Bündnis 90/Die Grünen: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:06 Uhr
Die 1980 gegründete Partei DIE GRÜNEN, die sich 1993 mit Teilen der ostdeutschen Bürgerbewegungen (Bürgerechtsbewegungen) zur Partei Bündnis 90/Die Grünen zusammengeschlossen hat, ist die erste Partei (Parteien) in der Nachkriegsgeschichte der BRD, die auf keine historischen Vorläufer zurückgeht und sich dauerhaft als neue politische Kraft im Parteiensystem) etablieren konnte. Während sich die Grünen zunächst als Anti-Parteien-Partei und verlängerter Arm außerparlamentarischer Bewegungen (Außerparlamentarische Opposition) verstanden, entwickelten sie sich nach und nach zu einer ökologischen Reform- und Regierungspartei, die in Koalitionen mit anderen Parteien an der Gestaltung der Politik in Deutschland teilnimmt.
1. Erklärungsansätze zur Entstehung der Grünen
Die Entstehung grüner Parteien am Ende der 1970er Jahre wird u. a. mit der Wertewandeltheorie erklärt. Der zufolge sind in den Nachkriegsgesellschaften im Zuge von Wohlstandsmehrung und Bildungsexpansion materielle Werte nach und nach durch postmaterielle verdrängt worden. Neue soziale Bewegungen als Träger postmaterieller Werte wurden demnach zu den Geburtshelfern grüner Parteien. Ausgehend von der Cleavage-Theorie wird die Herausbildung grüner Parteien auch als Folge einer neuen Konfliktlinie (Ökologie v Ökonomie) verstanden. Neuere kulturgeschichtliche Forschungen betonen, dass die Entstehung der deutschen Grünen sich der Interaktion eines ideologisch heterogenen Spektrums von Gruppen, Organisationen und Einzelpersönlichkeiten, die sich auf Ökologie als diskursive Klammer verständigten, verdankt. Neben solchen Erklärungsansätzen werden auch institutionelle Faktoren wie das deutsche Verhältniswahlsystem, die föderale Struktur der Bundesrepublik (Föderalismus) und die staatliche Parteienfinanzierung als Grund für die Herausbildung der Grünen angeführt, weil diese es neuen Parteien erleichtern, zunächst Erfolge auf Landesebene zu erzielen und sich dann auch national zu etablieren.
2. Parteigeschichte
Vor der 1980 erfolgten Gründung der Grünen waren grüne Listen bereits Ende der 1970er Jahre auf lokaler und regionaler Ebene bei Wahlen erfolgreich. Kurz nach ihrer Gründung folgte der Einzug in mehrere Landtage. Ihren bundespolitischen Durchbruch erreichten sie bei der Bundestagswahl 1983. Nach weiteren Erfolgen bei Landtags-, Europa- und Bundestagswahlen hatten sich die Grünen Ende der 1980er Jahre im Parteiensystem (Parteiensysteme) etabliert.
Zäsuren der Parteigeschichte waren 1985 der umstrittene Eintritt in eine Koalition mit der SPD in Hessen und die Niederlage bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990, als die westdeutschen Grünen im Wahlgebiet West an der Fünfprozenthürde scheiterten. Im Wahlgebiet Ost erreichte die dort separat antretende Wählervereinigung Bündnis 90/Die Grünen jedoch 6 % und zog mit acht Abgeordneten in den Bundestag ein. Bei den westdeutschen Grünen begann danach ein Prozess der Neuorientierung. Sie definierten sich nicht länger als „Anti-Parteien-Partei“, sondern als ökologische Reformpartei „im System“. 1993 vereinigten sie sich mit den im Bündnis 90 zusammengeschlossenen ostdeutschen Bürgerbewegungen (Bürgerechtsbewegungen) zur gesamtdeutschen Partei Bündnis 90/Die Grünen. Während die GRÜNEN in den 1990er Jahren in mehreren westdeutschen Bundesländern Regierungen mit der SPD bilden konnten, entwickelte sich Ostdeutschland immer mehr zur Diaspora.
Eine weitere Zäsur stellte 1998 der Eintritt in die rot-grüne Bundesregierung dar. Mit Außenminister Joschka Fischer entpuppte sich die Regierungszeit als Lern- und Häutungsphase, in der sich die Partei durch Kriegseinsätze der Bundeswehr im Kosovo u. a. von pazifistischen Positionen (Pazifismus) ihrer Gründungsphase verabschieden musste. Nach siebenjähriger Regierungszeit wurden sie bei der vorgezogenen Neuwahl des Bundestages 2005 nicht nur kleinste Fraktion, sondern waren zu diesem Zeitpunkt auch in keinem Bundesland mehr in einer Regierung vertreten. Es folgten koalitionspolitische Öffnungen, als die Partei 2008 in Hamburg zum ersten Mal ein Regierungsbündnis mit der CDU einging. 2009 konnte sie mit 10,7 % ihr bis dahin bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielen. Ihre größten elektoralen Erfolge auf Landesebene lagen in der Zeit zwischen 2010 und 2012, als sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte in den Parlamenten aller 16 Bundesländer vertreten war und mit der SPD in mehreren Bundesländern die Regierung bilden konnte. In Baden-Württemberg stellte sie darüber hinaus erstmalig den Ministerpräsidenten. Während den Grünen in Umfragen zu dieser Zeit sogar Spitzenwerte von mehr als 20 % Wählerzuspruch bescheinigt wurden, folgte der jähe Absturz bei der Bundestagswahl 2013, als sie auf ein Ergebnis von 8,4 % zurückfielen. Nur in Baden-Württemberg, wo sie 2016 mit über 30 % zur stärksten Partei wurden, gelang ihnen danach noch einmal ein überragender Erfolg. Als Regierungspartei in zahlreichen Bundesländern stellen sie über den Bundesrat dennoch einen Machtfaktor dar.
3. Programm
Die vier grundlegenden Säulen grüner Programmatik wurden im 1980 verabschiedeten ersten Bundesprogramm mit den Adjektiven „ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“ umschrieben. Ansonsten enthielt das Programm ein Sammelsurium verschiedenster Ansätze und Forderungen. Es war eher ein „Wunschzettel“ als realitätstauglich. Eine programmatische Neuausrichtung erfolgte nach der Vereinigung mit den ostdeutschen Bürgerbewegungen (Bürgerechtsbewegungen). Im 1993 beschlossenen Assoziationsvertrag bekannten sich Bündnis 90/Die Grünen als Reformpartei in der gesamtdeutschen Gesellschaft und distanzierten sich von früheren demokratie- und parlamentsfeindlichen Positionen. Außerdem wurde im Grundwertekatalog die Bedeutung der Menschen- und Bürgerrechte bes. hervorgehoben.
Mehr als 20 Jahre nach ihrer Gründung verabschiedeten die Grünen 2002 ein neues Grundsatzprogramm („Die Zukunft ist grün“), um den veränderten globalen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Globalisierung) Rechnung zu tragen. Es enthält zwar noch Anklänge an die vier tragenden Säulen des ersten Programms, spiegelt aber zugleich die Entwicklung der Grünen von einer reinen Oppositions- zu einer regierungswilligen Reformpartei wider. Kennzeichnend für die programmatische Erneuerung und Erweiterung ist die Verbindung von Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik: Die Grünen treten offensiv für eine ökologische Marktwirtschaft ein. Geschlechter- und Generationengerechtigkeit ergänzen den traditionellen, auf Umverteilung zielenden Gerechtigkeitsbegriff (Gerechtigkeit). Militärische Interventionen werden nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen, soweit sie dem Schutz der Menschenrechte dienen und durch das Völkerrecht sowie ein Mandat des UN-Sicherheitsrates legitimiert sind.
4. Organisation
Die Partei ist gemäß der föderalen Struktur der Bundesrepublik (Föderalismus) territorial in 16 Landesverbände gegliedert, die z. T. unterschiedliche Profile aufweisen. Die wichtigsten Parteiorgane auf Bundesebene sind die Bundesversammlung (auch Bundesdelegiertenkonferenz genannt), der Bundesvorstand, der Länderrat, der Parteirat, der Frauenrat, der Bundesfinanzrat, die Grundsatzkommission und die Bundesarbeitsgemeinschaften. Oberstes Beschlussorgan ist die Bundesversammlung, zwischen den Bundesversammlungen der Länderrat. Die operative Leitung der Partei nimmt ein sechsköpfiger quotierter Bundesvorstand wahr, dem der Parteirat (maximal 16 Mitglieder, für zwei Jahre gewählt) zur Seite steht. Eine Besonderheit im Verhältnis zu anderen Parteien ist die starke Stellung eines eigenen Frauenrates. Seit 1994 haben die Bündnisgrünen eine Jugendorganisation (Grüne Jugend). Im politischen Umfeld arbeitet die Heinrich-Böll-Stiftung, die sich als Teil der grünen politischen Grundströmung in der Gesellschaft versteht.
Obwohl sich die Grünen formal ähnliche Strukturen wie andere Parteien gegeben haben, war ihr Organisationsverständnis zunächst stark vom Prinzip der Basisdemokratie geleitet. Mit der Rotation von Ämtern und Funktionen, der Trennung von Amt und Mandat und der Abführung von Diäten sollte die Herausbildung von Berufspolitikern und deren Entfremdung von der Basis verhindert werden. Da sich diese Regeln schnell als dysfunktional erwiesen, wurden sie jedoch aufgehoben oder modifiziert. Im Verlauf von mehreren Strukturreformen hat sich die Partei immer stärker professionalisiert. Sie unterscheidet sich heute nur noch wenig von ihren Mitbewerbern.
5. Mitglieder und Wähler
Die Mitgliederzahl der Grünen ist von anfänglich ca. 9 000 auf inzwischen ca. 60 000 (Stand Ende 2016) gestiegen. Seit der Gründung hat sich die Zusammensetzung der Mitgliedschaft mehrfach verändert. Während in den Anfängen die Altersgruppe der unter 30-Jährigen dominierte, stellen inzwischen die Alterskohorten der 30- bis 59-Jährigen die Mehrheit unter den Mitgliedern. Unter sozialstrukturellen Gesichtspunkten fällt der starke Anteil von Mitgliedern mit einem hohen Bildungsabschluss und einem überdurchschnittlichen Einkommen auf. Unter den Berufsgruppen sind bes. Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst (37 %) vertreten. Mit ca. 38 % haben die Grünen auch den höchsten Anteil von Frauen in ihrer Mitgliedschaft.
Von Anfang an hatten sich verschiedene Strömungen innerhalb der Mitgliedschaft herausgebildet. In den 1980er Jahren bestimmten v. a. Auseinandersetzungen zwischen dem fundamentalistischen und dem realpolitischen Flügel die innerparteiliche Diskussion. Die Scheidelinie verlief in der Frage, ob man Koalitionen mit der SPD eingehen und sich zum Parlamentarismus und staatlichen Gewaltmonopolen bekennen solle oder nicht. Seit den 2000er Jahren haben sich die Flügelkämpfe abgeschwächt. Inzwischen werden sie in moderateren Bahnen ausgetragen.
Die Wählerschaft verhält sich spiegelgleich zur Mitgliedschaft. Die stärkste Unterstützung kam zunächst von jüngeren Wählern, aus Universitätsstädten und in großstädtischen Milieus. Zu den frühen regionalen Hochburgen gehören auf kommunaler Ebene Standorte von Atomanlagen wie z. B. Gorleben. Unter den Bundesländern zählen die Stadtstaaten mit ihren urbanen und alternativen Milieus, aber auch Flächenstaaten wie Baden-Württemberg und Hessen zu den Hochburgen. Sozialstrukturell ist die überwiegende Anzahl der grünen Wähler bis heute v. a. in den „neuen Mittelschichten“ beheimatet. Junge Menschen, Frauen, Wähler mit Abitur und Hochschulabschluss sowie Konfessionslose votieren überdurchschnittlich stark für die grüne Partei.
Literatur
L. Probst: Bündnis 90/Die Grünen (GRÜNE), in: O. Niedermayer (Hg.): Handbuch Parteienforschung, 2013, 509–540 • S. Mende: „Nicht links, nicht rechts, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, 2011 • T. Spier u. a. (Hg.): Parteimitglieder in Deutschland, 2011 • M. Nishida: Strömungen in den Grünen (1980–2003): Eine Analyse über informell-organisierte Gruppen innerhalb der Grünen, 2006 • M. Klein/J. W. Falter: Der lange Weg der Grünen. Eine Partei zwischen Protest und Regierung, 2003 • J. Hoffmann: Die doppelte Vereinigung. Vorgeschichte, Verlauf und Auswirkungen des Zusammenschlusses von Grünen und Bündnis 90, 1998 • F. Müller-Rommel: Die Grünen im Licht von neuesten Ergebnissen der Wahlforschung, in: T. Kluge (Hg.): Grüne Politik, 1994, 125–141 • J. Raschke: Die Grünen – Wie sie wurden, was sie sind, 1993 • D. Salomon: Grüne Theorie und graue Wirklichkeit. Die Grünen und die Basisdemokratie, 1992 • R. Inglehart: The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics, 1977 • S. M. Lipset/S. Rokkan: Party systems and voter alignments: Cross-national perspectives, 1967.
Empfohlene Zitierweise
L. Probst: Bündnis 90/Die Grünen, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/B%C3%BCndnis_90/Die_Gr%C3%BCnen (abgerufen: 22.11.2024)