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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:08 Uhr
I. Politische Philosophie
Abschnitt druckenDer Begriff H. wurde im 5. Jh. n. Chr. von Pseudo-Dionysius Areopagita in seinen Schriften „De coelesti hierarchia“ und „De ecclesiastica hierarchia“ geprägt (Migne PG 3, 119–169; 369–586). Wie es die Zusammensetzung des Begriffs aus den griechischen Worten für hierós („heilig“) und árchein („herrschen“) verrät, bedeutete H. bei Pseudo-Dionysius „heilige Herrschaft“, im weiteren Sinne auch „heilige Rangordnung“ oder überhaupt „Ordnung“ (táxis, ordo). Pseudo-Dionysius hatte sie am Beispiel der Rangordnungen der Engel und der Ämter der Kirche dargestellt. Er gewann aufgrund seiner Pseudo-Autorität sowie seiner von Proklos inspirierten Mischung von Neoplatonismus, Mystik sowie Christentum großen Einfluss auf die Philosophie des Mittelalters und der Renaissance. Man hielt ihn lange Zeit für den durch die Rede des Paulus auf dem Areopag Bekehrten. Schon im Mittelalter wurde der Begriff H. auf die sozio-politische Ordnung übertragen, so dass der hierarchia coelestis und der hierarchia ecclesiastica eine hierarchia civilis zur Seite trat.
Die Geschichte des Begriffs der H. verläuft im Mittelalter parallel zur Historie der Begriffe „Ordnung“, „Amt“ (ordo) und „Stand“ (status). Mittelalterliche H.-Lehren sind – meist triadisch angelegte – Stände- und Ordnungslehren. Ihre Kennzeichen sind die theologische Legitimierung geistlicher und weltlicher Stände, die Zuteilung standesspezifischer Pflichten, Rechte und Gnaden sowie schließlich die aus der theologischen Legitimierung entspringende Strenge der Über- und Unterordnung.
Bereits im Mittelalter, unverkennbar aber durch die Reformation, wird der Begriff der H. seiner theologischen Bedeutung entkleidet. Zwar hat selbst Martin Luther noch eine Form der mittelalterlichen triadischen Ständelehren tradiert: „tres enim hierarchias ordinavit Deus contra diabolum, scilicet oeconomiam, politiam et Ecclesiam“ (WA 39/2: 42). Aber diese Tatsache ist für die folgende Geschichte des H.-Begriffs nicht entscheidend gewesen, da die Kirchenspaltung auch zur Spaltung des H.-Begriffs führte. Einerseits wurde er mehr und mehr exklusiv für die katholische Kirche und die Kanonistik. Andererseits benutzen Anhänger der lutherischen oder reformatorischen Kirchen den H.-Begriff nunmehr als ein antikatholisches Schlagwort: Es diente, im Rahmen der protestantischen Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen, zur abwertenden Kennzeichnung der Rangordnung innerhalb der römischen Kirche. Theologisch-politisch wurde der H.-Begriff zur Polemik gegen den „Papismus“ und den „römischen Despotismus“ genutzt. Diese Kritik geht während der Aufklärung in die Polemik gegen die „Priesterherrschaft“ über.
Neben der Reformation haben auch die Entstehung des modernen Staates und das Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft den Sinn des H.-Begriffs verändert. Der moderne weltanschaulich neutrale Staat löste die für den älteren H.-Begriff wesentliche Verbindung von Theologie und politischer Ordnungslegitimation auf. Zwar waren damit weder die politische Theologie noch die theologische Politik als solche an ein Ende gekommen. Seit Thomas Hobbes verschwimmt jedoch die ehemalige Bedeutung des H.-Begriffs in den Fragestellungen der Neuzeit, die ihrerseits das Verhältnis des weltanschaulich neutralen Staates zu den Religionen und Kirchen (Kirche und Staat) sowie die nur noch als potestas indirecta gewertete politische Macht der Kirche betreffen.
Die bürgerliche Gesellschaft wiederum, mit ihrer Auflösung der ständischen Welt und ihrer Entwicklung „from status to contract“ (Maine 1931: 141), entzog dem H.-Begriff ohnehin seine gesellschaftliche Grundlage. Als Begriff für die Ordnung der gesamten Gesellschaft begegnet H. nach der Französischen Revolution nur noch in den nostalgischen Rückblicken der Romantiker (Politische Romantik) auf die mittelalterliche und feudale Welt. Liberale hingegen werden seit dem 19. Jh. nicht müde, den Gegensatz des H.-Begriffs zur Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft hervorzuheben. Nicht zufällig spricht etwa Karl Gutzkow in seiner Polemik gegen den „Athanasius“ von Joseph von Görres von der „freien Persönlichkeit“, die anstelle von Kirche und Staat zur „Hauptinstitution der Gesellschaft“ geworden sei (Gutzkow 1838: 46). Der für die Gesamtgesellschaft „unzeitgemäß“ gewordene Begriff der H. taucht seit dem 19. Jh. in der eingeschränkteren Bedeutung auf, Rangordnungen im militärischen, bürokratischen oder wirtschaftlichen Bereich zu bezeichnen. Zugleich weitet sich der Begriff. Er wird zum Instrument einer Religionssoziologie, welche ihn unterschiedslos auf verschiedene Religionen anwendet, oder er avanciert sogar zum Allerweltswort für die Über- und Unterordnung beliebiger Phänomene: der Wissenschaften, der Werte, der formalen Grammatiken etc. Eines spezifischen Sinnes entleert, wird H. von Anarchisten (Anarchie, Anarchismus) mit Herrschaft gleichgesetzt. Oft bleibt vom ursprünglichen Wortsinn nur das Moment einer strengen Über- und Unterordnung erhalten, gleichgültig wo sie sich findet.
Die systematische Problematik des H.-Begriffs wird heute durch die Frage bestimmt, inwiefern der pyramidale Aufbau von H.en sowie ihre strenge Rangordnung zur bürgerlichen Gesellschaft und zur Demokratie in Spannung stehen. Harold Joseph Laski, der Begründer der Pluralismustheorie (Pluralismus), polemisierte gegen H.en im Namen pluralistischer moderner Gesellschaften. Und die in den 1960er Jahren erhobene Forderung nach einer Demokratisierung auch der Kirche, des Militärs, der Schule und der Bürokratie war offensichtlich gegen die hierarchischen Strukturen solcher Institutionen und Lebensbereiche gerichtet. Die Demokratie als Staatsform, hieß es, bedürfe der demokratischen Untersysteme, wenn sie lebensfähig sein solle. Dagegen lässt sich einwenden, dass hierarchische Strukturen für solche Institutionen unverzichtbar bleiben, deren spezifische Zielsetzungen durch demokratische Willensbildung und Konsens entweder überhaupt nicht oder nur unzulänglich erreicht werden können. Schon der Staat selbst wie die Politik allgemein bedürfen eines Schlusses von Debatten und der Entscheidung; auch zu Demokratien gehört ein Moment der Über- und Unterordnung, das nicht in „government by discussion“ auflösbar ist. Im engeren Sinn hat die Bürokratie die Aufgabe, durch ihren pyramidalen Aufbau, durch die Festlegung instanzieller Zuständigkeiten, durch die Pflicht zur Einhaltung des Dienstweges wie durch die Sicherstellung einer einheitlichen letztentscheidenden Spitze die Sicherheit und größtmögliche Richtigkeit der Leistungen des modernen Staates zu gewährleisten. Entspr. lassen sich auch für andere Institutionen hierarchische Strukturen aus ihren spezifischen Zielsetzungen rechtfertigen: für die Kirche ob der Vermittlung eines geoffenbarten, nicht erst diskursiv zu begründenden Heils; für das Militär um der durch Befehl und Gehorsam zu gewährleistenden Sicherheit willen; für die Schule wegen ihrer auf Autorität angewiesenen Erziehungsaufgabe; und für die Wirtschaft aufgrund der Effizienzzwänge bei der Hervorbringung allgemeinen Wohlstands. So verstanden, sind H.en nicht einfach Relikte des Mittelalters oder des Feudalismus, die der bürgerlichen Gesellschaft oder der Demokratie feindlich wären. Sie können vielmehr als Elemente freier Gesellschaften und Verfassungen gelten, welche durch die Sicherung ihrer je besonderen Ziele die Qualität der Freiheit und die Rationalität der Politik mitprägen.
Literatur
H. Rausch: Hierarchie, in: GGB, Bd. 3., 1982, 103–130 • M. Bookchin: Hierarchie und Herrschaft, 1981 • W. Maurer: Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund, 1970 • J. Görres: Die Feudalverfassung und Hierarchien im Mittelalter, in: Ges. S., Bd. 15, 1958, 93–96 • R. Roques: L’univers Dionysien. Structure hierarchique du monde selon le Pseudo-Denys, 1954 • H. J. Laski: A Grammar of Politics, 41951 • W. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, 1938 • A. Amorth: La nozione di gerarchia, 1936 • S. de Madariaga: Anarchie oder Hierarchie, 1936 • G. Tellenbach: Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits, 1936 • G. Weippert: Das Prinzip der Hierarchie in der Gesellschaftslehre von Platon bis zur Gegenwart, 1932 • H. S. Maine: Ancient Law, 1931 • K. Gutzkow: Die rothe Mütze und die Kapuze. Zum Verständnis des Görresschen Athanasius, 1838.
Empfohlene Zitierweise
H. Ottmann: Hierarchie, I. Politische Philosophie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Hierarchie (abgerufen: 24.11.2024)
II. Soziologie
Abschnitt druckenWährend H.n noch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit die zentrale Strukturierungsform der stratifizierten Gesellschaften waren, verliert die H. als Ordnungsprinzip für die heutige Gesellschaft an Bedeutung. Herrscher, die über Befehls- und Anweisungsketten in die verschiedenen Lebensbereiche der Bevölkerung hineinregieren können, haben zunehmend an Legitimation verloren. Im Gegensatz zu modernen Gesellschaften sind jedoch Organisationen – Unternehmen, Verwaltungen, Armeen, Polizeien, Gefängnisse, Schulen und mit Abstrichen auch Parteien und Vereine – i. d. R. noch immer über H.n strukturiert.
Theoretisch könnte die Ausbildung von Führung in Organisationen dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden. Die Rangordnung in einer Organisation könnte bei jeder Entscheidung immer wieder neu ausgehandelt werden. Das bes. Merkmal von H. – und damit auch die Abgrenzung von Führung im Allgemeinen – ist, dass die Führung zeitlich, sozial und sachlich eindeutig bestimmt wird. In Organisationen hingegen werden H.n zeitlich unbegrenzt eingerichtet. Es mögen Modelle von zeitlich begrenzter Vertretung von Vorgesetzten, von Interims-Management oder auch zeitlich befristeten Führungsaufgaben existieren, aber die Regel ist, dass jedes Mitglied in der Organisation davon ausgehen kann, dass der Hierarch von heute auch noch der Hierarch von morgen ist. Die H. legt darüber hinaus eindeutig fest, wer wem in der Organisation unterstellt ist. Ein hierarchisch aufgebautes Organigramm reguliert die maßgeblichen sozialen Beziehungen in der Organisation und trägt so dazu bei, das Verhalten der einzelnen Organisationsmitglieder zu koordinieren. Weiterhin werden durch die H. die sachlichen Zuständigkeiten in der Organisation verteilt. Und zwar nicht nur horizontal zwischen den Abteilungen auf der gleichen Ebene, sondern auch vertikal zwischen den einzelnen H.-Stufen. Dabei bleibt aber die prinzipielle Möglichkeit erhalten, dass jedes Thema von unten nach oben gezogen werden kann.
Die H. in Organisationen wird dadurch stabilisiert, dass ihre Akzeptanz zur Mitgliedschaftsbedingung gemacht wird. Wenn man in eine Organisation eintritt und dort bleiben möchte, dann muss man die Anweisungen seines Vorgesetzten akzeptieren. Die Akzeptanz der H. als Mitgliedschaftsbedingung hat einen wichtigen Effekt: Der Vorgesetzte kann bei Entscheidungen in letzter Konsequenz auf die persönliche Achtung seiner Untergebenen verzichten. Durch die Bindung aller Mitglieder an die hierarchische Anordnung von Weisungsgebern und Weisungsempfängern ist es möglich, mit vergleichsweise geringen Verhandlungskosten verhältnismäßig schnell relativ eindeutige Entscheidungen herzustellen: Die Verhandlungskosten werden dadurch niedrig gehalten, dass man sich durch die hierarchische Organisationsstruktur kostenintensive Aushandlungsprozesse spart. Die H. befreit die Beteiligten von der Notwendigkeit, bei der Lösung eines Problems aufwändige Auseinandersetzungen wegen unklarer Verhältnisse führen zu müssen. Der Entscheidungsprozess wird dadurch beschleunigt, dass die Vorgesetzten ihre Mitarbeiter dazu nötigen können, die eigenen Selektionen sofort zu übernehmen und dabei den Zeitvorstellungen des Managements zu folgen. Weisungsempfänger haben in einer H. formal keine Möglichkeit, Zeitvorstellungen des Managements zurückzuweisen.
Die zentrale Rolle von H.n in Organisationen hat die Entstehung von heroischen Managementansätzen befördert, in denen der Erfolg oder Misserfolg einer Organisation als Ergebnis des Handelns einzelner Führungskräfte präsentiert wird. Letztlich erscheint die Organisation als eine durch die Spitze geschickt geführte H. Das „eigene“ Unternehmen, die „eigene“ Verwaltung oder die „eigene“ Armee erscheint als „(Gesamtkunst-)Werk“ des Managements, das letztlich nur das „Ergebnis des Gestaltungswillens des Managements“ ist (Neuberger 1994: 46).
Aber die Realität von H.n sieht anders aus, als uns diese heldenhaften Vorstellungen von Führungskräften in Organisationsbeschreibungen glauben machen wollen. Die im Organigramm dargestellte Hierarchie spiegelt selten die tatsächlichen Machtverhältnisse wider, denn: Hierarisch „ganz unten“ angesiedelte „einfache Mitarbeiter“ gestalten entscheidende Außenkontakte, sie verfügen über das so dringend benötigte Expertenwissen, und sie kontrollieren die so wichtigen informellen Kommunikationswege. Häufig fallen die einer Person formal zugewiesene Befehlskompetenz und ihr faktischer Einfluss auf Entscheidungen in einem Unternehmen, einem Krankenhaus, einer Verwaltung oder einer Universität weit auseinander.
Nicht zuletzt diese Beobachtungen haben dazu geführt, dass bes. in der Managementliteratur eine „Krise der H.“ oder eine „H.-Sackgasse“ konstatiert oder gar ein „Ende der H.“ ausgerufen wurde. Die Verstetigung von Führung in H.n sei bei unruhigen, instabilen Umwelten – so der Tenor – kontraproduktiv. Deswegen müssten hierarchische Stufen in Organisationen drastisch reduziert oder besser noch ganz abgeschafft werden. Effekt dieses Abbaus von H.n – das zeigen organisationswissenschaftliche Studien – ist jedoch eine zunehmende Politisierung der Entscheidungsprozesse in Organisationen. Der Abbau von H.n führt nicht zu einer Abnahme, sondern zu einer erheblichen Zunahme von Machtkämpfen.
Statt ein „Ende der H.“ auszurufen oder – genau entgegengesetzt – ein „Loblied auf die H.“ (Jacques 1990) anzustimmen, konzentriert sich die Soziologie darauf, herauszuarbeiten, dass H.n sowohl Untergebenen als auch Vorgesetzten jeweils Einflussmöglichkeiten übereinander verschaffen. H.n schaffen Möglichkeiten dafür – so die gegen die Erstwahrnehmung gerichtete Erkenntnis der Soziologie –, dass Macht sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben ausgeübt werden kann. Dies führt zu dem Effekt, dass man in Organisationen häufig den Eindruck hat, dass nicht nur eine „Überwachung von Untergebenen“ existiert, sondern auch eine mehr oder minder effiziente „Unterwachung“ (Luhmann 2016: 90) von Vorgesetzten.
Literatur
N. Luhmann: Der neue Chef, 2016 • S. Kühl: Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien, 62015 • S. Kühl: Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, 2011 • N. Luhmann: Organisation und Entscheidung, 2000 • N. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, 1997 • O. Neuberger: Zur Ästhetisierung des Managements, in: P. Schreyögg/P. Conrad (Hg.): Managementforschung 4, 1994, 1–70 • E. Jacques: In Praise of Hierarchy. Markets, Hierarchies and Networks, in: G. Thompson u. a. (Hg.): The Coordination of Social Life, 1991, 108–118 • H. Rausch: Hierarchie, in: GGB, Bd. 3, 1982, 103–129 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 1976 • N. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, 1964.
Empfohlene Zitierweise
S. Kühl: Hierarchie, II. Soziologie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Hierarchie (abgerufen: 24.11.2024)