Zwang

1. Zwang im Recht: Rechtsdurchsetzung

Wert und Funktion von Rechtsordnungen bilden sich am Grad ihrer Durchsetzbarkeit ab.

Das Recht als Sollensordnung ist nicht auf abstrakte Geltung , sondern auf Verwirklichung angelegt. Vollstreckung und Sanktionen als die beiden Typen rechtlichen Z.s sind im demokratischen Verfassungsstaat Endpunkte eines einheitlichen und umfassenden Rechtsverwirklichungsvorgangs. Dieser beginnt mit der Rechtsetzung, fährt in der Rechtsanwendung als Konkretisierung generell-abstrakter Regeln auf den Einzelfall fort und mündet – falls notwendig – in der mehr oder weniger zwangsweisen Rechtsdurchsetzung. Die zwangsweise Rechtsdurchsetzung als die Vollstreckung und Sanktionierung überwölbende Kategorie empfängt nach diesem einheitlichen Rechtsverwirklichungsmodell Inhalt und Impulse, Ziele und Programme aus dem durchzusetzenden Recht. Für die zwangsweise Rechtsverwirklichung treten neue Rechtsschichten, die das Vollstreckungs- oder Sanktionierungsverfahren normieren, hinzu. Die Gesamtheit zwangsweiser Rechtsverwirklichung kann demnach nur in dem Spannungsverhältnis zwischen dem durchzusetzenden Recht und der verfahrensmäßigen und handlungsformenbezogenen Trennung von diesem beschrieben werden. Sie empfängt nicht nur ihr Ziel, sondern einen entscheidenden Anteil ihrer Legitimation aus dem seinerseits demokratisch legitimierten durchzusetzenden Recht, wahrt auf der anderen Seite rechtsstaatliche Distanz (Rechtsstaat) durch eine verfahrensrechtliche Abkoppelung von den durchzusetzenden Rechten oder Entscheidungen.

Vollstreckung und Sanktion als zwangsweise Rechtsverwirklichung stellen dabei einen möglichen, nicht einen zwangsläufigen Endpunkt der Rechtsverwirklichung dar. Sie prägen nicht den Rechtsalltag und können nicht den Regelfall der Staats- und Verwaltungspraxis darstellen. Die Rechtsordnung ist stets auf eine breite Grundakzeptanz angewiesen, die durch zwangsweise Rechtsverwirklichung nicht ersetzt werden kann. Eine entscheidende Funktion von Vollstreckung und Sanktion liegt in ihrem hintergründigen Drohpotential, so paradox es klingen mag in ihrer „Nichtanwendung“. Auf der anderen Seite bedürfen auch zwangsvermeidende, wirklich oder vermeintlich „sanfte“ Administrationsformen dieses Drohpotentials. Auch im Kontext konsensualen Verwaltungshandelns, im Zusammenhang mit der Privatisierung von Staatsaufgaben werden die Formen des rechtlichen Z.s nicht überflüssig. Sie verändern nur ihren Ansatzpunkt und ihre Funktion.

Zwangsweise Rechtsverwirklichung in den Formen von Vollstreckung und Sanktion kann der gerichtlichen wie der administrativen Rechtsanwendung folgen. Verwaltungsvollstreckungs- und Verwaltungssanktionsrecht umschreiben die administrative Rechtsdurchsetzung, d. h. solche durch die Verwaltung selbst. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit oder – etwa im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts (Ordnungswidrigkeit) – die ordentliche Gerichtsbarkeit werden erst auf der Kontrollebene eingeschaltet. Allerdings müssen auch gerichtliche Entscheidungen aller Gerichtszweige, etwa im Wege der zivilprozessualen Z.s-Vollstreckung oder der Strafvollstreckung durchgesetzt werden.

Die Rechtsordnung nimmt das Phänomen Z. auch noch in anderer Weise auf. Sofern Z. von einem Bürger gegenüber einem anderen Bürger angewendet wird, kommt es auf dessen Legalität an. Diese kann durch Not- und Selbsthilferechte gegeben sein. Erzwungene Willenserklärungen beeinträchtigen deren Bindungskraft, vgl. § 123 BGB. Einwilligungen und Ähnliches können grundsätzlich nur freiwillig erfolgen – Freiwilligkeit ist insofern das Gegenteil von Z. Auch große Teile der Straftatbestände richten sich gegen illegale Z.s-Ausübung gegenüber anderen.

2. Zwang als tatsächliches und als Rechtsphänomen

Rechtsdurchsetzung ist der Anschluss von Rechtsentscheidungen an die realen Verhältnisse. Vollstreckung und Sanktionen erweisen sich als Bindeglieder zwischen der Sollensordnung und der Wirklichkeit. Gesetzgebung bedarf regelmäßig der Aktualisierung der von ihr hervorgebrachten Normen durch Anwendung in Form von Umsetzung und ggf. auch Durchsetzung. Recht funktioniert dadurch, dass es Streitigkeiten ohne Ausübung physischer Gewalt entscheidbar macht und so Frieden sichert. Das Recht erweist sich insofern als Instrument gewaltloser Streitschlichtung. Im Grenzfall muss sich dann allerdings das Recht selbst des Z.s und der physischen Gewaltsamkeit bedienen, um seine Funktion erfüllen zu können: Um Macht und Gewalt zu domestizieren, muss sich das Recht der Drohung mit Macht, Gewalt und Z. bedienen.

Z. als tatsächliches Phänomen verhält sich zu Gewalt wie Herrschaft zur Macht: Herrschaft und Z. sind institutionalisiert und verfasst, Macht und Gewalt sind unverfasst und roh. Der Z. erscheint stets zielgerichtet, final. In einem vorrechtlichen Sinn bezeichnen Macht und Herrschaft Zustände, Gewalt und Z. Modalitäten von Handeln. So ist Z. ein Machtmittel von Herrschaft, welches dem entgegenstehenden Willen gegenübertritt und somit Modus der Fremdmotivation ist. In der Grundform reicht hier die Drohung aus. Physischer Z. (vis absoluta) wird durch den psychisch vermittelten Z. (vis compulsiva) ergänzt. Rechts-Z. ist demgegenüber rechtlich gebundener und organisierter Z. Im demokratischen Verfassungsstaat ist es Aufgabe des demokratischen Prozesses, „Art, Mittel und Schranken der Durchsetzung verschiedener Rechtsnormen je angemessen und verhältnismäßig zu bestimmen“ (Waldhoff 2011: 17 f.). Durch diese rechtliche Fassung des Z.es wird dieser als Handeln dem Staat zugerechnet. Im demokratischen Verfassungsstaat gibt es insoweit keinen legitimen außerrechtlichen Z.

3. Typologie des Rechtszwangs

Die Vermittlungsleistung zwischen Sollen und Sein zum Zweck der Durchsetzung von Recht und von rechtlichen Entscheidungen geschieht mittels eines Kanons unterschiedlicher Z.s-Instrumentarien, die als abstrakte Typen zunächst mehr oder weniger unabhängig von den Zusammenhängen einer konkreten historischen Epoche oder einer konkreten Rechts- oder Verfassungsordnung unterschieden werden können. Vollstreckung ist die zwangsweise staatliche Rechtsanwendung gegen den Willen des Pflichtigen i. S. einer Durchsetzung der auf einer Norm beruhenden rechtlichen Entscheidung. Vollstreckung ist die zwangsweise Rechtsverwirklichung i. S. einer unmittelbaren Durchsetzung staatlicher Gebote bzw. Verbote. Vollstreckung ist insofern „Erfüllungs-Z.“: Die angeordnete (verwaltungsrechtliche oder zivilrechtliche) Pflicht soll möglichst „punktgenau“ verwirklicht werden. Die zivilprozessuale Z.s-Vollstreckung mit der Durchsetzung der Leistungspflicht stellt den Prototyp der Vollstreckung dar. Demgegenüber stehen „konstitutive Z.s-Akte“, die ohne Berührung der Außenwelt, ohne physischen Z. gleichsam self executing der Rechtsdurchsetzung dienen und etwa in der Fiktion einer zivilrechtlichen Willenserklärung ihre Parallele in der zivilprozessualen Z.s-Vollstreckung finden. Die Kassation eines Verwaltungsakts durch ein Verwaltungsgericht gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO bildet ein verwaltungsrechtliches Beispiel. Auch die Aufrechnung als „Selbstexekution“ ist funktional hier einzuordnen. Sanktionen als Rechtsnachteile meinen negative (belastende) (Rechts-)Folgen gegen denjenigen, der eine Rechtsregel verletzt hat. Über die Verhaltensbindung besteht der Zusammenhang mit der Norm: Derjenige, der gegen die Regel verstößt, wird sanktioniert. Norm und Sanktion erweisen sich so als zwei Seiten derselben Medaille: Die Sanktion erhält intentionalen Charakter in Bezug auf die verletzte Norm. In diesem allgemeinen Sinne können Sanktionen repressiven, restitutiven oder präventiven Charakter besitzen. Die neuere Normlehre differenziert hier zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm: Die – logisch das prius darstellende – Verhaltensnorm statuiert ein Gebot oder Verbot; die darauf aufbauende Sanktionsnorm – die zugleich Verhaltensnorm für den Rechtsstab ist – legt Sanktionsmittel für den Normverstoß fest. Im Verfassungsstaat des GG besteht eine Pointe dieser Unterscheidung darin, dass ein Normverstoß allein keine Eingriffs- oder Z.s-Rechte auslöst, denn der Rechtsverletzer wird dadurch nicht rechtlos gestellt. Auch hier zeigt sich, dass sämtliche Z.s-Rechte rechtlich konstituiert sind. In die Kategorie der Rechtssanktionen fallen sowohl die Kriminalstrafen und sonstigen „Rechtsfolgen der Straftat“, die Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts wie die bis heute unscharfe Kategorie der Verwaltungssanktionen.