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Aktuelle Version vom 14. November 2022, 05:59 Uhr
Bei der P. handelt es sich um die erste ökonomische „Schule“ überhaupt, die im Frankreich des 18. Jh. florierte und deren Gründer und wichtigster Vertreter François Quesnay war. Ihr Name, der erstmals als Titel für eine von Pierre Samuel du Pont de Nemours (2 Bde., 1767 f.) herausgegebene Sammlung wichtiger ökonomischer Schriften F. Quesnays verwendet wurde, war Programm: Die Physiokraten betonten die entscheidende Rolle, ja die „Herrschaft“ (krátos) der „Natur“ (phýsis), wie sie durch die von ihnen propagierte ordre naturel verkörpert wird. Auch die soziale, politische und ökonomische Sphären unterlägen objektiven Naturgesetzen, die nur zum Nachteil einer Gesellschaft missachtet werden könnten. Zu den wichtigsten Anhängern F. Quesnays gehörten neben P. S. du Pont de Nemours, Paul Pierre le Mercier de la Rivière, Victor Riqueti de Mirabeau und Anne Robert Jacques Turgot, wobei letzterer sich zwar viele, aber nicht alle Lehren der P. zu eigen machte. Der Beginn der physiokratischen Bewegung kann auf 1756, das Jahr des Erscheinens der ersten ökonomischen Beiträge F. Quesnays in der „Encyclopédie“ von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, datiert werden, ihr Ende auf den Sturz A. R. J. Turgots als Finanzminister im Jahr 1776.
1. Grundsätze
Die P. kann als Reaktion auf die Krise der französischen Landwirtschaft im 18. Jh. verstanden werden, die unter der einseitigen Förderung von Handwerk und Industrie durch Jean-Baptiste Colbert, ihrer ineffizienten Struktur und ihrer hohen Steuerbelastung zu leiden hatte. Diese Situation stand nach Meinung der Physiokraten in klarem Widerspruch zur ordre naturel, derzufolge die Landwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft) der wichtigste Wirtschaftssektor sei. Denn letzten Endes sei nur die Natur produktiv, sodass auch nur die unmittelbar auf der Natur basierenden Wirtschaftsbereiche – Bergbau, Fischerei, Forstwirtschaft und eben v. a. Landwirtschaft – produktiv in dem Sinne sein könnten, dass sie einen Überschuss (produit net) erwirtschaften könnten. Dieser Überschuss besteht aus dem Teil des erwirtschafteten Einkommens, der über den zum Unterhalt der Produktionsfaktoren notwendigen Wert hinausgeht. Demgegenüber seien Handwerk und Industrie „steril“, weil sie nur Rohstoffe und Vorprodukte in Endprodukte transformieren und Wert nur im Ausmaß der zur Produktion aufgewandten Arbeit (d. h. im Ausmaß der für den Unterhalt der Arbeiter gezahlten Löhne) schaffen würden. Ein Überschuss würde also nicht erwirtschaftet werden, wenngleich deshalb die Nützlichkeit und Notwendigkeit von Handwerk und Industrie keineswegs bestritten wurde. Als weitestgehend nutzlos wurden dagegen Handel und Finanzsektor angesehen, da durch diese Aktivitäten überhaupt kein Wert geschaffen werden würde.
2. Das „tableau économique“
Illustriert wird diese Theorie in dem berühmten „tableau économique“ von F. Quesnay (1768; die Originalausgabe von 1758 gilt heute als verloren): Es werden zwei Wirtschaftssektoren (Landwirtschaft und Gewerbe) und drei soziale Klassen (Grundbesitzer, Landwirte und Gewerbetreibende) unterschieden. Das nur in der Landwirtschaft erwirtschaftete Nettoeinkommen fällt in Form von Grundrente bei den Landbesitzern an, die dieselbe für Käufe von Agrargütern und gewerblichen Gütern ausgeben. Die Ausgaben für erstere werden wieder in die Landwirtschaft investiert und führen wieder zu einem Nettoeinkommen, das wiederum für den Konsum von Agrarprodukten und Gewerbeerzeugnissen ausgegeben wird. Offensichtlich hängt die Höhe des erwirtschafteten Überschusses ausschließlich davon ab, wieviel Einkommen für Agrarprodukte ausgegeben und wieder reinvestiert wird. Von daher ist das Wohlergehen der Landwirtschaft entscheidend für das der gesamten Volkswirtschaft. Beim „tableau économique“ handelt es sich um die erste Darstellung des Wirtschaftsgeschehens als Kreislauf und um die erste ökonomische Analyse, die die Interdependenz der verschiedenen Wirtschaftssektoren und sozialen Klassen zum Gegenstand hat. Außerdem wird in diesem Zusammenhang erstmals Kapital als Summe der im Voraus für die Aufnahme und die Durchführung der Produktion zu tätigenden Ausgaben (avances) interpretiert und eine Klassifizierung verschiedener Kapitalarten vorgenommen. Die Hauptthese der P., nämlich die alleinige Produktivität der Landwirtschaft, wird jedoch im „tableau économique“ nicht abgeleitet, sondern geht vielmehr als Annahme in die Konstruktion desselben ein.
3. Politische Konsequenzen
Die Physiokraten leiteten aus ihrer Theorie bestimmte politische bzw. wirtschaftspolitische Forderungen (Wirtschaftspolitik) ab. Die politische Institution, die der ordre naturel am ehesten entspreche, sei der despotisme légal, eine Art aufgeklärter Absolutismus, in dem sich der Monarch der natürlichen Gesetze bewusst sei und diesen Geltung zu verschaffen suche. Insoweit auch die Untertanen diese natürlichen Gesetze erkennen und anerkennen würden, gäbe es keinen Interessenkonflikt zwischen Herrscher und Volk. In wirtschaftspolitischer Hinsicht impliziere die ordre naturel Freihandel und freien Wettbewerb (laissez faire, laissez passer). Denn aufgeklärte, über die natürlichen Gesetze informierte Individuen würden von sich aus richtig, d. h. im Einklang mit diesen Gesetzen, handeln, sodass staatliche Interventionen überflüssig und sogar schädlich seien. Dies sehe man am Beispiel der französischen Landwirtschaft, die unter Exportverboten und anderen Handelsbeschränkungen leide und deshalb einen (im Vergleich insb. mit der „freieren“ englischen Landwirtschaft) nur niedrigen Überschuss erwirtschafte. Dazu nicht im Widerspruch steht die Forderung nach einer Alleinsteuer (impôt unique) auf die Grundrente. Da nur die Landwirtschaft einen Überschuss erwirtschafte, könne sich der Staat letztlich nur durch die Besteuerung derselben finanzieren, d. h. müssten alle Steuern direkt oder indirekt die Grundrente belasten. Folglich wäre es besser, diese gleich direkt zu besteuern und die aus einer Vielzahl von Steuern resultierenden Ineffizienzen zu vermeiden und sich unnötige Erhebungskosten zu ersparen.
4. Theoriegeschichtliche Bedeutung
Die P. leistete einen entscheidenden Beitrag zur klassischen politischen Ökonomie. Viele der zentralen Konzepte derselben wurden erstmals von den Physiokraten definiert und verwendet. Auch Adam Smith anerkannte diese Leistung und sah in der P. einen großen Fortschritt gegenüber dem Merkantilismus.
Literatur
F. Söllner: Die Geschichte des ökonomischen Denkens, 42015 • M. Blaug: Economic Theory in Retrospect, 51996, 24–29 • G. Vaggi: Physiocrats, in: J. Eatwell/M. Milgate/P. Newman (Hg.): The New Palgrave. A Dictionary of Economics, Bd. 3, 1987, 869–876 • P. S. du Pont de Nemours (Hg.): Physiocratie, Bd. 1, 1768/Bd. 2, 1767 • F. Quesnay: Analyse du Tableau Économique, in: ebd., Bd. 1, 1768, 39–98 • V. R. de Mirabeau: Philosophie Rurale, Bd. 1–3, 1764.
Empfohlene Zitierweise
F. Söllner: Physiokratie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Physiokratie (abgerufen: 25.11.2024)