Merkantilismus

1. Mythen über den Merkantilismus

Als M. wird meistens die vorherrschende Wirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik der Frühen Neuzeit oder des „Zeitalters des Absolutismus“ bezeichnet. Wie bei allen „-ismen“ der modernen Forschung handelt es sich um ein Konstrukt, das die soziale und ökonomische Realität der Menschen Europas nachhaltig beeinflusst hat, obwohl es „den“ M. nicht gegeben hat. So sind sich Historiker uneins über die theoretische Geschlossenheit des merkantilistischen Gedankenguts. Zudem ist der Begriff (von lateinisch mercari, Handel treiben) eher irreführend, da die meisten Merkantilisten nicht den Handel, sondern die Produktion als im ursprünglichen Sinne wert-schöpfend erachteten. Durch französische Autoren um 1750 sowie Adam Smith wurde außerdem die Formulierung mercantile system verbreitet, allerdings in Essenz und Stoßrichtung grotesk verzerrt. So behauptete A. Smith etwa, die Merkantilisten hätten Gold und Silber (Edelmetalle) mit dem tatsächlichen Reichtum einer Nation verwechselt (Midas fallacy). Dabei betonten „Merkantilisten“ wie Philipp Wilhelm von Hörnigk, Antonio Serra, Johann Heinrich Gottlob Justi oder James Steuart stets, dass es sich bei Gold und Silber (Geld) lediglich um den Wertmesser für die Gewerbekraft, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit einer Nation, nicht aber um Ausdruck von realem Wohlstand einer Nation handeln könne. Darüber hinaus hat es „merkantilistische“ Handels- und Wirtschaftspolitik schon in England im 14. Jh. gegeben, ebenso wie in vielen anderen Staaten bis lange Zeit nach 1900. Die Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) Deutschlands, Frankreichs, Belgiens, Italiens, Österreichs, Schwedens etc. fand während des 19. Jh. ebenso unter merkantilistischen Gesichtspunkten statt wie die ökonomischen Transformationsprozesse im kapitalistischen „Westen“ während des 20. und 21. Jh. Auch die Wirtschaftspolitik der EG/EU (GAP) wies seit den 1950er Jahren „merkantilistische“ Züge auf, dgl. diejenige Chinas seit den 1980er Jahren. Es ist überdies schwierig, den M. in die Bereiche ökonomisches Denken/Wirtschaftsdoktrin und angewandte Ökonomik/Wirtschafts- und Entwicklungspolitik zu scheiden, denn M. war immer auch ein „Wirtschaftsdiskurs“ bzw. eine „Wirtschaftssemantik“. In der modernen Literatur wird M. bisweilen mit „Protektionismus“ gleichgesetzt. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Merkantilisten aber keineswegs einem generellen Protektionismus das Wort redeten und auch die kapitalistischen freien Marktwirtschaften des 19. und 20. Jh. in zentralen Bereichen der Handels-, Zoll- und Wirtschaftspolitik bis heute protektionistische Züge aufgewiesen haben, sollte man allerdings die protektionistischen Charakterzüge des M. nicht überbetonen.

2. Essenz des Merkantilismus und die Nähe zum Wirtschaftsliberalismus

Merkantilistische Autoren wie P. W. von Hörnigk oder J. Steuart sprachen sich für eine aktive Gewerbeförderung aus, innerhalb derer marktwirtschaftliche mit protektionistischen Stilmitteln zu kombinieren seien. Dies basierte auf der Annahme, dass nur Gewerbeproduktion Skalenerträge (economies of scale) erlaube bzw. zur Generierung eines Mehrwerts fähig sei. Das geschah durch die Transformation von Rohstoffen in Fertigwaren durch die menschlichen Produktionsfaktoren Arbeit und Humankapital und den Einsatz von Kapital im zeitüblichen Rahmen. Hier argumentierten Merkantilisten wie Giovanni Botero oder A. Serra, John Cary, J. H. G. Justi oder J. Steuart dezidiert anders als die späteren „Physiokraten“, die behaupteten, nur die landwirtschaftliche Erzeugung sei wertschöpfend. Da in der Geschichte des abendländischen Kapitalismus von der Renaissance bis vor dem Zeitalter des Erdöls kein Land ausschließlich oder primär durch einen Rohstoff oder mithilfe der Urproduktion reich geworden ist, sondern Kapitalismus, Industrialisierung und modernes Wirtschaftswachstum auf mindestens einem Industriezweig bzw. einer technologischen Revolution aufgebaut haben, darf das physiokratische Paradigma der Ökonomik als überholt, der M. aber als mentaler Ursprungsort des modernen Kapitalismus gelten.

Des Weiteren waren die meisten Autoren des „Merkantilspektrums“ nach 1500 ausgesprochene Befürworter der freien Entfaltung der Marktkräfte (laissez-faire). Sie sprachen sich nur dort für Preisregulierungen aus, wo es Versorgungsengpässe gab, die die Wohlfahrt und das Überleben der Bevölkerung direkt tangierten (Getreide, Fleisch). Lediglich ausgewählte Gewerbe der heimischen Produktion, in denen man sich zukünftiges dynamisches Produktivitäts- und Outputwachstum erhoffte, sollte man durch zeitlich limitierte Schutz- und Erziehungszölle (Zoll) sowie Exportprämien gezielt fördern. Diese Argumentation ist in die Entwicklungstheorie Friedrich Lists (1789–1846) eingeflossen, ebenso in die moderne Entwicklungsökonomie (growth and development). Zudem war der M. überaus unternehmerfreundlich; gerade im angelsächsischen Spektrum kamen die meisten merkantilistischen Autoren aus dem kaufmännischen Umfeld. Monopole, Kartelle und rent-seeking lehnten diese zumindest in ihren theoretischen Schriften ab, da sie zu Marktverzerrungen führten und das Gemeinwohl senkten. Erst nach 1800 nahm in den westlichen Industrienationen die Regulierung und Überwachung von Märkten stark zu. Insofern kann der M. in Theorie wie angewandter Politik durchaus als Wurzel der modernen Marktwirtschaft gelten.