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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:07 Uhr
F. ist ein ambivalenter und schillernder Begriff, ein, nach Marc Bloch, „mot fort mal choisi“ (Bloch 1939: 3). Zurückgehend auf das seit dem ausgehenden 9. Jh. belegte Substantiv feudum (Lehen), entstand er in Deutschland gegen Ende des ancien régime unter Rezeption des im 17. Jh. in Frankreich aufgekommenen Wortes féodalité, das zunächst lediglich Lehnrecht und -system meinte, aber schließlich zu einem die herrschaftlichen und sozialen Verhältnisse in einem abwertenden Sinne charakterisierenden Kampfbegriff wurde. Im Deutschen kann F. wie in anderen Sprachen auch in einem engeren Sinne allein das Lehnswesen meinen, doch wird der Begriff meist in einem allg.eren Verständnis verwendet und zur Kennzeichnung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse herangezogen.
1. Feudalismus als pejoratives Schlagwort
Für die Repräsentanten der französischen Aufklärung charakterisierten die Begriffe féodalité bzw. féodal oder système féodal die abgelehnten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des ancien régime, die Fragmentierung der öffentlichen Gewalt in lokale Herrschaftsbezirke, wodurch zahllose Tyrannen kleineren Zuschnitts entstanden seien (Voltaire). Das Feudalregime, basierend auf Landbesitz und Ungleichheit durch Privilegierung des Adels und des Klerus, wurde zum Inbegriff einer ungerechten Verfassung (Denis Diderot), und am 11.8.1789 durch die Assemblée nationale per Dekret beendet. Das wirkmächtig gewordene pejorative Verständnis von F. aber wirkte weiter.
In Deutschland hatte schon der Reformer des preußischen Rechtswesens Carl Gottlieb Svarez das „Lehnssystem“ in seinen Vorträgen für den preußischen Kronprinzen als fürchterlich beschrieben, weil es zwei Klassen von Menschen hervorgebracht habe, nämlich Adlige und Leibeigene. Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah im „Feudalrecht“ schließlich ein „Recht des Unrechts“, da die Feudalherrschaft ein die „allgemeine Rechtslosigkeit“ institutionalisierendes „System von Privatabhängigkeit und Privatverpflichtung“ dargestellt haben soll (Hegel 1923: 813). Daran anknüpfend verstand Karl Marx, der die mittelalterliche Gesellschaft außerhalb der Städte allein in Feudalherren und Leibeigene gegliedert glaubte, den F., in dem die oberste militärische und gerichtliche Gewalt aus dem Grundeigentum erwachsen sei, als eine gegenüber der antiken Sklavenhaltergesellschaft fortschrittliche, jedoch vom später auftretenden Kapitalismus notwendigerweise zu überwindende „Produktionsweise“ (MEW 23: 352) und legte damit den Grundstein für die nicht zuletzt von Josef W. Stalin geförderte (vulgär)marxistische Deutung (Marxismus) des Geschichtsverlaufs (Geschichte, Geschichtsphilosophie) als der gesetzmäßigen Abfolge verschiedener Gesellschaftsformationen (Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, F., Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus).
Die Begriffsbildung hatte mithin oft weniger mit Wissenschaft zu tun als mit Ideologie und Politik. Der Terminus selbst wurde daher häufig zum Klischee im politischen Diskurs und ließ jede wissenschaftliche Schärfe vermissen. Diese wissenschaftliche Unschärfe des pejorativen Schlagworts nahm dabei gegen Ende des 19. Jh. weiter zu, als das Adjektiv „feudal“ im Studentenjargon und schließlich in der Alltagssprache den Sinn von „vornehm“, „anspruchsvoll“ oder „aufwendig“ erhielt. Die weitgehende grundsätzliche Zurückhaltung der Geschichts- und Sozialwissenschaft bei dem Gebrauch des F.-Begriffs ist daher nur zu verständlich.
2. Feudalismus als Wissenschaftsbegriff
Trotzdem ist der nachwirkende Versuch unternommen worden, den Terminus F. wissenschaftlich nutzbar zu machen. Ansatzpunkt dafür bot die zutreffende und gerade auch in nicht wissenschaftlichen Zusammenhängen betonte Beobachtung von der gespaltenen Souveränität in der Vormoderne, also des Umstands, dass die Gerichtsbarkeit nicht geschlossen bei einem Staatsoberhaupt lag oder sich von diesem ableitete (sondern zu Teilen unabhängig von diesem in Grundherrschaften, Hofmarken, Gutsherrschaften oder Seigneurien ausgeübt wurde), sowie die damit verbundene, durch abgestufte Freiheitsrechte gekennzeichnete, sehr stark durch Grundbesitz fundierte Hierarchisierung der Gesellschaft und das häufig oder über lange Zeiträume hinweg fehlende Gewaltmonopol des Staates.
Für Max Weber bedeutete daher der F., verstanden als Form traditionaler Herrschaft, eine dezentrale Machtausübung, bei der die Herrschaftsrechte ebenso wie die Mittel zur Ausübung der Herrschaft bei lokalen Gewalthabern lagen. Zugleich begriff ihn M. Weber als einen Grundtypus der Herrschaftsordnung, den es nicht nur in Europa, sondern ebenfalls in außereuropäischen Gesellschaften – etwa als orientalischen Pfründen-F. – geben konnte. Ein globales Phänomen erblickte auch Otto Hintze im F., dessen militärische und ökonomische Facetten er zusätzlich neben der herrschaftlichen, hauptsächlich auf personalen Bindungen beruhenden Dimension betonte. Der F. wurde damit gleichsam zu einem (als Epochen- und Periodisierungsbegriff nutzbaren) Idealtypus, dessen je spezifischer Konkretisierung man in vielen Herrschaftsverbänden und Sozialordnungen nachgehen kann, bes. etwa in der russischen, der orientalischen und v. a. der japanischen Geschichte.
M. Bloch, der wohl die wirkmächtigste Analyse der Feudalgesellschaft vorgelegt und den – obwohl mit Skepsis betrachteten – F.-Begriff entsprechend geprägt und befördert hat, blieb in dieser Hinsicht jedoch eher zurückhaltend und konzentrierte seine auf den F. gerichtete Beschäftigung ebenso wie spätere französischsprachige Mediävisten (Georges Duby, Jacques Le Goff) hauptsächlich auf das mittelalterliche Europa, ohne allerdings komparative Studien abzulehnen.
Obwohl weiterhin umstritten und sprachlich unverändert ambivalent, ist der Begriff F., an dem sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh. v. a. die DDR-Mediävistik abgearbeitet hat, nicht mehr wegzudenken aus der modernen Wissenschaftssprache. Obsolet geworden ist dabei freilich seine marxistische Bedeutung als Teil einer Stufenfolge gesetzmäßig zu durchlaufender Gesellschaftsformationen. Zumeist wird der Terminus inzwischen in einem weiten Sinne verwendet; als reines Synonym für Lehnswesen hingegen sollte er nicht mehr dienen.
Literatur
E. Münch: Feudalismus, in: HdRG, Bd. 1, 32008, 1557–1563 • W. Schmale: Feudalgesellschaft, in: ENz, Bd. 3, 2006, 971–978 • N. Fryde u. a. (Hg.): Die Gegenwart des Feudalismus, 2002 • F.-R. Erkens: Moderne und Mittelalter oder Von der Relevanz des praktisch Untauglichen, in: ders. (Hg.): Karl der Große in Renaissance und Moderne, 1999, 95–122 • K.-F. Krieger: Feudale Gesellschaft, feudaler Staat, in: StL, Bd. 2, 71986, 560–564 • O. Brunner: Feudalismus, feudal, in: GGB, Bd. 2, 1975, 337–350 • H. Kammler: Die Feudalmonarchien: politische und wirtschaftlich-soziale Faktoren ihrer Entwicklung und Funktionsweise, 1974 • H. Wunder (Hg.): Feudalismus. Zehn Aufsätze 1974 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 51972 • O. Hintze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus, in: ders. (Hg.): Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte I, 31970, 84–119 • O. Brunner: „Feudalismus“. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in: ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 21968, 128–159 • C. G. Svarez: Vorträge über Staat und Recht (Kronprinzenvorträge), 1960 • M. Bloch: La société féodale. La formation des liens de dépendance, 2 Bde., 1939 f. • G. W. F. Hegel: Die germanische Welt. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 4, hg. v. G. Lasson, 21923 • Voltaire: Essai sur les m&olig;urs et l’esprit des nations 1756, 1878 • D. Diderot: Représentants, in: D. Diderot/ J.-B. le Rond d’Alembert, Encyclopédie, Bd. 28, 21780, 362–369.
Empfohlene Zitierweise
F. Erkens: Feudalismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Feudalismus (abgerufen: 23.11.2024)