Vertrauen
1. Begriffliche Annäherung
V. fungiert als soziale Einstellung zur Orientierung des Individuums. Spezifische Verhaltensweisen (bspw. Wahl eines konkreten Politikers oder Verleihen von Geld an einen Freund), sogenannte V.s-Handlungen, sind das Resultat erlebten V.s auf kognitiver (Wissen oder Quasi-Wissen), emotionaler (Gefühl der Sicherheit) und konativer Ebene (Verhaltensbereitschaft).
Grundlegend für die V.s-Forschung ist die systemtheoretische Konzeption (Systemtheorie) des Soziologen Niklas Luhmann, der insb. die Funktionalität von V. als Mechanismus der Komplexitätsreduktion in den Mittelpunkt stellt; insofern geht V. mit der subjektiven (Wieder-)Gewinnung von Sicherheit und Kontrolle einher: Bestimmte Handlungsausgänge sind zwar prinzipiell möglich, werden jedoch gedanklich ausgeschlossen; Risiken, die sich objektiv nicht beseitigen lassen, werden auf diese Weise neutralisiert und üben keinen weiteren Einfluss auf die eigene Verhaltenssteuerung aus, weshalb auch das Interaktionsgeschehen bis zu einem gewissen Grad subjektiv vorhersehbar wird. Anschlussfähig an diese Perspektive ist die sozialpsychologisch orientierte Konzeption von V. als einem zentralen Filter sozialer Wahrnehmung. Aus einem konstruktivistischen Verständnis (Konstruktivismus) heraus nehmen Menschen ihre Umwelt stets subjektiv und selektiv wahr, ihr Handeln ist Folge individueller Situationsinterpretationen. Bezogen auf das V.s-Phänomen bedeutet dies, dass das subjektive Erleben von Sicherheit und Kontrolle verstärkt wird, wenngleich bestehende Risiken und mangelnde Kontrolle objektiv nicht beseitigt werden können. Die Spezifik der über V. geleiteten Wahrnehmung erhöht jedoch bedeutsam das Vermögen, der Komplexität der Welt zu begegnen, weshalb V. eine offene, kritische Auseinandersetzung mit komplexen Anforderungen begünstigt und als wichtiger Schutzfaktor gegenüber einer unsicherheits- respektive angstinduzierten, stark eingeschränkten Wahrnehmung der Handlungschancen fungiert, die mit einer starken Simplifizierung der Umwelt einhergeht.
V. stellt ein universales Phänomen dar: Es ist für beinahe alle Formen des sozialen Miteinanders bedeutsam, wobei ein besonderer Stellenwert im Zuge von Handlungsentscheidungen gegeben ist. Insofern hat sich V. als Forschungsgegenstand inzwischen innerhalb einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen etabliert. Nichtsdestoweniger mangelt es an einheitlichen definitorischen und messmethodischen Zugängen zum V.s-Konstrukt. Dies erschwert den Vergleich bzw. die Generalisierung von Forschungsergebnissen erheblich. Allerdings lassen sich wichtige Kernelemente von V. ausmachen: V. ist
a) ein Regulator im sozialen Beziehungsgefüge und beruht dabei auf dem Prinzip der Wechselseitigkeit, V. ist
b) mit Handlungsfreiheit verknüpft und folglich mit der Bereitschaft, einen stets risikohaften V.s-Vorschuss einzugehen, und V. impliziert
c) eine positiv orientierte Zukunftserwartung.
1.1 Regulation sozialer Beziehungen und Wechselseitigkeit
V. bedarf der Interaktion zwischen mindestens zwei Agierenden: Einem V.s-Gebenden, der V. investiert, und einem V.s-Nehmenden, dem V. entgegengebracht wird. Vertrauensnehmende Entitäten können dabei auf der Mikro-, Meso- oder Makroebene angesiedelt sein. Demnach können nicht nur einzelne Personen V.s-Instanzen sein, sondern auch Gruppen, Organisationen, Institutionen oder Systeme. Entscheidend ist jedoch, das V. ausschließlich ein Phänomen innerhalb der sozialen Welt darstellt: Wenn also von V. in Objekte (bspw. Datensicherheit von Internetdiensten) gesprochen wird, so impliziert dies, dass solche Objekte von Menschen erschaffen werden, V. wird also nicht den Objekten, sondern denjenigen Menschen, die diese kreiert haben, entgegengebracht.
Für die Entwicklung einer stabilen V.s-Beziehung ist das Prinzip der Reziprozität von zentraler Bedeutung: Zum einen ist das Geben von V. mit der Erwartung verbunden, dass dieses V. vom Gegenüber erwidert wird; zum anderen fühlt sich der V.s-Nehmende selbst verpflichtet, auf einen V.s-Vorschuss mit einer persönlichen V.s-Investition zu reagieren. Die Rollenbesetzung von V.s-Gebenden und V.s-Nehmenden wechseln somit stetig. Da V. sich also nach dem Prinzip der kleinen Schritte, also durch den Austausch einer Reihe sich intensivierender V.s-Handlungen, etabliert, ist eine stabile V.s-Beziehung stets das Ergebnis einer auf Zeit angelegten Interaktionsgeschichte. Die V.s-Genese in Settings, in denen ein Austausch wechselseitiger V.s-Handlungen erschwert oder schlicht nicht zu realisieren ist, stellt folglich eine bes. Herausforderung dar.
1.2 Handlungsfreiheit und Risikobereitschaft
V. ist in jeglichen Situationen sozialer Interaktion von Relevanz, in denen das Gegenüber über ein Mindestmaß an Handlungsfreiheit verfügt; im Umkehrschluss bedeutet dies, dass V. obsolet wird, wenn ein Akteur vollständig einseitig über den Ausgang einer Handlung (Handeln, Handlung) bestimmen kann, so etwa über ausgeübten Druck auf das Gegenüber. Verbunden mit der Handlungsfreiheit des Interaktionspartners setzt V. demnach die Bereitschaft voraus, ein Risiko einzugehen, da sich der Andere stets entgegen der eigenen Erwartungen verhalten und das entgegengebrachte V. enttäuschen kann. Der Vertrauende gibt also die Kontrolle über das weitere Geschehen an sein Gegenüber ab: V. zu schenken, bedeutet somit, sich verletzbar zu machen.
1.3 Positive Zukunftserwartung
V. ist immer auf das weitere Geschehen ausgerichtet, denn es wird darauf vertraut, dass das Gegenüber in Zukunft auf eine bestimmte Art und Weise handeln wird. Die Bewertung von Personen oder (Teil-)Systemen als vertrauenswürdig basiert dabei jedoch auf vergangenen direkten oder indirekten Erfahrungen. Es handelt sich nicht um „blindes“ V. Grundsätzlich basiert V. auf einer positiven Zukunftserwartung: Der V.s-Gebende geht davon aus, dass der V.s-Nehmende das investierte V. nicht missbraucht, sondern sich konform zu den an ihn gestellten Erwartungen verhalten wird. Nur dieses unterstellte Wohlwollen beim Gegenüber macht die Bereitschaft möglich, das bei V.s-Handlungen immanente Risiko des Verletzt-Werdens einzugehen und sich in die Hand seines Gegenübers zu begeben.
2. Ebenen von Vertrauen
In der V.s-Forschung wird zwischen personalem und systemischem V. unterschieden: Ersteres bezieht sich auf all jene Handlungskontexte, in denen ein konkreter Interaktionspartner involviert ist. Dyadische Beziehungen sind hierfür das Paradebeispiel. Allerdings kann personales V. ebenso auf Personen außerhalb des sozialen Nahraums bezogen sein, so etwa auf eine Politikerin auf Bundesebene. Systemisches V. bezieht sich auf das V. gegenüber Institutionen und Organisationen. Zwischen beiden Formen des V.s sind Transfereffekte denkbar und wahrscheinlich. So kann etwa das V. in den Hausarzt das V. in das Gesundheitssystem tangieren oder das V. in eine politische Partei das V. in einen konkreten Politiker begünstigen. Über Richtung und Stärke des Zusammenhangs entscheidet dabei v. a. die psychologische Nähe zu einer konkreten Organisation. Mit Blick auf V. als einer zentralen gesellschaftlichen Herausforderung ist die systemische Ebene bes. relevant. „Vertrauenswürdige“ Handlungsprinzipien wie Echtheit, Wertschätzung und Transparenz müssen bspw. im Zuge von Unternehmensphilosophien nicht nur formuliert, sondern auch nachvollziehbar gelebt werden.
3. Zum Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen
In Anlehnung an die Überlegungen N. Luhmanns lässt sich Misstrauen als funktionales Äquivalent zu V. verstehen und fungiert ebenfalls im Zuge der Komplexitätsreduktion und Vereinfachung in der Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit. Während jedoch durch das Erleben von V. bestimmte negative Handlungsausgänge ausgeschlossen werden, werden ebendiese durch das Erleben von Misstrauen als bes. wahrscheinlich erlebt. Folgerichtig ist Misstrauen stets mit einer negativen Erwartungshaltung verbunden; dem Gegenüber wird eine Täuschungsabsicht respektive ein aktives Handeln gegen die eigenen Interessen unterstellt. Die mit erlebtem Misstrauen verbundene Wahrnehmungssimplifizierung tendiert zur Starrheit und Rigidität, sie ist (gleichermaßen auf interpersonaler wie auf systemischer Ebene) für die Entwicklung eines positiven sozialen Miteinanders insofern eher destruktiv und nicht förderlich.
Im Einklang zum Alltagsverständnis wurden V. und Misstrauen lange Zeit als die gegenüberliegenden Enden eines Kontinuums konzeptualisiert. Demnach seien V. und Misstrauen zwei sich ausschließende Bedingungen: Geringes V. gelte automatisch als Indikator für hohes Misstrauen, hohes V. hingegen als Indikator für geringes Misstrauen. In der jüngeren Forschung manifestiert sich jedoch zunehmend das Verständnis beider Phänomene als zwei miteinander zusammenhängende, jedoch distinkte Konstrukte. Damit verknüpft ist die Annahme über die Möglichkeit des gleichzeitigen Erlebens von V. und Misstrauen. Folgerichtig bildet Nicht-V. den Gegenpol zu V., Nicht-Misstrauen jenen zu Misstrauen: Ein Kontinuum zwischen V. und Misstrauen existiert in dieser Konzeption nicht. Die Annahme von V. und Misstrauen als zwei eigenständige Dimensionen wird durch neurowissenschaftliche (Hirnforschung) Befunde empirisch gestützt: Mittels bildgebender Verfahren lässt sich nachweisen, dass beim Erleben von V. und Misstrauen jeweils andere Gehirnareale aktiviert werden, die ihrerseits mit differenten neurologischen Prozessen verbunden sind.
4. Theoretische Ansätze der Vertrauens- und Misstrauensforschung
Die klassischen Ansätze der V.s- und Misstrauensforschung zeichnen sich dadurch aus, dass sie einseitig V. und Misstrauen als personale Variablen konzipieren (wie prominent im Ansatz von Julian Rotter) oder (wie von Morton Deutsch) als situative Variablen. Im ersteren Fall werden V. und Misstrauen als Ergebnisse individueller Sozialisationserfahrungen (Sozialisation) i. S. zeitlich stabiler und dadurch situationsübergreifender Persönlichkeitsmerkmale erfasst, im zweiten Fall werden hingegen situationsspezifische Rahmenbedingungen betont, die ein V.s-Erleben entweder begünstigen oder aber erschweren. Aus heutiger Forschungssicht greifen solche einseitigen Betrachtungen jedoch viel zu kurz und können der Komplexität beider Phänomene nicht gerecht werden. Vielmehr ist das Erleben von V. und Misstrauen stets das Ergebnis eines komplexen Wechselspiels beider Gruppen von Einflussgrößen.
Basierend auf einem dynamisch-transaktionalen Paradigma betont die von Martin K. W. Schweer entwickelte differentielle V.s- und Misstrauenstheorie ebendiese Zusammenwirkung personaler Antezedenzien und situativ-struktureller Rahmenbedingungen auf die individuelle respektive kollektive Situationswahrnehmung und -bewertung; dadurch schlussendlich auf die subjektive Interpretation des Interaktionsgeschehens und das resultierende Verhalten. Das Erleben von V. und Misstrauen und damit verbundene Handlungen sind also Resultat eines vielschichtigen Prozesses mit einer sich entfaltenden, inhärenten Eigendynamik. Die sukzessive Folge der Interaktionssequenzen mit sich stabilisierenden Verstärkungsmechanismen begünstigt den Verlauf progressiver respektive retrogressiver V.s- und Misstrauensverläufe. Als bes. bedeutsame personale Antezedenzien haben sich in diesem Prozess neben den individuellen V.s- und Misstrauenstendenzen (persönliche Überzeugungen über die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit von V. als Benefit bzw. über die Notwendigkeit von Misstrauen zur Schadensabwehr in konkreten Lebensbereichen) die impliziten V.s- und Misstrauenstheorien (Merkmale vertrauenswürdiger Interaktionspartner in konkreten Lebensbereichen) herauskristallisiert. Zudem spielen Stereotype und Vorurteile, Werte und Normen, persönliche Eigenschaften und Erwartungen sowie schließlich auch ausgewählte sozio-demographische Merkmale eine Rolle. Als wichtige situativ-strukturelle Rahmenbedingungen lassen sich neben der Möglichkeit zur offenen Kommunikation das Ausmaß der Freiwilligkeit der Beziehung benennen, zudem der Grad an (formaler) Machtsymmetrie bzw. -asymmetrie (Macht) und schließlich der Umstand, ob eine Beziehung auf Kurz- oder auf Längerfristigkeit angelegt ist. Differentialität und Bereichsspezifik der komplexen Wechselwirkungen im Rahmen der V.s- und Misstrauensentwicklung erschweren den Zugang der empirischen Forschung: Für eine solide wissenschaftliche Analyse der beiden Phänomene ist es jedoch unerlässlich, die Unterschiedlichkeit der Menschen und Situationen hinreichend zu berücksichtigen. Dabei ist V. gerade in einer Zeit immer komplexer werdender gesellschaftlicher Herausforderungen ein bes. sensibles Gut, das den Blick für innovativen Wandel und soziale Verantwortung schärfen kann.
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Empfohlene Zitierweise
M. Schweer: Vertrauen, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Vertrauen (abgerufen: 21.11.2024)