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Version vom 4. Januar 2021, 11:07 Uhr
E. meint das Fremdwerden von Personen und Sachen oder ein Sich-Fremdwerden. Die antiken Begriffe für E., allotriosis und alienatio, spiegeln bereits ein umfangreiches Spektrum an Bedeutungen. Alienator ist der „Veräusserer“ (Cod. Iust.1,5,10), alienatio die „Geistesabwesenheit“ (Cels. 4,2,1), der „Wahnsinn“ (Ann. 6,24) oder das „Sich-Abwenden“ von Personen (de amic. 76). Allotrios nannte man, was einem anderen gehört, allotria das „fremde Land“. Paulus bezeichnete mit dem Begriff das Leben der von Gott Getrennten (Eph 2, 12).
Am Beginn der Neuzeit verband sich der Begriff mit der Krise des traditionellen Weltbildes. „Seit Copernikus“, schreibt Friedrich Nietzsche, „rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x“ (KSA 12: 127). „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“, heißt es bei Blaise Pascal (Pascal 1954: Frag. 206). Die neuzeitliche Philosophie wiederum behandelte das Thema kulturkritisch und geschichtsphilosophisch (Kulturkritik; Geschichte, Geschichtsphilosophie). Für Jean-Jacques Rousseau hatten sich Kultur und Zivilisation von der Natur entfernt. Die natürliche Selbsterhaltung (amour de soi) und das arterhaltende Mitleid (pitié) waren beim homme civil in egoistische Selbstliebe (amour propre) umgeschlagen. Das In-Sich-Ruhen des Selbstbewusstseins hatte sich in Abhängigkeit von der Meinung der anderen verwandelt, die natürliche Freiheit in Knechtschaft. Mit dieser Diagnose verband J.-J. Rousseau keine radikale Verwerfung der Kultur. Das vielzitierte „Zurück zur Natur“ hat er nie geschrieben. Er hoffte allenfalls auf eine Verlangsamung der Dekadenz. Um den selbstsüchtigen bourgeois in einen citoyen zu verwandeln, forderte er allerdings eine aliénation totale der individuellen Rechte und eine religion civile. Sie lassen den Streit um J.-J. Rousseaus Kulturkritik und sein Republik-Ideal (Republik) bis heute nicht ruhen.
Die Geschichtsphilosophie, die in der Aufklärung als Erbe und Konkurrent der Geschichtstheologie geboren wurde, verstand die Gegenwart als ein Zeitalter der E., das gleichwohl unterwegs sein sollte zu Freiheit, Vernunft (Vernunft – Verstand) und Humanität. Die darin angelegte Dialektik wurde bei Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum Motor des Fortschritts selbst. Eine „Naturabsicht“ (I. Kant) oder eine „List der Vernunft“ (G. W. F. Hegel) führt „hinter dem Rücken der Subjekte“ zu einer das Recht verwaltenden Republik oder zum „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. G. W. F. Hegel, der in seinen jungen Jahren den Antithesen der Aufklärung gefolgt war (Autonomie vs. Heteronomie, Vernunft vs. Faktizität), betrachtete seit 1800 die „Positivität“ als Element des Lebens und des Geistes selbst. In der „Phänomenologie des Geistes“ kritisierte er unter dem Titel „Der entfremdete Geist“ die Flucht des Glaubens aus der Welt und die aufklärerische Kritik des Glaubens als komplementäre Formen der E. In der „Rechtsphilosophie“ begriff er die bürgerliche Gesellschaft als eine zweideutige Sphäre der Emanzipation. Sie verwirklichte zwar die moderne Freiheit und Gleichheit, brachte aber auch nur eine abstrakte Anerkennung des Menschen, einen „Not-und Verstandesstaat“ sowie eine Polarisation von arm und reich hervor. Um die Früchte der modernen Freiheit bewahren zu können, musste sich die Gesellschaft versittlichen und durch Familie und Staat aufgefangen werden.
Anlässlich der Kontroversen um Hegels Stellung zum Christentum spaltete sich die Hegel-Schule in eine Linke und eine Rechte. Während die Hegelsche Rechte den Philosophen (wie dieser sich selbst) als orthodoxen Lutheraner verstand (Luthertum), sah die Hegelsche Linke in seinem System eine konsequente Kritik der Religion (Religionskritik). Nach Ludwig Feuerbach war die Religion nur eine Selbst-E. der Menschengattung. Diese habe die eigentlich ihr selbst zukommenden Prädikate an Gott „entfremdet“, und es sei die Aufgabe der Zeit, diese dem Menschen wieder zuzuweisen. Während L. Feuerbachs „Anthropotheismus“ keine Politik implizierte, wurde die Selbst-E. bei den anderen Linkshegelianern zum Vorbild der Kritik politischer oder ökonomischer E., die man durch Demokratisierung, kritische Theorie, Anarchismus (Anarchie, Anarchismus) oder Kommunismus aufzuheben hoffte.
Am Bekanntesten wurde die Kritik der E., die sich in hinterlassenen Papieren von Karl Marx, den sog.en Pariser Manuskripten, fand. Marx unterschied vier Formen von E.: die des Arbeiters vom Produkt seiner Tätigkeit, die vom Akt der Produktion, die vom „Gattungswesen“ und die des Menschen vom Menschen. Während so das Privateigentum als Ursache der E. erschien, ging die Betrachtung weit über rechtliche und ökonomische Aspekte hinaus. „E.“ umfasste auch die E. von der Natur und von der eigentlichen Daseinsweise des Menschen. Der Kommunismus verhieß eine „Resurrektion der Natur“ und eine Vereinigung von „Naturalismus“ und „Humanismus“ (MEW ErgBd.: 536, 538). Nach seiner Wende zum Materialismus verwendet K. Marx den Begriff E. noch weiter. Er verabschiedet jedoch die Hoffnung, dass eine Aufhebung der E. zu erwarten sei. Stattdessen sprach er vom unaufhebbaren „Reich der Notwendigkeit“, jenseits dessen erst das „wahre Reich der Freiheit aufblühen kann“ (MEW 25: 828).
Innerhalb des Marxismus brach ein jahrzehntelanger Streit über den Sinn der Lehre aus. Marxisten-Leninisten wollten den älteren K. Marx als den „eigentlichen“ K. Marx betrachten, der seine philosophischen Jugendsünden überwunden habe. Da das Privateigentum (Eigentum) abgeschafft sei, könne es im Sozialismus keine E. mehr geben. Praxis-Philosophen in Jugoslawien sowie Revisionisten in Polen oder in der Tschechoslowakei machten demgegenüber geltend, dass es auch im Sozialismus E. gebe und der ältere K. Marx nicht gegen den jüngeren ausgespielt werden dürfe. Im Westen führten Philosophen wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus, Heidegger-Marxisten wie Herbert Marcuse oder Mitglieder der Frankfurter Schule die Diskussion über E. existentialistisch, technik- oder kulturkritisch fort. Ob sich von K. Marx eine Brücke zur Ökologie schlagen lässt, war Gegenstand einer in den 70er Jahren aufflackernden Kontroverse. Auch gab es Versuche, E. soziologisch, psychologisch oder politikwissenschaftlich zu erfassen. Der Begriff verflüchtigte sich dabei zu einem Allerweltswort für irgendeine Unzufriedenheit. Für die Messung konkreter Phänomene benötigen die empirischen Wissenschaften einen philosophischen E.s-Begriff nicht. Zudem krankten die Theorien der E. oft an prometheisch überspannten Erwartungen. Sperrige Realitäten konnten nur als Schranken der (vermeintlich) unbegrenzten Macht der Subjekte (Subjekt) oder als eigene (unerklärlich) aus der Hand geratene Schöpfungen erscheinen. Demgegenüber hatte Arnold Gehlen im Geist des Deutschen Idealismus wieder daran erinnert, dass die Freiheit erst aus der E. geboren wird.
Literatur
R. Jaeggi: Entfremdung, 2005, 2016 • H. Rosa: Beschleunigung und Entfremdung, 2013 • H. Ottmann: Der Begriff der Natur bei Marx, in: ZphF, Bd. 39 (1985), 215–228 • A. Gehlen: Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: K. S. Rehberg (Hg.): GA, Bd. 4 (1983), 366–379 • H. Ottmann: Entfremdung in: TRE, Bd. 9 (1982), 657–673 • R. Spaemann: Rousseau-Bürger ohne Vaterland, 1980 • H. L. Parsons (Hg.): Marx and Engels on Ecology, 1977 • R. K. Maurer: Entfremdung, in: R. Maurer (Hg.): Revolution und Kehre, 1975, 90–110 • J. Israel: Der Begriff der Entfremdung, 1972 • A. Fischer (Hg.): Die Entfremdung in der heilen Gesellschaft, 1970 • J. Mészáros: Marx’ Theory of Alienation, 1970 • N. Lobkowicz: Entfremdung, in: SDG, Bd. 2 (1968), 171–182 • H. Popitz: Der entfremdete Mensch, 1967 • B. Pascal: Pensées, 1954 • K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 1953.
Empfohlene Zitierweise
H. Ottmann: Entfremdung, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Entfremdung (abgerufen: 24.11.2024)