Geschichtswissenschaft: Unterschied zwischen den Versionen

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Aufgrund ihres Forschungsgegenstands und ihrer gesamtwissenschaftlichen Zielsetzung ist die G. eine Orientierungswissenschaft mit bes. Bedeutung für Gegenwart und Zukunft des Menschen. Zwar lassen sich Erkenntnisse über historische Zustände und Handlungen so gut wie nie eins zu eins auf Zustände und Handlungen einer anderen Zeitstufe übertragen oder in konkrete Handlungsanweisungen umsetzen: So waren die Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs andere als die für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs; und die Kenntnis von Gründen für beide Kriege gibt uns nicht die Mittel an die Hand, weitere {{ #staatslexikon_articlemissing: Kriege | Krieg }} zu verhindern. Gleichwohl lautet das Credo der G.ler mit den Worten des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt: „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal), als weise (für immer) werden.“ (Burckhardt 1929:&nbsp;7)
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Aufgrund ihres Forschungsgegenstands und ihrer gesamtwissenschaftlichen Zielsetzung ist die G. eine Orientierungswissenschaft mit bes. Bedeutung für Gegenwart und Zukunft des Menschen. Zwar lassen sich Erkenntnisse über historische Zustände und Handlungen so gut wie nie eins zu eins auf Zustände und Handlungen einer anderen Zeitstufe übertragen oder in konkrete Handlungsanweisungen umsetzen: So waren die Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs andere als die für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs; und die Kenntnis von Gründen für beide Kriege gibt uns nicht die Mittel an die Hand, weitere [[Krieg|Kriege]] zu verhindern. Gleichwohl lautet das Credo der G.ler mit den Worten des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt: „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal), als weise (für immer) werden.“ (Burckhardt 1929:&nbsp;7)
 
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G. ist ein Produkt der abendländischen {{ #staatslexikon_articlemissing: Kultur | Kultur }}, von der ausgehend sie im Verlauf der letzten rund 250 Jahre über die gesamte Erde verbreitet wurde. Das heißt nicht, dass nicht auch in den Zeiten zuvor bzw. in anderen Kulturen historisch geforscht und Geschichte geschrieben worden wäre. Bereits im AT und bei Homer finden sich, eingebettet in Mythen, historische Erzählungen. Thukydides, Tacitus und Herodot schufen in der Antike dauerhafte Vorbilder für Historiographie, an die in Westeuropa die Humanisten anknüpften, während historiographische Formen wie Annalen, Gesten und Chroniken das lateinische Mittelalter dominierten. Forciert wurde die Beschäftigung mit Geschichte in [[Europa]] durch die {{ #staatslexikon_articlemissing: Reformation | Reformation }}, die die unterschiedlichen Lager dazu drängte, ihre eigene Geschichte (ihre <I>Herkunft</I>) legitimatorisch nach ihrer eigenen Sichtweise darzustellen. In China betrieb der kaiserliche Hofastronom Sima Qian (um 145–86 v.&nbsp;Chr.) bereits Quellenstudien und verfasste auf deren Grundlagen Geschichtswerke. Die Anfänge islamischer Geschichtsschreibung, die zunächst mündliche Berichte schriftlich fixierte, wie auch der indischen Historiographie, die in mythisch-religiöse Versdichtung eingelagert war, werden um das Jahr 800 n.&nbsp;Chr. datiert. Formen nicht- bzw. vor-schriftlichen Geschichtsbewusstseins dürften kulturübergreifend auf dem gesamten Erdball vorhanden sein, seitdem der Mensch ein Bewusstsein von sich selbst entwickelte.
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G. ist ein Produkt der abendländischen [[Kultur]], von der ausgehend sie im Verlauf der letzten rund 250 Jahre über die gesamte Erde verbreitet wurde. Das heißt nicht, dass nicht auch in den Zeiten zuvor bzw. in anderen Kulturen historisch geforscht und Geschichte geschrieben worden wäre. Bereits im AT und bei Homer finden sich, eingebettet in Mythen, historische Erzählungen. Thukydides, Tacitus und Herodot schufen in der Antike dauerhafte Vorbilder für Historiographie, an die in Westeuropa die Humanisten anknüpften, während historiographische Formen wie Annalen, Gesten und Chroniken das lateinische Mittelalter dominierten. Forciert wurde die Beschäftigung mit Geschichte in [[Europa]] durch die {{ #staatslexikon_articlemissing: Reformation | Reformation }}, die die unterschiedlichen Lager dazu drängte, ihre eigene Geschichte (ihre <I>Herkunft</I>) legitimatorisch nach ihrer eigenen Sichtweise darzustellen. In China betrieb der kaiserliche Hofastronom Sima Qian (um 145–86 v.&nbsp;Chr.) bereits Quellenstudien und verfasste auf deren Grundlagen Geschichtswerke. Die Anfänge islamischer Geschichtsschreibung, die zunächst mündliche Berichte schriftlich fixierte, wie auch der indischen Historiographie, die in mythisch-religiöse Versdichtung eingelagert war, werden um das Jahr 800 n.&nbsp;Chr. datiert. Formen nicht- bzw. vor-schriftlichen Geschichtsbewusstseins dürften kulturübergreifend auf dem gesamten Erdball vorhanden sein, seitdem der Mensch ein Bewusstsein von sich selbst entwickelte.
 
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In Europa, v.&nbsp;a. in Deutschland, vollzog sich während der Sattelzeit ein Professionalisierungs- bzw. Verfachlichungsprozess (Etablierung einer Disziplin G. an den Universitäten, Gründung historischer Zeitschriften, Bibliotheken und Vereine etc.) und ein Verwissenschaftlichungsprozess (Formulierung von Zielen und Aufgaben der G.), der zum Exportmodell avancierte. Nach westlichem Vorbild entstanden seit der Mitte des 19.&nbsp;Jh. weltweit geschichtswissenschaftliche Institutionen. <I>Exporteure</I> waren bes. Historiker aus anderen Kulturen, die in Westeuropa ausgebildet wurden. Diese <I>Exporteure</I> übertrugen nicht nur Formen fachlicher Verfassung von G. in ihre Kulturen (etwa indem sie dort historische Seminare gründeten), sondern auch Formen wissenschaftlicher Verfassung (etwa inhaltliche Auffassungen darüber, was Geschichte ist, und Fragestellungen, die von spezifisch europäischer Perspektive zeugen, wie die Modernisierungstheorien). Eine positive Folge dieses Transfers ist, dass sich Historiker heute weltweit austauschen können, weil sie ein Grundverständnis von G. teilen. Problematisch ist dieser Transfer mit Hinblick auf den Umgang mit indigenen Formen von Geschichtsarbeit in außereuropäischen Kulturen. So gründet die indische G. heute weit mehr in den Traditionen der britischen G. als in Formen traditionell indischer Geschichtsarbeit und -schreibung, da die führenden Historiker fast alle an britischen Universitäten ausgebildet wurden und die westliche Auffassung von G. übernahmen. Auch kommt es bei Übertragungen von kulturspezifischen Begrifflichkeiten in die <I>lingua franca</I> Englisch mitunter zu Übersetzungsschwierigkeiten, so dass das Erkennen kulturspezifischer Eigenheit (etwa beim Begriff der {{ #staatslexikon_articlemissing: Menschenrechte | Menschenrechte }}) und der interkulturelle Vergleich erschwert werden. Der internationale Blick auf die Kulturen der Welt ist damit weitgehend von westlichen Fragestellungen und westlichen Werten geprägt.
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In Europa, v.&nbsp;a. in Deutschland, vollzog sich während der Sattelzeit ein Professionalisierungs- bzw. Verfachlichungsprozess (Etablierung einer Disziplin G. an den Universitäten, Gründung historischer Zeitschriften, Bibliotheken und Vereine etc.) und ein Verwissenschaftlichungsprozess (Formulierung von Zielen und Aufgaben der G.), der zum Exportmodell avancierte. Nach westlichem Vorbild entstanden seit der Mitte des 19.&nbsp;Jh. weltweit geschichtswissenschaftliche Institutionen. <I>Exporteure</I> waren bes. Historiker aus anderen Kulturen, die in Westeuropa ausgebildet wurden. Diese <I>Exporteure</I> übertrugen nicht nur Formen fachlicher Verfassung von G. in ihre Kulturen (etwa indem sie dort historische Seminare gründeten), sondern auch Formen wissenschaftlicher Verfassung (etwa inhaltliche Auffassungen darüber, was Geschichte ist, und Fragestellungen, die von spezifisch europäischer Perspektive zeugen, wie die Modernisierungstheorien). Eine positive Folge dieses Transfers ist, dass sich Historiker heute weltweit austauschen können, weil sie ein Grundverständnis von G. teilen. Problematisch ist dieser Transfer mit Hinblick auf den Umgang mit indigenen Formen von Geschichtsarbeit in außereuropäischen Kulturen. So gründet die indische G. heute weit mehr in den Traditionen der britischen G. als in Formen traditionell indischer Geschichtsarbeit und -schreibung, da die führenden Historiker fast alle an britischen Universitäten ausgebildet wurden und die westliche Auffassung von G. übernahmen. Auch kommt es bei Übertragungen von kulturspezifischen Begrifflichkeiten in die <I>lingua franca</I> Englisch mitunter zu Übersetzungsschwierigkeiten, so dass das Erkennen kulturspezifischer Eigenheit (etwa beim Begriff der [[Menschenrechte]]) und der interkulturelle Vergleich erschwert werden. Der internationale Blick auf die Kulturen der Welt ist damit weitgehend von westlichen Fragestellungen und westlichen Werten geprägt.
 
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<h2 class ="headline-w-margin">4. Die Etablierung der Geschichtswissenschaft</h2>
 
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<h3 class ="headline-w-margin">4.1. Verwissenschaftlichung</h3>
 
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Als Verwissenschaftlichung bezeichnet man die Entstehung moderner Wissenschaft mit Blick auf deren Systematik, also deren Theorien und Methoden. Die Anfänge von G. als moderner Wissenschaft liegen zum einen in (aus moderner Sicht) vor-wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, v.&nbsp;a. in der Orientierung an antiken historiographischen Vorbildern in der Zeit des {{ #staatslexikon_articlemissing: Humanismus | Humanismus }}, zum anderen in anderen Wissenschaften, v.&nbsp;a. in Philosophie, Theologie und Philologie. Philosophie und Theologie entwickelten seit jeher Vorstellungen über den Gang der Welt. So wurde etwa aus den Zeitangaben des ATs ein Datum für die bevorstehende Heraufkunft des Jüngsten Gerichts zu entwickeln versucht. Philologie und Theologie schufen mit bes.m Bezug auf die Bibel und Texte der Klassiker quellenkritische und hermeneutische Methoden, so etwa die Benediktiner der Abtei St. Maur (Mauriner) Mitte des 17.&nbsp;Jh. Zudem entstand allg. ein profanes Zeitbewusstsein; der moderne Zukunftsbegriff entwickelte sich ebenso wie Vorstellungen über das Alter des Menschengeschlechts, die über den biblischen Adam zurückreichten (so 1655 bei beim Werk „Prae-Adamitae“ von Isaac de La Peyrère). [[Adel]] und erstarkendes Bürgertum ([[Bürger, Bürgertum]]) sahen in der Genealogie ein Mittel, ihren sozialen Status geschichtlich zu legitimieren. Das geweckte Interesse am Geschichtlichen und eine kritischere Haltung gegenüber kirchlichen Heilsgeschichtsaxiomen in der Aufklärungszeit ([[Aufklärung]]) führten zu einer stetigen Verselbstständigung historischer Forschung. Im deutschsprachigen Raum entstanden erste <I>Historiken</I> als Lehren, was Geschichte sei und wie sie betrieben werden müsse. Der evangelische Theologe Johann Martin Chladenius legte 1752 eine „Allgemeine Geschichtswissenschaft“ vor, die den Gegenstand von G. umriss. Wegweisend für die moderne Auffassung von Geschichte als Rekonstruktion wurde v.&nbsp;a. seine Definition eines „Sehepunckts“ (Chladenius 1985: 99) als bes.m jeweiliger Perspektive eines Historikers. Gegen Ende des 18.&nbsp;Jh. wurden erste Ansätze zu einer G. als <I>Einheit von Forschung und Lehre</I> entwickelt. Bes. an der Universität Göttingen forderten die Aufklärungshistoriker Johann Christoph Gatterer, August Ludwig von Schlözer und Ludwig Thimotheus Spittler vom Historiker quellenbasierte Arbeit, Angabe von Belegen und hilfswissenschaftliche Kenntnisse. Die kritische Edition von Quellen wurde zum wichtigsten Arbeitsgebiet der Historiker neben der Historiographie, die zunehmend auf quellenkritischer Forschung basierte.
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Als Verwissenschaftlichung bezeichnet man die Entstehung moderner Wissenschaft mit Blick auf deren Systematik, also deren Theorien und Methoden. Die Anfänge von G. als moderner Wissenschaft liegen zum einen in (aus moderner Sicht) vor-wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, v.&nbsp;a. in der Orientierung an antiken historiographischen Vorbildern in der Zeit des [[Humanismus]], zum anderen in anderen Wissenschaften, v.&nbsp;a. in Philosophie, Theologie und Philologie. Philosophie und Theologie entwickelten seit jeher Vorstellungen über den Gang der Welt. So wurde etwa aus den Zeitangaben des ATs ein Datum für die bevorstehende Heraufkunft des Jüngsten Gerichts zu entwickeln versucht. Philologie und Theologie schufen mit bes.m Bezug auf die Bibel und Texte der Klassiker quellenkritische und hermeneutische Methoden, so etwa die Benediktiner der Abtei St. Maur (Mauriner) Mitte des 17.&nbsp;Jh. Zudem entstand allg. ein profanes Zeitbewusstsein; der moderne Zukunftsbegriff entwickelte sich ebenso wie Vorstellungen über das Alter des Menschengeschlechts, die über den biblischen Adam zurückreichten (so 1655 bei beim Werk „Prae-Adamitae“ von Isaac de La Peyrère). [[Adel]] und erstarkendes Bürgertum ([[Bürger, Bürgertum]]) sahen in der Genealogie ein Mittel, ihren sozialen Status geschichtlich zu legitimieren. Das geweckte Interesse am Geschichtlichen und eine kritischere Haltung gegenüber kirchlichen Heilsgeschichtsaxiomen in der Aufklärungszeit ([[Aufklärung]]) führten zu einer stetigen Verselbstständigung historischer Forschung. Im deutschsprachigen Raum entstanden erste <I>Historiken</I> als Lehren, was Geschichte sei und wie sie betrieben werden müsse. Der evangelische Theologe Johann Martin Chladenius legte 1752 eine „Allgemeine Geschichtswissenschaft“ vor, die den Gegenstand von G. umriss. Wegweisend für die moderne Auffassung von Geschichte als Rekonstruktion wurde v.&nbsp;a. seine Definition eines „Sehepunckts“ (Chladenius 1985: 99) als bes.m jeweiliger Perspektive eines Historikers. Gegen Ende des 18.&nbsp;Jh. wurden erste Ansätze zu einer G. als <I>Einheit von Forschung und Lehre</I> entwickelt. Bes. an der Universität Göttingen forderten die Aufklärungshistoriker Johann Christoph Gatterer, August Ludwig von Schlözer und Ludwig Thimotheus Spittler vom Historiker quellenbasierte Arbeit, Angabe von Belegen und hilfswissenschaftliche Kenntnisse. Die kritische Edition von Quellen wurde zum wichtigsten Arbeitsgebiet der Historiker neben der Historiographie, die zunehmend auf quellenkritischer Forschung basierte.
 
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Ihren Status als moderne Wissenschaft mit fachspezifischen Theorien und Methoden erhielt die G. Anfang des 19.&nbsp;Jh., wobei drei Werke als in bes. Maß für diese Entwicklung repräsentativ beurteilt werden: Wilhelm von Humboldt trug 1821 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin seine Rede „Über die Aufgabe des Geschichtschreibers“ vor, in der er eine genuin geschichtswissenschaftliche Ideenlehre entwarf, die wegweisend für den <I>Historismus</I> wurde und die G. inhaltlich gegenüber der idealistischen Geschichtsphilosophie zu emanzipieren half. Leopold Ranke fügte seinem Werk „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535“ eine Beilage „Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber“ an, die heute als Grundstein für moderne quellenkritische Arbeit und Zitierweise bewertet wird. Den bedeutendsten Beitrag zur Verwissenschaftlichung leistete Johann Gustav Droysen mit seiner „Historik“-Vorlesung, die er zwischen 1857 und 1882 mehrfach an der Universität Berlin vortrug und laufend modifizierte. In dieser Vorlesung knüpfte er an W.&nbsp;v. Humboldt an, kennzeichnete die Kategorien Idee und Entwicklung als leitende Inhalte einer auf staatliche [[Außenpolitik]] konzentrierten G. und unterteilte diese in die Bereiche Methodik, Systematik und {{ #staatslexikon_articlemissing: Topik | Topik }}. Während die Methodik die Arbeitsschritte Heuristik, {{ #staatslexikon_articlemissing: Kritik | Kritik }} und Interpretation als Inbegriff geschichtswissenschaftlicher Vorgehensweise umfasst, behandelt die Systematik den Gegenstand von Geschichte. Die Topik umfasst Formen der Geschichtsschreibung und des Geschichtsbewusstseins. Diese Einteilung kann bis heute als Umriss dessen gelten, was allg. unter G. verstanden wird.
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Ihren Status als moderne Wissenschaft mit fachspezifischen Theorien und Methoden erhielt die G. Anfang des 19.&nbsp;Jh., wobei drei Werke als in bes. Maß für diese Entwicklung repräsentativ beurteilt werden: Wilhelm von Humboldt trug 1821 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin seine Rede „Über die Aufgabe des Geschichtschreibers“ vor, in der er eine genuin geschichtswissenschaftliche Ideenlehre entwarf, die wegweisend für den <I>Historismus</I> wurde und die G. inhaltlich gegenüber der idealistischen Geschichtsphilosophie zu emanzipieren half. Leopold Ranke fügte seinem Werk „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535“ eine Beilage „Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber“ an, die heute als Grundstein für moderne quellenkritische Arbeit und Zitierweise bewertet wird. Den bedeutendsten Beitrag zur Verwissenschaftlichung leistete Johann Gustav Droysen mit seiner „Historik“-Vorlesung, die er zwischen 1857 und 1882 mehrfach an der Universität Berlin vortrug und laufend modifizierte. In dieser Vorlesung knüpfte er an W.&nbsp;v. Humboldt an, kennzeichnete die Kategorien Idee und Entwicklung als leitende Inhalte einer auf staatliche [[Außenpolitik]] konzentrierten G. und unterteilte diese in die Bereiche Methodik, Systematik und {{ #staatslexikon_articlemissing: Topik | Topik }}. Während die Methodik die Arbeitsschritte Heuristik, [[Kritik]] und Interpretation als Inbegriff geschichtswissenschaftlicher Vorgehensweise umfasst, behandelt die Systematik den Gegenstand von Geschichte. Die Topik umfasst Formen der Geschichtsschreibung und des Geschichtsbewusstseins. Diese Einteilung kann bis heute als Umriss dessen gelten, was allg. unter G. verstanden wird.
 
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Die historistische G., die W.&nbsp;v. Humboldt, L.&nbsp;Ranke und J.&nbsp;G. Droysen vertraten, herrschte in Deutschland bis in die 1960er Jahre als leitendes Forschungsparadigma. Kritik erfuhr sie v.&nbsp;a. seit dem Ende des 19.&nbsp;Jh. von Seiten der Kulturgeschichte (u.&nbsp;a. durch Karl Lamprecht), die zum einen gegen die Politikorientierung des Historismus auftrat, für den Einbezug von Fragestellungen und Methoden aus Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Volkskunde in die Praxis der G. plädierte und Anfang des 20.&nbsp;Jh. in die <I>Volksgeschichte</I> mündete. Gegen das idealistische Erbe des Historismus opponierten auch Neu-Kantianer wie Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband und Max Weber, die methodisch eine klare Abgrenzung der G. als [[Geisteswissenschaften|Geisteswissenschaft]] von den {{ #staatslexikon_articlemissing: Naturwissenschaften | Naturwissenschaften }} forderten und ein neues intersubjektives Objektivitätsideal proklamierten. An sie knüpften nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialhistoriker an, die anstelle von Idee und Entwicklung die Kategorien Gesellschaft und Prozess und anstelle des {{ #staatslexikon_articlemissing: Individuums | Individuum }} die Struktur in das Zentrum von G. stellten, für einen „Primat der Innenpolitik“ sowie für eine eher beschreibende quantifizierende G. gegenüber der älteren verstehenden qualifizierenden G. eintraten. Die Sozialgeschichte dominierte die westdeutsche G. bis in die 1990er Jahre, in denen das Individuum über den Begriff der <I>agency</I> neu entdeckt und Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen von Geschichte (v.&nbsp;a. Sprache, Diskurs) als Gegenstand von G. in ihrer Bedeutung hervorgehoben wurden. Die <I>Neue Kulturgeschichte</I>, die sich u.&nbsp;a. auf Philosophen wie Michel Foucault, Soziologen wie Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann oder Vertreter des <I>Linguistic Turn</I> wie Hayden White beruft und seit den 1990er Jahren das leitende Paradigma westeuropäischer G. darstellt, widmet sich in bes.m Maß kulturübergreifender und -vergleichender [[Forschung]] mit Schwerpunkt auf der deutenden Wahrnehmung geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen durch die jeweiligen Zeitgenossen.
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Die historistische G., die W.&nbsp;v. Humboldt, L.&nbsp;Ranke und J.&nbsp;G. Droysen vertraten, herrschte in Deutschland bis in die 1960er Jahre als leitendes Forschungsparadigma. Kritik erfuhr sie v.&nbsp;a. seit dem Ende des 19.&nbsp;Jh. von Seiten der Kulturgeschichte (u.&nbsp;a. durch Karl Lamprecht), die zum einen gegen die Politikorientierung des Historismus auftrat, für den Einbezug von Fragestellungen und Methoden aus Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Volkskunde in die Praxis der G. plädierte und Anfang des 20.&nbsp;Jh. in die <I>Volksgeschichte</I> mündete. Gegen das idealistische Erbe des Historismus opponierten auch Neu-Kantianer wie Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband und Max Weber, die methodisch eine klare Abgrenzung der G. als [[Geisteswissenschaften|Geisteswissenschaft]] von den {{ #staatslexikon_articlemissing: Naturwissenschaften | Naturwissenschaften }} forderten und ein neues intersubjektives Objektivitätsideal proklamierten. An sie knüpften nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialhistoriker an, die anstelle von Idee und Entwicklung die Kategorien Gesellschaft und Prozess und anstelle des [[Individuum|Individuums]] die Struktur in das Zentrum von G. stellten, für einen „Primat der Innenpolitik“ sowie für eine eher beschreibende quantifizierende G. gegenüber der älteren verstehenden qualifizierenden G. eintraten. Die Sozialgeschichte dominierte die westdeutsche G. bis in die 1990er Jahre, in denen das Individuum über den Begriff der <I>agency</I> neu entdeckt und Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen von Geschichte (v.&nbsp;a. Sprache, Diskurs) als Gegenstand von G. in ihrer Bedeutung hervorgehoben wurden. Die <I>Neue Kulturgeschichte</I>, die sich u.&nbsp;a. auf Philosophen wie Michel Foucault, Soziologen wie Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann oder Vertreter des <I>Linguistic Turn</I> wie Hayden White beruft und seit den 1990er Jahren das leitende Paradigma westeuropäischer G. darstellt, widmet sich in bes.m Maß kulturübergreifender und -vergleichender [[Forschung]] mit Schwerpunkt auf der deutenden Wahrnehmung geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen durch die jeweiligen Zeitgenossen.
 
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Die Entwicklung der G. im europäischen Ausland orientierte sich stark an der deutschen G., doch gab es einige signifikante Unterschiede. So prägten Historiker wie Frederick Jackson Turner und Charles Austin Beard mit sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen um 1900 die G. in den USA. Auch in Westeuropa, v.&nbsp;a. in Frankreich, war die G. bereits im 19.&nbsp;Jh. gegenüber Einflüssen aus Soziologie und Ökonomie offener als in Deutschland. Diese Einflüsse mündeten im 20.&nbsp;Jh. in die Strömung der von Lucien Febvre und Marc Bloch gegründeten Annales-Schule, die die gesamteuropäische G. nach 1945 entscheidend prägte, indem sie wirtschaftlich-soziale Fragestellungen in das Zentrum ihrer Arbeit stellte, stärker als die deutschen Historiker quantifizierend vorging und einen größeren Zeithorizont, die <I>longue durée</I>, in den Blick nahm. In Frankreich wie in Großbritannien war zudem die Kluft zwischen universitärer und außer-universitärer G. nicht so groß wie in Deutschland. Ansätze aus dem Bereich des {{ #staatslexikon_articlemissing: Marxismus | Marxismus }} flossen stärker in den akademischen Diskurs ein und bildeten nicht wie in (West-)Deutschland einen Gegendiskurs zur G. universitärer Historiker. Verstärkend kam hinzu, dass die inhaltliche Verfassung von G. in Westeuropa vor 1945 weniger durch den Versuch politischer Indienstnahme und nach 1945 durch eine Zweistaatlichkeit belastet war, wie sie in Deutschland bis 1990 herrschte. Während in Westeuropa sozialgeschichtliche Themen und Termini, wie in Edward Palmer Thompsons „The Making of the English Working Class“ (Thompson: 1963), auch von politisch linken Positionen geprägt wurden, stand die westdeutsche G. immer im Systemkonflikt zu einer ostdeutschen (und osteuropäischen) G., deren Entfaltung durch die Einschränkung von Freiheitsrechten und die verordnete Bindung an die philosophischen Vorgaben des Historischen Materialismus behindert blieb. Dafür entwickelten die ehemaligen Kolonialmächte stärker als Deutschland ein Interesse an <I>Postcolonial Studies</I> und damit verbundenen globalen, interkulturellen Fragestellungen. Zudem setzten etwa die soziologieaffinen französischen Annales-Historiker oder die amerikanischen Kliometriker stärker als ihre der hermeneutischen Tradition verhafteten deutschen Kollegen auf quantifizierende Ansätze.
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Die Entwicklung der G. im europäischen Ausland orientierte sich stark an der deutschen G., doch gab es einige signifikante Unterschiede. So prägten Historiker wie Frederick Jackson Turner und Charles Austin Beard mit sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen um 1900 die G. in den USA. Auch in Westeuropa, v.&nbsp;a. in Frankreich, war die G. bereits im 19.&nbsp;Jh. gegenüber Einflüssen aus Soziologie und Ökonomie offener als in Deutschland. Diese Einflüsse mündeten im 20.&nbsp;Jh. in die Strömung der von Lucien Febvre und Marc Bloch gegründeten Annales-Schule, die die gesamteuropäische G. nach 1945 entscheidend prägte, indem sie wirtschaftlich-soziale Fragestellungen in das Zentrum ihrer Arbeit stellte, stärker als die deutschen Historiker quantifizierend vorging und einen größeren Zeithorizont, die <I>longue durée</I>, in den Blick nahm. In Frankreich wie in Großbritannien war zudem die Kluft zwischen universitärer und außer-universitärer G. nicht so groß wie in Deutschland. Ansätze aus dem Bereich des [[Marxismus]] flossen stärker in den akademischen Diskurs ein und bildeten nicht wie in (West-)Deutschland einen Gegendiskurs zur G. universitärer Historiker. Verstärkend kam hinzu, dass die inhaltliche Verfassung von G. in Westeuropa vor 1945 weniger durch den Versuch politischer Indienstnahme und nach 1945 durch eine Zweistaatlichkeit belastet war, wie sie in Deutschland bis 1990 herrschte. Während in Westeuropa sozialgeschichtliche Themen und Termini, wie in Edward Palmer Thompsons „The Making of the English Working Class“ (Thompson: 1963), auch von politisch linken Positionen geprägt wurden, stand die westdeutsche G. immer im Systemkonflikt zu einer ostdeutschen (und osteuropäischen) G., deren Entfaltung durch die Einschränkung von Freiheitsrechten und die verordnete Bindung an die philosophischen Vorgaben des Historischen Materialismus behindert blieb. Dafür entwickelten die ehemaligen Kolonialmächte stärker als Deutschland ein Interesse an <I>Postcolonial Studies</I> und damit verbundenen globalen, interkulturellen Fragestellungen. Zudem setzten etwa die soziologieaffinen französischen Annales-Historiker oder die amerikanischen Kliometriker stärker als ihre der hermeneutischen Tradition verhafteten deutschen Kollegen auf quantifizierende Ansätze.
 
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Version vom 4. Januar 2021, 11:08 Uhr

1. Definition

Als G. bezeichnet man die wissenschaftlich-rationalen Verfahren (Geschichtstheorien und -methoden) verpflichtete Erforschung von Geschichte sowie deren meist schriftliche Fixierung (Geschichtsschreibung, Historiographie) und Vermittlung zu Zwecken der Bildung (Geschichtsdidaktik, Geschichtsbewusstsein). Als Wissenschaft unterscheidet sich die G. von Formen des Umgangs mit Geschichte, die nicht ausschließlich auf Faktizität zielen (z. B. Mythos, Legende, Geschichtsdichtung, historischer Roman), die auf individueller Wahrnehmung beruhen (z. B. Erinnerung) oder geschichtliche Erkenntnisse nach religiösen oder ideologischen Vorgaben funktionalisieren (z. B. Heilsgeschichte, Geschichtsphilosophie).

2. Gegenstand, Ziel und Aufgabe der Geschichtswissenschaft

G. behandelt nicht – wie ein häufig anzutreffendes Missverständnis annimmt – die Vergangenheit, sondern hat es mit Gegenständen aus der jeweiligen Gegenwart zu tun, die von Vergangenem zeugen. Diese Zeugnisse sind meist dinglicher Natur, z. B. Urkunden, Reiseberichte, Gerichtsurteile, Ego-Dokumente, Akten, aber auch Denkmäler, archäologische Funde, Baureste, Bilder, Landkarten, Fotos, Tonträger und Filme. Sie können ebenso nicht-dinglicher Natur sein wie Traditionen, Rituale, Gebräuche und mündliche Erzählungen. Alle diese Gegenstände – gleichgültig ob sie gezielt oder unbeabsichtigt der Nachwelt hinterlassen wurden – bezeichnet man als Quellen.

G. erzeugt also kein Bild einer Vergangenheit, die, weil sie eben vergangen ist, in der jeweiligen Gegenwart nicht mehr verfügbar ist. Sie zielt vielmehr auf eine in der jeweiligen Gegenwart des Historikers erzeugte, auf den ihm verfügbaren Quellen basierende, mit wissenschaftlichen Methoden erforschte, nach Plausibilitätskriterien glaubhaft gemachte und von Dritten hinsichtlich ihres Gültigkeitsanspruchs überprüfbare Rekonstruktion der Geschichte. Als Rekonstruktion ist Geschichte nicht die Vergangenheit oder ein Bild von ihr, sondern eine thesenhafte und ausschnitthafte Vorstellung davon, wie zeitlich zurückliegende (also geschichtliche) Dinge, Ereignisse und Handlungen ausgesehen haben mögen, in welchen Kontexten sie gestanden haben, welche Dinge, Ereignisse und Handlungen ihre Ursachen gewesen sein könnten und welche Dinge, Ereignisse und Handlungen als Folge aus ihnen resultierten. G. stellt damit Sachverhalte nicht allein temporal, sondern immer auch kausal und konsekutiv in sinnhafte Zusammenhänge. Das unterscheidet sie von vorwissenschaftlichen Formen der Geschichtserzählung wie der Chronik und der Annalistik, die einer rein temporalen Erzählstruktur („… und dann und dann und dann …“) folgen, ohne Sinn zu bilden.

Wichtig für die G. ist die übliche disziplinäre Unterscheidung zwischen der Naturgeschichte als einer Geschichte von Gegenständen, Ereignissen und Prozessen ohne menschliches Handeln (z. B. Entstehung des Planetensystems, Erdgeschichte vor dem Auftreten des Menschen) einerseits und der Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie) im engeren Sinn als von Menschen gestalteter Welt andererseits. Während die Erforschung der Geschichte der Natur i. d. R. von anderen Disziplinen (z. B. Geologie, Astronomie) betrieben wird, geht es der G. i. d. R. immer um das Soziale, Wirtschaftliche, Politische und Kulturelle als Wirkungsbereiche menschlichen Handelns (Handeln, Handlung).

Aufgrund ihres Forschungsgegenstands und ihrer gesamtwissenschaftlichen Zielsetzung ist die G. eine Orientierungswissenschaft mit bes. Bedeutung für Gegenwart und Zukunft des Menschen. Zwar lassen sich Erkenntnisse über historische Zustände und Handlungen so gut wie nie eins zu eins auf Zustände und Handlungen einer anderen Zeitstufe übertragen oder in konkrete Handlungsanweisungen umsetzen: So waren die Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs andere als die für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs; und die Kenntnis von Gründen für beide Kriege gibt uns nicht die Mittel an die Hand, weitere Kriege zu verhindern. Gleichwohl lautet das Credo der G.ler mit den Worten des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt: „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal), als weise (für immer) werden.“ (Burckhardt 1929: 7)

Die Erkenntnisse der G. sind ein eminentes Mittel für menschliche Bildung, weil sie dem Menschen helfen, sich selbst und seine Welt in ihrer Gewordenheit zu verstehen, also eine historisch fundierte Identität herzustellen, Dinge unterschiedlicher Zeitstufen in sinnhafte Zusammenhänge zu bringen, um sich selbst und der eigenen Welt einen Sinn zu verleihen, und vor diesem Hintergrund mit Blick auf die Zukunft Perspektiven zu entwickeln. G. verbindet damit alle drei Zeitdimensionen: Sie entwickelt aus der Gegenwart heraus Vorstellungen über zurückliegende geschichtliche Dinge, Ereignisse und Handlungen und bildet die Identität und den Sinnhorizont des Menschen, damit dieser seine Gegenwart besser verstehen und seine Zukunft planen kann. Gerade diese prospektive Sichtweise garantiert den Charakter von G. als Orientierungswissenschaft, denn „Zukunft braucht Herkunft“ (Marquard 2003), und über diese Herkunft informiert die G.

3. Entstehung und Globalisierung von Geschichtswissenschaft

G. ist ein Produkt der abendländischen Kultur, von der ausgehend sie im Verlauf der letzten rund 250 Jahre über die gesamte Erde verbreitet wurde. Das heißt nicht, dass nicht auch in den Zeiten zuvor bzw. in anderen Kulturen historisch geforscht und Geschichte geschrieben worden wäre. Bereits im AT und bei Homer finden sich, eingebettet in Mythen, historische Erzählungen. Thukydides, Tacitus und Herodot schufen in der Antike dauerhafte Vorbilder für Historiographie, an die in Westeuropa die Humanisten anknüpften, während historiographische Formen wie Annalen, Gesten und Chroniken das lateinische Mittelalter dominierten. Forciert wurde die Beschäftigung mit Geschichte in Europa durch die Reformation, die die unterschiedlichen Lager dazu drängte, ihre eigene Geschichte (ihre Herkunft) legitimatorisch nach ihrer eigenen Sichtweise darzustellen. In China betrieb der kaiserliche Hofastronom Sima Qian (um 145–86 v. Chr.) bereits Quellenstudien und verfasste auf deren Grundlagen Geschichtswerke. Die Anfänge islamischer Geschichtsschreibung, die zunächst mündliche Berichte schriftlich fixierte, wie auch der indischen Historiographie, die in mythisch-religiöse Versdichtung eingelagert war, werden um das Jahr 800 n. Chr. datiert. Formen nicht- bzw. vor-schriftlichen Geschichtsbewusstseins dürften kulturübergreifend auf dem gesamten Erdball vorhanden sein, seitdem der Mensch ein Bewusstsein von sich selbst entwickelte.

All dies sind Formen von historischem Denken, Geschichtsbewusstsein, historischer Arbeit und, wie bei Sima Qian, z. T. modernen Maßstäben entspr.er historischer Forschung. Gleichwohl lassen sie sich aus zwei Gründen nicht im engeren Sinn als G. bezeichnen: Zum einen bildete sich das hier eingangs formulierte Verständnis von G. gebunden an den allg.en modernen Wissenschaftsbegriff erst im Lauf der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund einer Antikerezeption in den europäischen Kulturen heraus; zum anderen ist eine vorbehaltlose (geschichts-)wissenschaftliche Tätigkeit nur in politisch-sozialen Konstellationen möglich, in denen die Freiheit der Meinungsäußerung garantiert ist, also in modernen Demokratien nach westlichem Vorbild.

Die Entstehung von moderner Demokratie und moderner (Geschichts-)Wissenschaft bedingte sich wechselseitig. Das Ideal eines freien Meinungsaustauschs unter Akademikern in der res publica litteraria wurde zum Vorbild für politische Demokratien; freiheitlich-liberale Philosophien halfen, das Bild des unabhängigen Wissenschaftlers zu entwickeln; Staaten, die einen Demokratisierungsprozess (Demokratisierung) durchliefen, schufen nach und nach geschützte kommunikative Räume, in denen sich das moderne Verständnis von freier Wissenschaft entfalten konnte. Der Zeitraum, in dem diese Transformation von Gesellschaft und Staat sowie der für sie konstitutiven Begrifflichkeiten zu modernen Ausdrucksformen vollzogen wurde, lässt sich mit Reinhart Koselleck als „Sattelzeit“ (Koselleck 1979: XV) bezeichnen und zwischen die Mitte des 18. und die Mitte des 19. Jh. datieren. Einen wichtigen Meilenstein dieser Entwicklung von (Geschichts-)Wissenschaft bildet die Schaffung moderner Akademien bzw. Universitäten als von staatlichen und kirchlichen Bevormundungen unabhängiger Institutionen. Moderne G. in diesem Sinne ist eine akademische Disziplin.

In Europa, v. a. in Deutschland, vollzog sich während der Sattelzeit ein Professionalisierungs- bzw. Verfachlichungsprozess (Etablierung einer Disziplin G. an den Universitäten, Gründung historischer Zeitschriften, Bibliotheken und Vereine etc.) und ein Verwissenschaftlichungsprozess (Formulierung von Zielen und Aufgaben der G.), der zum Exportmodell avancierte. Nach westlichem Vorbild entstanden seit der Mitte des 19. Jh. weltweit geschichtswissenschaftliche Institutionen. Exporteure waren bes. Historiker aus anderen Kulturen, die in Westeuropa ausgebildet wurden. Diese Exporteure übertrugen nicht nur Formen fachlicher Verfassung von G. in ihre Kulturen (etwa indem sie dort historische Seminare gründeten), sondern auch Formen wissenschaftlicher Verfassung (etwa inhaltliche Auffassungen darüber, was Geschichte ist, und Fragestellungen, die von spezifisch europäischer Perspektive zeugen, wie die Modernisierungstheorien). Eine positive Folge dieses Transfers ist, dass sich Historiker heute weltweit austauschen können, weil sie ein Grundverständnis von G. teilen. Problematisch ist dieser Transfer mit Hinblick auf den Umgang mit indigenen Formen von Geschichtsarbeit in außereuropäischen Kulturen. So gründet die indische G. heute weit mehr in den Traditionen der britischen G. als in Formen traditionell indischer Geschichtsarbeit und -schreibung, da die führenden Historiker fast alle an britischen Universitäten ausgebildet wurden und die westliche Auffassung von G. übernahmen. Auch kommt es bei Übertragungen von kulturspezifischen Begrifflichkeiten in die lingua franca Englisch mitunter zu Übersetzungsschwierigkeiten, so dass das Erkennen kulturspezifischer Eigenheit (etwa beim Begriff der Menschenrechte) und der interkulturelle Vergleich erschwert werden. Der internationale Blick auf die Kulturen der Welt ist damit weitgehend von westlichen Fragestellungen und westlichen Werten geprägt.

4. Die Etablierung der Geschichtswissenschaft

4.1. Verwissenschaftlichung

Als Verwissenschaftlichung bezeichnet man die Entstehung moderner Wissenschaft mit Blick auf deren Systematik, also deren Theorien und Methoden. Die Anfänge von G. als moderner Wissenschaft liegen zum einen in (aus moderner Sicht) vor-wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, v. a. in der Orientierung an antiken historiographischen Vorbildern in der Zeit des Humanismus, zum anderen in anderen Wissenschaften, v. a. in Philosophie, Theologie und Philologie. Philosophie und Theologie entwickelten seit jeher Vorstellungen über den Gang der Welt. So wurde etwa aus den Zeitangaben des ATs ein Datum für die bevorstehende Heraufkunft des Jüngsten Gerichts zu entwickeln versucht. Philologie und Theologie schufen mit bes.m Bezug auf die Bibel und Texte der Klassiker quellenkritische und hermeneutische Methoden, so etwa die Benediktiner der Abtei St. Maur (Mauriner) Mitte des 17. Jh. Zudem entstand allg. ein profanes Zeitbewusstsein; der moderne Zukunftsbegriff entwickelte sich ebenso wie Vorstellungen über das Alter des Menschengeschlechts, die über den biblischen Adam zurückreichten (so 1655 bei beim Werk „Prae-Adamitae“ von Isaac de La Peyrère). Adel und erstarkendes Bürgertum (Bürger, Bürgertum) sahen in der Genealogie ein Mittel, ihren sozialen Status geschichtlich zu legitimieren. Das geweckte Interesse am Geschichtlichen und eine kritischere Haltung gegenüber kirchlichen Heilsgeschichtsaxiomen in der Aufklärungszeit (Aufklärung) führten zu einer stetigen Verselbstständigung historischer Forschung. Im deutschsprachigen Raum entstanden erste Historiken als Lehren, was Geschichte sei und wie sie betrieben werden müsse. Der evangelische Theologe Johann Martin Chladenius legte 1752 eine „Allgemeine Geschichtswissenschaft“ vor, die den Gegenstand von G. umriss. Wegweisend für die moderne Auffassung von Geschichte als Rekonstruktion wurde v. a. seine Definition eines „Sehepunckts“ (Chladenius 1985: 99) als bes.m jeweiliger Perspektive eines Historikers. Gegen Ende des 18. Jh. wurden erste Ansätze zu einer G. als Einheit von Forschung und Lehre entwickelt. Bes. an der Universität Göttingen forderten die Aufklärungshistoriker Johann Christoph Gatterer, August Ludwig von Schlözer und Ludwig Thimotheus Spittler vom Historiker quellenbasierte Arbeit, Angabe von Belegen und hilfswissenschaftliche Kenntnisse. Die kritische Edition von Quellen wurde zum wichtigsten Arbeitsgebiet der Historiker neben der Historiographie, die zunehmend auf quellenkritischer Forschung basierte.

Ihren Status als moderne Wissenschaft mit fachspezifischen Theorien und Methoden erhielt die G. Anfang des 19. Jh., wobei drei Werke als in bes. Maß für diese Entwicklung repräsentativ beurteilt werden: Wilhelm von Humboldt trug 1821 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin seine Rede „Über die Aufgabe des Geschichtschreibers“ vor, in der er eine genuin geschichtswissenschaftliche Ideenlehre entwarf, die wegweisend für den Historismus wurde und die G. inhaltlich gegenüber der idealistischen Geschichtsphilosophie zu emanzipieren half. Leopold Ranke fügte seinem Werk „Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535“ eine Beilage „Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber“ an, die heute als Grundstein für moderne quellenkritische Arbeit und Zitierweise bewertet wird. Den bedeutendsten Beitrag zur Verwissenschaftlichung leistete Johann Gustav Droysen mit seiner „Historik“-Vorlesung, die er zwischen 1857 und 1882 mehrfach an der Universität Berlin vortrug und laufend modifizierte. In dieser Vorlesung knüpfte er an W. v. Humboldt an, kennzeichnete die Kategorien Idee und Entwicklung als leitende Inhalte einer auf staatliche Außenpolitik konzentrierten G. und unterteilte diese in die Bereiche Methodik, Systematik und Topik. Während die Methodik die Arbeitsschritte Heuristik, Kritik und Interpretation als Inbegriff geschichtswissenschaftlicher Vorgehensweise umfasst, behandelt die Systematik den Gegenstand von Geschichte. Die Topik umfasst Formen der Geschichtsschreibung und des Geschichtsbewusstseins. Diese Einteilung kann bis heute als Umriss dessen gelten, was allg. unter G. verstanden wird.

Die historistische G., die W. v. Humboldt, L. Ranke und J. G. Droysen vertraten, herrschte in Deutschland bis in die 1960er Jahre als leitendes Forschungsparadigma. Kritik erfuhr sie v. a. seit dem Ende des 19. Jh. von Seiten der Kulturgeschichte (u. a. durch Karl Lamprecht), die zum einen gegen die Politikorientierung des Historismus auftrat, für den Einbezug von Fragestellungen und Methoden aus Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Volkskunde in die Praxis der G. plädierte und Anfang des 20. Jh. in die Volksgeschichte mündete. Gegen das idealistische Erbe des Historismus opponierten auch Neu-Kantianer wie Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband und Max Weber, die methodisch eine klare Abgrenzung der G. als Geisteswissenschaft von den Naturwissenschaften forderten und ein neues intersubjektives Objektivitätsideal proklamierten. An sie knüpften nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialhistoriker an, die anstelle von Idee und Entwicklung die Kategorien Gesellschaft und Prozess und anstelle des Individuums die Struktur in das Zentrum von G. stellten, für einen „Primat der Innenpolitik“ sowie für eine eher beschreibende quantifizierende G. gegenüber der älteren verstehenden qualifizierenden G. eintraten. Die Sozialgeschichte dominierte die westdeutsche G. bis in die 1990er Jahre, in denen das Individuum über den Begriff der agency neu entdeckt und Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen von Geschichte (v. a. Sprache, Diskurs) als Gegenstand von G. in ihrer Bedeutung hervorgehoben wurden. Die Neue Kulturgeschichte, die sich u. a. auf Philosophen wie Michel Foucault, Soziologen wie Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann oder Vertreter des Linguistic Turn wie Hayden White beruft und seit den 1990er Jahren das leitende Paradigma westeuropäischer G. darstellt, widmet sich in bes.m Maß kulturübergreifender und -vergleichender Forschung mit Schwerpunkt auf der deutenden Wahrnehmung geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen durch die jeweiligen Zeitgenossen.

Die Entwicklung der G. im europäischen Ausland orientierte sich stark an der deutschen G., doch gab es einige signifikante Unterschiede. So prägten Historiker wie Frederick Jackson Turner und Charles Austin Beard mit sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen um 1900 die G. in den USA. Auch in Westeuropa, v. a. in Frankreich, war die G. bereits im 19. Jh. gegenüber Einflüssen aus Soziologie und Ökonomie offener als in Deutschland. Diese Einflüsse mündeten im 20. Jh. in die Strömung der von Lucien Febvre und Marc Bloch gegründeten Annales-Schule, die die gesamteuropäische G. nach 1945 entscheidend prägte, indem sie wirtschaftlich-soziale Fragestellungen in das Zentrum ihrer Arbeit stellte, stärker als die deutschen Historiker quantifizierend vorging und einen größeren Zeithorizont, die longue durée, in den Blick nahm. In Frankreich wie in Großbritannien war zudem die Kluft zwischen universitärer und außer-universitärer G. nicht so groß wie in Deutschland. Ansätze aus dem Bereich des Marxismus flossen stärker in den akademischen Diskurs ein und bildeten nicht wie in (West-)Deutschland einen Gegendiskurs zur G. universitärer Historiker. Verstärkend kam hinzu, dass die inhaltliche Verfassung von G. in Westeuropa vor 1945 weniger durch den Versuch politischer Indienstnahme und nach 1945 durch eine Zweistaatlichkeit belastet war, wie sie in Deutschland bis 1990 herrschte. Während in Westeuropa sozialgeschichtliche Themen und Termini, wie in Edward Palmer Thompsons „The Making of the English Working Class“ (Thompson: 1963), auch von politisch linken Positionen geprägt wurden, stand die westdeutsche G. immer im Systemkonflikt zu einer ostdeutschen (und osteuropäischen) G., deren Entfaltung durch die Einschränkung von Freiheitsrechten und die verordnete Bindung an die philosophischen Vorgaben des Historischen Materialismus behindert blieb. Dafür entwickelten die ehemaligen Kolonialmächte stärker als Deutschland ein Interesse an Postcolonial Studies und damit verbundenen globalen, interkulturellen Fragestellungen. Zudem setzten etwa die soziologieaffinen französischen Annales-Historiker oder die amerikanischen Kliometriker stärker als ihre der hermeneutischen Tradition verhafteten deutschen Kollegen auf quantifizierende Ansätze.

4.2 Verfachlichung

Als Verfachlichung bezeichnet man die Entstehung von Wissenschaftsdisziplinen mit Blick auf deren institutionelle Organisation. Dieser Prozess setzte in der europäischen G. Ende des 18. Jh. ein, als sich die G. an den Universitäten zunehmend von Philosophie und Theologie emanzipierte. Ein erster Indikator für die Verfachlichung ist der enorme Anstieg der Zahl universitärer Ordinariate für G. und ihnen zugeordneter Mitarbeiterstellen. Gab es in Deutschland im Jahr 1810 fünf ordentliche Professuren für G., so waren es 1900 bereits 90 und 1970 insgesamt 236. Im 19. und 20. Jh. verzwanzigfachte sich die Zahl geschichtswissenschaftlicher Ordinariate nahezu, während die Zahl der Lehrstühle aller übrigen Fächer im selben Zeitraum sich nur etwa vervierfachte. Mit diesem Anstieg verbunden war eine Diversifizierung der Fachschwerpunkte. Während die Lehrstuhlgründungen im 19. Jh. mit großer Mehrheit lediglich als Professuren für Geschichte oder für Allgemeine Geschichte nominiert waren, stieg im 20. Jh. zunächst die Zahl von epochal spezialisierten Ordinariaten (Alte, mittelalterliche, neuere Geschichte) und v. a. nach 1945 die Zahl sektoral und regional spezialisierter Ordinariate (z. B. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Osteuropäische Geschichte, Geschichtsdidaktik). Im Hinblick auf diese fachliche Diversifizierung wird heute mitunter auch im Plural von den G.en gesprochen.

Unterstützt wurde diese Entwicklung zum einen dadurch, dass auch in anderen Fachbereichen historisch ausgerichtete Lehrstühle entstanden, etwa für Literaturgeschichte in den Philologien oder für Rechtsgeschichte in den Rechtswissenschaften, und zum anderen dadurch dass auch außeruniversitäre Forschungseinrichtungen gegründet wurden, so etwa das 1819 als Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde gegründete Editionsprojekt Monumenta Germaniae Historica, die 1858 eingerichtete Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, die 1887 an der Berliner Akademie der Wissenschaften institutionalisierten Acta Borussica oder das 1917 geschaffene Kaiser-Wilhelm-Institut für Geschichte. Auch in den zahlreich neu gegründeten historischen Museen (z. B. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, 1852) und Archiven wurde verstärkt G. betrieben.

Ein weiterer Indikator der Verfachlichung ist die Professionalisierung der Historikerausbildung. Mitte des 19. Jh. wurden an vielen Universitäten, meist auf Privatinitiative von Geschichtsprofessoren, historische Seminare und Bibliotheken eingerichtet. 1810/11 fasste der Berliner Historiker Friedrich Rühs die Teilnehmer seiner Übungen als societas historica zusammen; seit 1825 führte L. Ranke seminarförmige Übungen unter der Bezeichnung exercitationes historicae durch. Die Anzahl in diesen Seminaren ausgebildeter (auch promovierter) Fachhistoriker stieg an. Diese Historiker befriedigten ein bis in die 1960er Jahre eminent hohes öffentliches historisches Bildungsbedürfnis. Als Zusammenschluss von Experten und Laien entstanden historische Gesellschaften und Vereine, häufig mit regionalgeschichtlichem Bezug, so etwa der 1812 in Wiesbaden als einer der ersten seiner Art gegründete Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung, die seit 1852 im Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine versammelt sind.

Ein dritter Indikator für den Verfachlichungsprozess ist die Neugründung fachspezifischer Periodika, darunter führende Organe wie HZ, EHR, RH und AHR. Diese Fachzeitschriften dienten nicht zuletzt, etwa durch das Genre der Rezension, der „internen Kommunikation“ zwischen den Historikern und festigten die Netzwerke, die seit Mitte des 19. Jh. zwischen Geschichtswissenschaftlern und ihren Schulen entstanden.

Als vierter Indikator für die Verfachlichung von G. lässt sich die Schaffung von Standesvertretungen der „historischen Zunft“ und Foren für deren internen Austausch und deren externe Präsentation benennen. So wurden seit dem Ende des 19. Jh. in fast allen europäischen Staaten nationale Historikerverbände gegründet (Gründung des Verbandes Deutscher Historiker, 1895), von denen viele dem 1926 gegründeten Comité international des Sciences Historiques als internationalem Zusammenschluss angehören. Zu ihren Kernaufgaben zählt die Veranstaltung von Historikertagen als fachwissenschaftlichen Kongressen (1. Deutscher Historikertag, München 1893).

Ein fünfter Indikator lässt sich als fachliche Exklusion beschreiben. Waren seit jeher Frauen und Juden, später auch Sozialisten weitestgehend aus dem Fachdiskurs der G. in Deutschland ausgeschlossen, so manifestierte sich seit der Mitte des 19. Jh. zudem die Trennung zwischen der G. universitärer Geschichtsprofessoren und der außeruniversitären G. der „Halbkundigen“, deren „Dilettantismus“ Georg Waitz bemängelte (Waitz 1859: 21). Gemeint waren damit Geschichtslehrer, Museumsleute, Publizisten und historisch Interessierte anderer Disziplinen. Wurde noch 1846 auf der Frankfurter Germanistenversammlung ein allg.er Verein Deutscher Geschichtsforscher gegründet, so setzte sich bereits ein Jahrzehnt nach der misslungenen Revolution ein Zwei-Klassen-System historischer Arbeit durch, das in Preußen-Deutschland weit stärker ausgeprägt war als in anderen europäischen Staaten. Der Verfachlichungsprozess differenzierte die neue Wissenschaft thematisch, etablierte sie personell, institutionell, organisatorisch und im Hinblick auf feststehende Kommunikationsstrukturen; er vereinseitigte sie aber gleichzeitig bis in die zweite Hälfte des 20. Jh. auf eine politikgeschichtliche Ausrichtung und einen exklusiven Wissenschaftlerkreis, zu dem weder Vertreter der Sozial- und Kulturgeschichte noch, seit den 1880er Jahren,Geschichtsdidaktiker zählten.

5. Ausblick

G. ist heute ein global betriebenes System zur Erzeugung und Verbreitung historischen Wissens. Neben der Internationalisierung sind v. a. in den letzten drei Jahrzehnten die Methodenvielfalt und die leichtere Verfügbarkeit digitalisierter Quellen im Internet Charakteristika moderner G. geworden. Die anfängliche Einschränkung auf hermeneutische, qualifizierende Methoden wurde dabei ebenso überwunden wie der gegenläufige Versuch, diese durch serielle, quantifizierende Untersuchungsverfahren zu ersetzen. Gefordert wird nun ein Methodenpluralismus, der Ansätze und Fragestellungen anderer Disziplinen aufgreift und aktuell durch den Einbezug der Digital Humanities befördert wird. Die Entwicklung informationstechnologischer und computerlinguistischer Tools, mit deren Hilfe große Datenmengen (Big Data) seriell bearbeitbar werden, erscheint als Chance, aktuelle Fragestellungen (z. B. Mobilitätsforschung, Netzwerkforschung) zu fördern. Dabei wird zuweilen die Leistung der Digital Humanities überschätzt. Diese können die intellektuelle Arbeit der Historiker nur im Sinne einer aus Sicht der G. als Hilfswissenschaft zu bezeichnenden Disziplin unterstützen, nicht sie ersetzen. Auch in Zukunft zählen die von J. G. Droysen in seiner „Historik“ beschriebenen Arbeitsschritte zu den Kernaufgaben von G.