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Version vom 8. Juni 2022, 08:16 Uhr
1. Begriff und Ausgestaltung
Der M. bezeichnet eine Lohnuntergrenze, die in einem Arbeitsvertrag auch dann nicht unterschritten werden kann, wenn beide Vertragsparteien, d. h. Arbeitgeber und Arbeitnehmer, damit einverstanden wären. Dies kann durch die Einführung eines gesetzlichen M.s erfolgen, durch tarifliche Mindeslöhne (M.e) oder auch durch rechtlich verbindliche Bestimmungen, tarifliche Löhne anzuwenden. Letzteres kann in Deutschland durch die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erfolgen und durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch für solche Arbeitnehmer Geltung erlangen, die zwar bei einem Arbeitgeber im Ausland beschäftigt sind, ihre Tätigkeit aber in Deutschland ausüben. Tarifliche M.e sind nach Branche, Region oder – bei Gültigkeit von Firmentarifverträgen – konkretem Betrieb differenziert. Ferner gab bzw. gibt es auch M.e, die sich auf spezifische Gruppen (insb. Frauen und Kinder), Regionen oder sogar konkrete Städte beziehen. M.e können als minimale Stunden- oder Monatsverdienste definiert sein.
Aus ökonomischer – nicht juristischer – Perspektive kann ein M. de facto auch durch Sozialleistungen definiert sein. Wenn ein bestimmter Lebensstandard auch ohne Arbeit garantiert wird, ist eine Beschäftigung zu einem niedrigeren Lohn zwar möglicherweise legal, aber für den Beschäftigten unattraktiv.
Die Handhabung von M.en ist international sehr unterschiedlich. Die ILO weist zwar darauf hin, dass in 92 % ihrer 186 Mitgliedsstaaten entweder gesetzliche oder bindende tarifliche M.e existieren. Allerdings bedeutet dies nicht, dass in diesen Ländern M.e für alle Arbeitnehmer gelten und auch nicht, dass gesetzlich gültige M.e durchgehend angewandt würden. So wird der Anteil derjenigen, die faktisch weniger als den offiziell gültigen M. verdienen, bspw. in Indonesien und in der Türkei auf etwa 50 % geschätzt. Empirische Befunde deuten darauf hin, dass die Nichteinhaltung gesetzlicher M.-Regelungen v. a. in ländlichen Gebieten, im informellen Sektor, in der Landwirtschaft und Bauwirtschaft sowie gegenüber Frauen stark ausgeprägt ist.
Die Abb. zeigt für einige Länder den monatlichen M. bei einer Vollzeitbeschäftigung für das erste Halbjahr 2018. Die große Bandbreite reflektiert v. a. Unterschiede der landesspezifischen Durchschnittslöhne. So ist zwar in Luxemburg der M. als Anteil der durchschnittlichen Verdienste mit gut 46 % vergleichsweise hoch, aber auch in Bulgarien macht der M. in Höhe von 260 € etwa 43 % der durchschnittlichen Arbeitseinkommen aus.
Abb.: M. in € pro Monat bei Vollzeitbeschäftigung
In Deutschland wurde ein gesetzlicher M. erstmals zum 1.1.2015 in Form eines minimalen Stundenlohns in Höhe von 8,50 € eingeführt und erstmals zum 1.1.2017 auf 8,84 € angepasst, was bei Vollzeitbeschäftigung zu den knapp 1500 €/Monat aus der Abb. führt und etwa 41 % der Durchschnittsverdienste entspricht. Allerdings gibt es eine Reihe von Ausnahmen für den Anspruch auf M. Dazu gehören Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Auszubildende und Praktikanten, die ein Orientierungspraktikum von bis zu drei Monaten bzw. im Rahmen ihrer Schul- oder Hochschulausbildung absolvieren und Langzeitarbeitslose für bis zu sechs Monate. Über die angemessene Höhe befindet die M.-Kommission, die sich aus je drei stimmberechtigten Vertretern von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, einem nur bei einer Patt-Situation stimmberechtigten Vorsitzenden sowie zwei nicht stimmberechtigten Wissenschaftlern zusammensetzt. Die Bundesregierung kann diesen Vorschlag per Rechtsverordnung umsetzen.
2. Begründung und Wirksamkeit von Mindestlöhnen
Die Begründung von M. rührt v. a. aus dem Bedürfnis nach sozialem Ausgleich durch eine Korrektur von als unangemessen empfundenen Marktlöhnen. So heißt es im Gesetzesentwurf der Bunderegierung zur Einführung des gesetzlichen M.s: „Die Arbeit aller Menschen ist wertzuschätzen. […] Insbesondere im Bereich einfacher Tätigkeiten sind die Tarifvertragsparteien oftmals nicht mehr selbst in der Lage, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen.“ (BT-Drs. 18/1558). Dabei ist zu berücksichtigen, dass über die beiden letzten Jahrzehnte der Anteil der von einem Tarifvertrag abgedeckten Beschäftigungsverhältnisse deutlich gesunken ist. Damit kann die Einführung des gesetzlichen M.s auch als Ersatz für weniger relevant gewordene tarifliche M.e verstanden werden.
M.e sollen weiterhin dazu beitragen, dass durch die eigene Arbeit eine materielle Existenzsicherung erreicht werden kann und so der Armutsbekämpfung dienen. Schon in den Gründungsdokumenten der ILO aus dem Jahr 1919 ist daher von einem living wage die Rede, der als eine der Voraussetzungen für die Erhaltung des sozialen und in der Folge auch politischen Friedens gesehen wird.
In einem einfachen Arbeitsmarktmodell kommt dem Lohn generell die Aufgabe zu, Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage in Übereinstimmung zu bringen. Wird nun ein M. oberhalb des gleichgewichtigen Lohns festgelegt – und auch durchgesetzt –, wird dies die Arbeitsnachfrage senken und ggf. das Arbeitsangebot erhöhen. Ein M. ist in diesem Modell, das insb. davon ausgeht, dass einzelne Arbeitsnachfrager oder -anbieter keine Marktmacht haben, entweder so niedrig, dass er keine bindende Restriktion darstellt oder aber Ursache für (zusätzliche) Arbeitslosigkeit. Deren soziale Folgen hängen von den Sicherungssystemen und deren Finanzierung ab. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Befrachtung des Lohns mit einer anderen Funktion als der Vermittlung zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage zu einem Arbeitsmarktungleichgewicht führen kann. In diesem würden sich die M.-Empfänger zwar besserstellen als ohne M., jedoch diejenigen belastet, die in der Folge arbeitslos würden bzw. die Kosten dieser Arbeitslosigkeit zu tragen haben.
Dieser negative Befund ändert sich allerdings, wenn eine Vermachtung der Arbeitsnachfrageseite – im einfachsten Fall ist das Arbeitsnachfragemonopson – angenommen wird. Aufgrund der Marktmacht der Unternehmen resultiert dann ein Reallohn unterhalb des Wettbewerbslohnes bei gleichzeitig niedrigerer Beschäftigung. Ein bindender M. bis zur Höhe des Wettbewerbslohns würde in diesem Szenario gleichzeitig den Lohn und die Beschäftigung erhöhen und damit wohlfahrtssteigernd wirken. Die generelle Logik ist dabei, dass eine bereits bestehende wohlfahrtsmindernde Verzerrung – die Marktmacht der Arbeitsnachfrager – durch einen regulierenden Eingriff vermindert bzw. sogar beseitigt werden kann.
Über diese einfachen Überlegungen hinaus, kann eine Vielzahl weiterer Faktoren die Wirksamkeit von M. beeinflussen. Eine unvollständige Liste umfasst neben der konkreten Ausgestaltung des M.s die faktische Abdeckung der Beschäftigungsverhältnisse durch den M., den möglichen Einfluss des M.s auf die Ausbildungsentscheidung von Beschäftigten sowie betriebliche Anpassungsreaktionen bspw. mit Blick auf die Qualifikationsanforderungen.
Damit ist die Frage nach der Wirksamkeit von M.en v. a. eine empirische. Wie aufgrund der vorangegangenen Überlegungen zu erwarten, ergibt sich hier jedoch kein einheitliches Bild, zumal es nur selten Politikwechsel gibt, die für eine Evaluation herangezogen werden können. Insb. viele frühe Arbeiten kamen aber zu dem Ergebnis, dass M.e moderat beschäftigungsmindernd wirken. Sehr bekannt wurde die Studie von David Card und Alan Bennett Krueger, in der die Einführung eines M.s für Fastfood-Restaurants im Bundesstaat New Jersey untersucht wird. Das Ergebnis waren hier leicht positive Beschäftigungseffekte, die aber in Nachfolgestudien mit anderem Datenmaterial in Zweifel gezogen wurden. Mit Blick auf die Einführung des M.s in Deutschland im Jahr 2015 kann nach gut zwei Jahren festgehalten werden, dass die Niedriglohn-Beschäftigung leicht rückläufig war, auch wenn eine kausale Zuordnung aufgrund der Datenlage derzeit nicht möglich ist. Allerdings war dieser Rückgang in den vom M. stärker betroffenen ostdeutschen Ländern stärker als in Westdeutschland, was zumindest ein Indiz für eine kausale Wirkung ist.
Mit Blick auf die Armutsbekämpfung kann dem M. keine weitreichende Wirksamkeit zugeschrieben werden, auch wenn die Löhne der M.-Lohnempfänger steigen. Neben möglicherweise negativen Beschäftigungseffekten liegt dies u. a. daran, dass viele M.-Bezieher nicht aus armen Haushalten kommen und dass umgekehrt viele arme bzw. armutsgefährdete Personen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen und damit von einem M. nicht betroffen sind oder aber nur in Teilzeit arbeiten können.
Literatur
J. Möller/U. Walwei (Hg.): Arbeitsmarkt kompakt, 2017 • Mindestlohnkommission: Erster Bericht zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns, 2016 • International Labour Conference: Minimum wage systems, 2014 • D. Neumark/W. L. Wascher: Minimum wages, 2008 • D. Card/A. B. Krueger: Myth and measurement: The new economics of the minimum wage, 1995 • C. Brown/C. Gilroy/A. Kohen: The effect of the minimum wage on employment and unemployment, in: JEL 20/2 (1982), 487–528 • G. J. Stigler: The economics of minimum wage legislation, in: AER 36/3 (1946), 358–365 • International Labour Organization: Minimum Wage Policy Guide, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_protect/---protrav/---travail/documents/publication/wcms_508566.pdf (abger.: 16.8.2017).
Empfohlene Zitierweise
J. Jerger: Mindestlohn, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Mindestlohn (abgerufen: 22.11.2024)