst.