Thomismus

  1. I. Philosophisch
  2. II. Theologisch

I. Philosophisch

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1. Begriffsgeschichtliche Vorbemerkungen

Mit T. ist eine bis heute wirksame philosophisch-theologische Lehrrichtung bzw. Denkströmung benannt, die sich am Werk und am Denken des Thomas von Aquin orientiert und versucht, dessen Theorien und Ideen zu tradieren und gleichzeitig für die eigene Epoche fruchtbar zu machen. Gemeint ist weniger eine Schule, als vielmehr eine komplexe Denkrichtung, in der sich religiöse, kirchen- und ordenspolitische Interessen an der Person des 1323 heiliggesprochenen und 1567 zum Kirchenlehrer erhobenen Dominikaners Thomas mit philosophisch-theologischen Ansprüchen verbinden.

Der Begriff findet sich bereits im 14. Jh. als Bezeichnung für die unmittelbaren Schüler und Anhänger des Thomas als thomistae. Im heutigen Sprachgebrauch hat sich eingebürgert, den Begriff „T.“/„thomistisch“ für jenes normative und enthistorisierte Lehrsystem zu benutzen, das sich über die Jahrhunderte hinweg als die rechte Auslegung und Weiterentwicklung des Thomas verstanden hat. In Anlehnung an die seit Ende des 19. Jh. entstehende Neuscholastik wird auch von „Neu-T.“ gesprochen. Im Zuge der als Reaktion darauf eintretenden historisch-kritischen Erforschung der Philosophie des Mittelalters wird hingegen der Bezug auf Leben und Werk des historischen Thomas als „thomanisch“ oder „thomasisch“ bezeichnet und bewusst von „thomistisch“ abgegrenzt. (Mit einer Einschränkung im Englischen, in der dieser Unterschied nur zwischen thomistic und neothomistic gesetzt werden kann.)

2. Historische Stationen

Gemeinhin lassen sich drei historische Phasen des T. unterscheiden: Zunächst ein mittelalterlicher T. (13.–15. Jh.), der geprägt ist durch die Pariser Lehrverurteilung von 1277, von der auch (obgleich er namentlich nicht erwähnt wird) mehrere aristotelisch geprägte Thesen des Thomas betroffen sind. Dies führt zu ersten Auseinandersetzungen – auch innerhalb des Dominikanerordens – um die rechte Auslegung der keineswegs unumstrittenen thomanischen Lehren; u. a. in Gestalt von Korrektorien und Gegenkorrektorien. Hier bewahrheitet sich die These, dass der T. eher aus einem Anti-T. entstanden ist und weniger dadurch, dass Thomas eine Schulgründung beabsichtigt hätte. Die Verteidigung des Thomas findet ihren Höhepunkt in der durch den Dominikanerorden betriebenen Institutionalisierung seiner Lehren als opinio communis. Auf die Heiligsprechung 1323 erfolgt die volle Rehabilitation durch die Kirche. Unter den mittelalterlichen Thomisten ragt namentlich der auch als princeps Thomistarum benannte Johannes Capreolus hervor.

Ein weiterer Abschnitt in der Geschichte des T. umfasst das 16.–18. Jh. Hier beginnt sich – v. a. in Spanien, Portugal und Italien – ein T. zu konsolidieren, der den Rückgriff auf Thomas bewusst vollzieht, um auf die Herausforderungen durch die Reformation zu reagieren. Bes. einflussreich ist Thomas Cajetan, dessen Thomasinterpretation bis in die Neuzeit hinein maßgeblich bleibt. 1567 wird Thomas zum Kirchenlehrer erhoben und infolgedessen ersetzt seine „Summa theologiae“ zunehmend als klassisches Lehrbuch die „Sentenzen“ des Petrus Lombardus. Auch die Schule von Salamanca (Francisco de Vitoria, Domingo Báñez) bringt bedeutende Kommentierungen des Thomas hervor, die nicht nur die Grundlage des philosophisch-theologischen Curriculums bilden, sondern auch die Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen ökonomischen, rechtlichen und politischen Lage widerspiegeln. An der Universität von Coimbra verfasst João Poinsot einen wirkmächtigen „Cursus philosophicus thomisticus“.

Die dritte Phase, der sogenannte Neu-T. (19./20. Jh.), ist erneut durch einen bewusst vollzogenen, aber weitgehend enthistorisierten Rückgriff auf Thomas gekennzeichnet; Ziel ist es – so formuliert es die Enzyklika „Aeterni patris“ Leo XIII. von 1879 –, den die Einheit von Glaube und Vernunft bedrohenden modernen Philosophien eine wahre christliche Philosophie entgegenzusetzen. Der T. als geschlossenes normatives Denksystem, das in deduktiver Form auf nahezu alle Bereiche der Philosophie anwendbar ist, droht hier zum „Kampfbegriff“ in der Konfrontation mit einer als relativistisch und antichristlich interpretierten Moderne zu werden. Zu seinen bedeutendsten Vertretern zählen Joseph Kleutgen, Désiré-Joseph Mercier, Gallus Maria Manser, Réginald Garrigou-Lagrange, Jacques Maritain und Étienne Gilson. Freilich gibt es auch vermittelnde Versuche, etwa den transzendentalen T., der die Konfrontation mit Immanuel Kant sucht (Joseph Maréchal), oder schließlich auch die ausdrücklich als notwendig geforderte Hinwendung zur historisch-kritischen Erforschung der Kontexte des thomanischen Denkens und Wirkens (Franz Ehrle, Heinrich Denifle, Martin Grabmann).

Der Begriff T. wird heute i. d. R. nur noch im historischen Sinne benutzt; überlebt hat er im angelsächsischen Raum, wo als analytical thomism der Versuch bezeichnet wird, Thomas mit der analytischen Philosophie ins Gespräch zu bringen (Peter Thomas Geach, Anthony Kenny, Alasdair MacIntyre, Eleonore Stump).

3. Inhaltliche Merkmale

Typische Merkmale des T. lassen sich überblickshaft für jede philosophische Disziplin nennen: Die Unterscheidung einer natürlichen und einer übernatürlichen Ordnung, die Orientierung an Aristoteles und seinem Rationalitätsmodell (Rationalität), der Hylemorphismus, die Realdistinktion von esse und essentia, die Analogielehre, die Annahme der Materie als Prinzip der Individuation, die Ausrichtung des Menschen auf ein Letztziel, die Ablehnung angeborener Ideen, die Erkennbarkeit Gottes als letzter Ursache, die Priorität des Intellektes vor dem Willen, die Etablierung eines vom göttlichen Gesetz abgeleiteten Naturrechtes. Insb. Letzteres betrifft einen Punkt, in dem die Ansichten des T. sich am weitesten von Thomas entfernt und sich in Gestalt einer eigenen Naturrechtstheorie verselbständigt haben.

Grundsätzlich ist der T. ein reaktives Phänomen im mehrfachen Sinne des Wortes: In den ersten Jahrhunderten nach Thomas’ Tod formiert er sich zum einen als Reaktion auf Angriffe, die die Lehre des Thomas in Frage stellen; zum anderen positioniert er sich in den intellektuellen Debatten seiner Zeit stets in Abgrenzung von einer nominalistischen via moderna, wie sie das 14./15. Jh. ausruft. Dieses konservative Selbstverständnis teilt der mittelalterliche T. mit den späteren Jahrhunderten, in denen die Rückkehr zu Thomas gefordert wird, weil sich dort die normative Idealgestalt einer unabhängig von allen historischen Kontexten geltenden philosophia perennis verwirklicht sehe.

4. Ausblick: Thomasforschung heute

Seit Mitte des 20. Jh. wird der T. zunehmend infrage gestellt und als eine Systembildung kritisiert, die der Person und dem Werk des Thomas nicht nur nicht entspricht, sondern beide sogar ideologisch verfremdet. Die Thomasforschung wendet sich deshalb dem historischen Thomas zu und entdeckt in einer solchen unvoreingenommenen, hermeneutisch reflektierten Relektüre neue Einsichten, die zu einer Neukontextualisierung seiner Schriften und zu einer Neuinterpretation seiner Lehren führen. Darüber hinaus eröffnet die historisch-kritischen Standards verpflichtete Erforschung der thomanischen Philosophie die Möglichkeit, Thomas als anschlussfähig an aktuelle philosophische Fragestellungen zu deuten. Dies zeigt sich etwa in der Interpretation der thomanischen Metaphysik als Transzendentalwissenschaft (Jan Adrianus Aertsen) oder in der oben bereits genannten analytischen Thomasforschung. Die größten Umwälzungen haben allerdings auf dem Gebiet der praktischen Philosophie stattgefunden, wo mit der Rekonstruktion des aristotelischen Hintergrundes der thomanischen Ethik (Wolfgang Kluxen) ein Modell der autonomen praktischen Vernunft zutage tritt, das das thomistische Naturrechtsdenken in seiner deduktivistischen Struktur erheblich korrigiert.

II. Theologisch

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Im Kontext des sogenannten Korrektorienstreits formierte sich bald nach dem Tod des Thomas von Aquin 1274 ein früher T. als offiziell unterstützte Lehre innerhalb des Dominikanerordens, wobei die Rezeption fremder Lehrelemente nicht ausgeschlossen war. Spezifisch theologische Kontroversthemen betrafen die thomanische Lehre über die Möglichkeit einer Ewigkeit der Welt, die Einheit der substantiellen Wesensform (mit ihren anthropologischen und christologischen Konsequenzen), die Individualität der Engel, die dogmatischen Folgen der Verhältnisbestimmung von Sein und Wesen bei Thomas und die theologische Wissenschaftslehre. Die Heiligsprechung des Thomas 1323 bestätigte seine gesamtkirchliche Autorität. Ab dem 15. Jh. nahm der T. eine zentrale Stellung in der sich verfestigenden theologischen Schullandschaft ein. Antoninus von Florenz OP verfasste mit seiner „Summa theologica“ (1477) das wichtigste moraltheologische Werk (Moraltheologie) der Epoche. In der Auseinandersetzung mit dem Konziliarismus traten thomistische Theologen als Unterstützer des päpstlichen Primats auf (Juan de Torquemada OP, „Summa de Ecclesia“ [1453]). Die bis dahin qualitätvollste Gesamtdarstellung der Theologie vom Standpunkt eines strikten T. stellten die apologetisch ausgerichteten „Defensiones theologiae divi Thomae“ (1483) des Johannes Capreolus OP (princeps Thomistarum) dar. Der wichtigste Thomist im frühen 16. Jh. war Thomas Cajetan OP, dessen großer Summenkommentar (erschienen ab 1508) bis ins frühe 20. Jh. zu einem Referenzwerk avancierte. In dieser Zeit setzte sich die thomanische STh in den meisten Schulen endgültig als Grundlage des theologischen Unterrichts und der systematischen Behandlung der dogmatischen Traktate durch. Besonderen Einfluss entfalteten Cajetans Thesen zu Papst und Ablass, während bestimmte Eigenlehren schon bei Zeitgenossen Kritik hervorriefen. Papst Pius V. erhob Thomas 1567 zum Kirchenlehrer. Bedeutsam für die fortgesetzte Präsenz des T. in der nachreformatorischen Theologie wurde die dominikanische Schule von Salamanca. Die Thomaskommentare des Francisco de Vitoria OP blieben wie diejenigen des Melchor Cano OP ungedruckt. M. Canos berühmtes Werk „De locis theologicis“ (1563) zeigt die Offenheit des frühen Salmanticenser T. für die Aufnahme von Impulsen des Humanismus und einer verfeinerten theologischen Wissenschaftstheorie. Domingo de Soto OP gehörte zu den einflussreichen Theologen auf dem Konzil von Trient, das u. a. in seiner Lehre über Glaube und Sakramente eine deutlich thomistische Prägung zeigt. Während die publizierten Schriften der ersten Generation salmanticensischer Thomisten v. a. durch ihre Erörterung neuer moralischer, juridischer, ökonomischer und politischer Fragestellungen Maßstäbe setzten, kamen in der Folgezeit auch umfangreiche Summenkommentare in den Druck (Bartholomé de Medina OP, Domingo Báñez OP). D. Báñez wurde durch seine Kritik an der Lehre des Jesuiten Luis de Molina über das Verhältnis zwischen Gottes Gnade und menschlicher Freiheit zum Protagonisten der thomistischen Fraktion im sogenannten Gnadenstreit (neben Thomas de Lemos OP und Diego Álvarez OP). Bezeichnend für sie war die Betonung des souveränen Primats des göttlichen Willens gegenüber dem menschlichen (praemotio/praedeterminatio physica, gratia efficax). Gegner der thomistischen Schule stellten deren Thesen nicht selten in die Nähe zu calvinistischen und jansenistischen Irrtümern. In eine zunehmende Distanz zur Jesuitentheologie traten die Thomisten seit Mitte des 17. Jh. auch durch ihre Bevorzugung des Probabilismus gegenüber dem Probabiliorismus in der Morallehre. Weitere bedeutende thomistisch orientierte Summenkommentare verfassten u. a. die Dominikaner Johannes a S. Thoma, Pedro de Godoy und Jean-Baptiste Gonet. Die starke thomistische Prägung der Karmelitenschule dokumentiert sich in dem von mehreren Verfassern des Konvents zu Salamanca erarbeiteten großen „Cursus theologicus“ (1631–1704). Im 18. Jh. flaute mit dem allgemeinen Rückzug der scholastischen Theologie und dem institutionellen Niedergang des Dominikanerordens in vielen Teilen Europas die thomistische Literaturproduktion stark ab. Impulse zu einer Rückbesinnung auf Thomas gingen in der ersten Hälfte des 19. Jh. v. a. von Italien aus und wurden bald in ganz Europa wirksam. Das Anliegen dieser „Neuscholastik“ war zunächst eine Erneuerung der katholischen Philosophie gegen die als glaubensgefährdend bewerteten neuzeitlichen Denkströmungen durch Rückkehr zu den Prinzipien der Scholastik, v. a. im Werk des Thomas. Bald griff die Bewegung auch auf die Theologie aus. Nachdem sie bereits im Pontifikat Pius IX. lehramtliche Unterstützung erfahren hatte, setzte sie sich mit der Enzyklika „Aeterni Patris“ Leos XIII. (1879) universalkirchlich durch. Fast alle Lehrbücher der katholischen Dogmatik waren in den nachfolgenden Jahrzehnten neuscholastisch geprägt, wobei die Ausrichtung an Thomas auch bei nicht-dominikanischen Autoren durchgängig stark war (vgl. etwa Mathias Joseph Scheeben oder Louis Billot SJ). Allerdings trugen die bleibende Rückbindung an die nachtridentinische Kommentartradition und veränderte Darstellungsformen dazu bei, dass Abweichungen von der ursprünglichen Lehre des Thomas oft unreflektiert blieben. Wichtige theologische Debatten der Zeit betrafen u. a. das Verhältnis zur Philosophie, die Gnadenlehre sowie die Themen der Dogmatisierungen von 1854 und 1870 (Mariologie bzw. Papsttum [ Papst ]/Ekklesiologie). Faktisch förderte der Neu-T. aber auch die Herausbildung einer kritischen Scholastikforschung, deren genuine Erschließung und historische Kontextualisierung des thomanischen Denkens wichtige Voraussetzungen für theologische Erneuerungsbewegungen im 20. Jh. schufen. In diesen waren thomistische Impulse noch zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils allgegenwärtig (etwa bei Vertretern der sogenannten Nouvelle Théologie und vielen einflussreichen Konzilstheologen), während v. a. im romanischen Raum auch ein strenger Schul-T. präsent blieb (vgl. Réginald Garrigou-Lagrange OP). Obwohl das Konzil weiterhin eine Ausrichtung des Dogmatikstudiums an der Theologie des Thomas empfiehlt (vgl. OT 16; can. 252 § 3 CIC/1983), ist die thomistische Prägung der katholischen Systematik seitdem stark zurückgegangen und die historische Scholastikforschung hat innerhalb der Theologie an Bedeutung verloren. Systematische Theologie mit explizit thomistischer Ausrichtung wird aber vereinzelt auch heute noch gelehrt, etwa an Dominikanerhochschulen des französischen und englischen Sprachraums.