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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:13 Uhr
I. Wirtschaftswissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Begriffsdefinition
Als W. wird eine Situation eines in vielen Ländern gleichzeitig auftretenden starken Rückgangs der Produktion, des Handels sowie der internationalen Kapitalbewegungen bezeichnet, die von hoher Arbeitslosigkeit begleitet wird. In den zurückliegenden 100 Jahren lassen sich die Große Depression der Jahre 1929–1933 sowie die Große Rezession der Jahre 2007–2009 als W. charakterisieren.
2. Die Große Depression der Jahre 1929–1933
Der Großen Depression war ein langanhaltender Wirtschaftsaufschwung in vielen Industrieländern vorausgegangen. In den USA wurde der Boom durch eine Spekulationsblase an der New Yorker Börse befeuert, die ihrerseits durch eine sehr expansive Geldpolitik der US-Notenbank Fed (Federal Reserve System) sowie eine laxe Finanzmarktregulierung begünstigt worden war, und mit dem Börsencrash im Oktober 1929 endete. Der Kurssturz führte zur Zahlungsunfähigkeit vieler Kreditnehmer und löste in weiterer Folge eine Serie von Bankenzusammenbrüchen aus. Die Fed war nicht bereit, in ihrer Funktion als Kreditgeber der letzten Instanz dem Bankensektor die nötige Liquidität zur Verfügung zu stellen. Die resultierende Kreditknappheit führte in Verbindung mit einer strikten Sparpolitik der Hoover-Administration und dadurch fehlenden fiskalischen Impulsen zu Masseninsolvenzen in der Realwirtschaft, die von einem Einbruch der Industrieproduktion und stark steigender Arbeitslosigkeit begleitet wurden, und schließlich in eine Deflation mündete. Diese verschärfte über den damit einhergehenden Anstieg der Realzinsen die Banken- und Wirtschaftskrise, während amerikanische Anleger zugleich ihre Kredite aus dem Ausland abzogen. In Verbindung mit dem international geltenden Goldstandard fester Wechselkurse führte dies dazu, dass sich die amerikanische Krise auf den Rest der Welt übertrug, indem sie die Zentralbanken aufgrund der Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung der Goldparität zu einer Deflationspolitik zwang. So kam es auch in Deutschland zu Bankenzusammenbrüchen, drastischen Produktionsrückgängen und dramatisch steigender Unterbeschäftigung, welche durch die Sparpolitik des deutschen Kanzlers Heinrich Brüning zusätzlich verschärft wurde. Zudem verfolgten viele Regierungen im Außenhandel eine sogenannte Beggar-My-Neighbour-Politik, indem jede Nation versuchte, auf Kosten anderer Staaten die eigene Wettbewerbsposition auf den Weltmärkten zu verbessern. Dies geschah einerseits durch einen eskalierenden Handelsprotektionismus zum Schutz der Inlandsmärkte, andererseits durch eine Abkehr vom Goldstandard zu Anfang der 1930er Jahre, welche einen Währungskrieg kompetitiver Währungsabwertungen zur Folge hatte. Durch diese Entwicklungen kamen der Welthandel sowie der internationale Kapitalfluss fast vollständig zum Erliegen.
3. Die Große Rezession der Jahre 2007–2009
Auch der Großen Rezession ging eine lange Phase stetigen Wachstums in den Industrieländern voraus, die von Mitte der 1980er Jahre bis zum Jahre 2007 anhielt. Diese als Great Moderation bezeichnete Phase wurde seit der Jahrtausendwende durch eine Niedrigzinspolitik der Fed, der EZB sowie anderer Notenbanken der führenden Industrienationen begleitet. In diesem Umfeld konnten Geschäftsbanken ihre Kreditvergabe stark ausweiten und institutionelle Investoren sahen sich angesichts der niedrigen Zinsen veranlasst, in höherverzinsliche und damit riskantere Finanzanlagen zu investieren. Diese Entwicklungen führten zu einer schwindenden Risikowahrnehmung und einer dramatischen Absenkung von Risikobewertungsstandards, die eine massive Verlagerung von Finanztransaktionen in das weitgehend unregulierte Schattenbankensystem von Geldmarktfonds, Investmentfonds und Finanzversicherern verursachte. Daneben spielten eine mangelnde Transparenz der Ratingagenturen sowie die politische Instrumentalisierung der Kreditwirtschaft eine gewichtige Rolle als Krisenverursacher. V. a. der durch erhebliche Staatseingriffe charakterisierte Immobilienmarkt in den USA begünstigte das rasante Wachstum des Marktes für zweitklassige US-Immobilienkredite. Im Jahre 2007 platzte die entstandene Immobilienpreisblase in den USA, wobei zunächst nur das Subprime-Segment des US-Kreditmarktes betroffen war, auf dem Hypothekenkredite an Schuldner mit geringer Bonität vergeben wurden. In weiterer Folge meldete eine zunehmende Anzahl von Hypothekenfinanzierern Insolvenz an, Banken mussten Milliardenverluste abschreiben und Hedgefonds kollabierten. Als sich am 15.9.2008 die US-Regierung schließlich weigerte, die Investmentbank Lehman Brothers vor dem Konkurs zu retten, weitete sich die Finanzkrise (Finanzmarktkrise) rasch zu einer globalen Wirtschaftskrise aus, da Subprime-Kredite mittels Verbriefungen weltweit gehandelt und deren Risiken international weitergereicht worden waren. Durch einen allgemeinen Vertrauensverlust in die Solidität von Finanzunternehmen kam es in vielen Ländern zu einem Zusammenbruch des Geldmarktes (Geld- und Kapitalmarkt). In der Folge schlug die Krise auch auf die Realwirtschaft durch, es kam zu einem Einbruch des Welthandels und ganze Staaten wurden an den Rand eines Finanzkollapses gebracht.
Die Weltwirtschaft durchlebte im Zuge der Großen Rezession zwar einen schweren Wirtschaftseinbruch mit hoher Arbeitslosigkeit, sie erreichte jedoch bei weitem nicht die Ausmaße der Großen Depression. Der relativ mildere Verlauf der Großen Rezession lässt sich zum einen darauf zurückführen, dass die Sozialversicherungssysteme (Sozialversicherung) der meisten Industrieländer in den 2000er Jahren deutlich leistungsfähiger waren als in den 1930er Jahren. So wurden die realwirtschaftlichen Effekte der Großen Rezession durch das Wirken automatischer fiskalischer Stabilisatoren abgefedert, die ihrerseits durch die Existenz progressiver Steuer- sowie funktionaler Transferleistungssysteme zu einer Stabilisierung des verfügbaren Einkommens breiter Bevölkerungsschichten beitrugen. Zum anderen hatte die internationale Zusammenarbeit von Zentralbanken und Regierungen ab 2008 deutlich besser funktioniert als nach der Krise von 1929. Die Industrieländer entschlossen sich zu einem koordinierten Vorgehen, indem Regierungen umfangreiche Konjunkturprogramme auflegten und Notenbanken das Finanzsystem mit Liquidität versorgten, um einen Zusammenbruch des Banken- und Finanzsystems zu verhindern.
4. Lehren aus den Weltwirtschaftskrisen
Beide W. wurden ursächlich durch Spekulationsblasen auf unterregulierten Finanzmärkten ausgelöst, deren Platzen erhebliche real- und globalwirtschaftliche Verwerfungen nach sich zogen. Zur Vermeidung zukünftiger W. sollte die Ordnung der Finanzmärkte daher so beschaffen sein, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens selbstverstärkender Krisenverläufe möglichst gering bleibt. Dazu bedarf es neben einer Stärkung der Widerstandskraft jeder einzelnen Bank auch der Reduktion von Ansteckungsrisiken zwischen den Finanzinstituten.
So haben die Notenbanken und Aufsichtsbehörden im Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht seit 2010 die Eigenkapitalregeln von Banken im Zuge der Basel III-Richtlinien verschärft. Zudem sind neue makroprudenzielle Instrumente z. B. in Form von Kapitalpuffern für systemrelevante Banken oder antizyklische Kapitalpuffer geschaffen worden, um die Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems als Ganzes zu erhöhen. Bislang beschränkt sich die makroprudenzielle Aufsicht jedoch überwiegend auf den Bankensektor, während der Schattenbankensektor weitgehend unreguliert bleibt. Daher sollte zukünftig verstärkt über makroprudenzielle Maßnahmen jenseits des Bankensektors nachgedacht werden.
Literatur
SVR: Finanzmärkte. Lücken in der Regulierung, steigende Risiken. Jahresgutachten 2017/18, 2017, 212–263 • B. Eichengreen: Die großen Crashs 1929 und 2008. Warum sich Geschichte wiederholt, 2015 • B. Kempa: Finanzmarktglobalisierung und Finanzmarktkrise, in: WiSt 38/3 (2009), 139–143.
Empfohlene Zitierweise
B. Kempa: Weltwirtschaftskrisen, I. Wirtschaftswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Weltwirtschaftskrisen (abgerufen: 24.11.2024)
II. Geschichtswissenschaftlich
Abschnitt druckenIm deutschen Sprachgebrauch bezeichnet W. bes. die große weltweite Krise 1929–33. International üblich ist dagegen der Begriff Große Depression, entlehnt von der früher so benannten Großen Depression nach der Gründerkrise 1873 bis etwa 1890. Bei dieser abweichenden Namensgebung spielt eine Rolle, dass die wirtschaftliche Erholung der 1930er Jahre in den USA anders als in Europa von einer neuen Rezession 1937/38 unterbrochen wurde. Die internationale Finanzkrise von 2008 (Finanzmarktkrise) kann ebenfalls als W. bezeichnet werden, erreichte allerdings bei weitem nicht die Schwere der Krise nach 1929. Strukturell gleicht sie eher der internationalen Finanzkrise von 1907.
Große Finanzkrisen werden gemeinhin, allerdings nicht immer zutreffend, der Überspekulation am Aktienmarkt zugeschrieben. Dahinter stehen meist optimistische Bewertungen neuer Technologien, so des Maschinenbaus in der Gründerspekulation der 1870er Jahre, von Luftfahrt, Elektrifizierung und Kommunikationstechnologie im New Yorker Börsenboom der ausgehenden 1920er Jahre, ebenso des Internets in der Dotcom-Blase der Jahrtausendwende. Enttäuschte Hoffnungen auf baldige Gewinne und das Ausscheiden zuvor hochgejubelter Verlierer führten zu drastischen Kurseinbrüchen, allerdings nicht immer zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise, so etwa in der Dotcom-Spekulation, die nicht in eine Finanzkrise mündete.
Die Krisen von 1907 und 2008 hatten im Bankenbereich (Banken) ihre Ursache. In beiden Fällen hatte das Bankensystem riskante Geschäfte in Tochterinstitute ausgelagert. Diese sogenannten Schattenbanken unterstanden nicht der Bankenaufsicht und waren in Aufbau und Geschäftstätigkeit undurchsichtig. Fehlgeschlagene Spekulationen in Rohstoffmärkte in der Krise von 1907 sowie die Umverpackung und Beimischung unsolider Immobilienkredite zu Wertpapieren auf Grundlage anderer, solider Hypotheken vor der Krise von 2008 erschütterten das Vertrauen in die Mutterhäuser dieser Institute und bald den Bankensektor insgesamt; beflügelt durch den vorher weltweiten Verkauf solcher nun zweifelhaften Papiere griff die Panik in kurzer Zeit auf den internationalen Finanzsektor über.
Alle vier Krisen gaben den Anstoß für weitreichende institutionelle Reformen oder neue Methoden der Wirtschaftspolitik. Als Folge der Großen Depression der 1880er Jahre setzte in Europa eine Verschärfung des Aktien- und Börsenrechts ein, mit der Folge eines Bedeutungsverlusts für die Börse und die Rolle von Wagniskapital. Die Krise 1907 führte zur Gründung des amerikanischen Zentralbankwesens in der Hoffnung, durch scharfe Bankenaufsicht Stützungsaktionen in künftigen Krisen zu vermeiden. Als Folge verweigerter Bankenstützung und fehlgeschlagener Sparpolitik in der Krise 1929 setzte sich eine aktivere Konjunkturpolitik durch und mit Verzögerung eine Rückkehr zum internationalen Freihandel. Die Krise 2008 hat einer neuen, unkonventionellen Geldpolitik zum Durchbruch verholfen.
Nicht als W. bezeichnet werden kriegsbedingte Einbrüche der Wirtschaftstätigkeit, obwohl sie die konjunkturellen Krisen in Friedenszeiten an Schwere oftmals übertreffen und langanhaltende Folgen zeitigen. So ist etwa der Rückgang von Produktion und Einkommen in Deutschland während des Ersten Weltkriegs beinahe ebenso stark gewesen wie in der W. 1929–33. Noch 1929 war das Vorkriegsniveau der Erzeugung auf der reduzierten Fläche der Weimarer Republik nicht wieder erreicht; selbst die auf Hochtouren laufende deutsche Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs (Weltkriege) hat nicht voll zum langfristigen Wachstumstrend aufgeschlossen, der bei ungestörter Entwicklung durch Produktivitätszuwächse und sektoralen Strukturwandel möglich gewesen wäre. Der vorübergehende weitgehende Stillstand der Erzeugung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs warf die deutsche Volkswirtschaft zunächst erneut stark zurück. Bei ihrem Wiederanlaufen lag die Produktion etwa auf dem Niveau der 1880er Jahre. Vor diesem Hintergrund erscheint die W. 1929–33 als eine Krise in der Krise, eingebettet in eine längerfristige Stagnation der deutschen Volkswirtschaft mit irregulären, durch jähe Einbrüche vereitelten Aufschwüngen. Dementsprechend ist das Wirtschaftswachstum im „Wirtschaftswunder“ nach 1945 als ein Aufschließen zum Produktivitätstrend, als Nachholen zuvor versäumter Wachstumsmöglichkeiten zu verstehen. Dieser Spielraum war gegen Ende der 1960er Jahre ausgeschöpft und führte in Deutschland ebenso wie europaweit zu einem deutlichen Abflauen des wirtschaftlichen Wachstums und einer Wiederkehr des Konjunkturphänomens. Im Verlauf des 20. Jh. haben diese kriegsbedingten Einbrüche das wirtschaftliche Schicksal Deutschlands geprägt und sind von größerer Bedeutung gewesen als selbst die W. 1929–33.
Literatur
C. Kindleberger: Die Weltwirtschaftskrise. 1929–1939, 2019 • J.-O. Hesse/R. Köster/W. Plumpe: Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, 2014 • C. Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, 2011 • A. Ritschl: War 2009 das neue 1931? Zwei Weltwirtschaftskrisen im Vergleich, in: APuZ 69/20 (2009), 27–32 • A. Weigt: Der deutsche Kapitalmarkt vor dem ersten Weltkrieg. Gründerboom, Gründerkrise und Effizienz des deutschen Aktienmarktes bis 1914, 2005.
Empfohlene Zitierweise
A. Ritschl: Weltwirtschaftskrisen, II. Geschichtswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Weltwirtschaftskrisen (abgerufen: 24.11.2024)