Kosmopolitismus: Unterschied zwischen den Versionen
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− | Der in der antiken Philosophie geprägte und über die Rezeption der Stoa auch in die christliche Weltdeutung integrierte Begriff K. erhält über seine grundlegende Kritik an jeglicher Partikularität und an der Unterstellung einer etwaigen eigenen kulturellen, moralischen oder ethnischen Überlegenheit gegenüber Menschen anderer Herkunft nicht nur in der Geschichte der Philosophie eine bedeutende Funktion. Gegen die in der Geschichte immer wiederkehrenden, stereotypen Einstellungen gewandt, die die eigene [[Kultur]], die eigene Herkunft, „Ethnie“ oder „Nation“ im Vergleich mit den sog.en Fremden oder Anderen als überlegen werten, enthält das Konzept des K. nicht nur eine Einladung zur Selbstdistanzierung, sondern auch zur Selbstrelativierung der Geltung der eigenen Weltsicht. Es artikuliert eine politisch bedeutsame Perspektive auf die „Welt im Ganzen“, ohne dabei den eigenen bisherigen Standpunkt zum unbefragten Ausgangspunkt zu erheben. Darin können die Eigenart und Ansprüche „der Anderen“, seien es ihre „Rechte“ oder auch nur ihre berechtigten Anliegen, im Lichte einer umfassenderen Betrachtungsweise gewürdigt werden. Kosmopolitische Ansätze in der | + | Der in der antiken Philosophie geprägte und über die Rezeption der Stoa auch in die christliche Weltdeutung integrierte Begriff K. erhält über seine grundlegende Kritik an jeglicher Partikularität und an der Unterstellung einer etwaigen eigenen kulturellen, moralischen oder ethnischen Überlegenheit gegenüber Menschen anderer Herkunft nicht nur in der Geschichte der Philosophie eine bedeutende Funktion. Gegen die in der Geschichte immer wiederkehrenden, stereotypen Einstellungen gewandt, die die eigene [[Kultur]], die eigene Herkunft, „Ethnie“ oder „Nation“ im Vergleich mit den sog.en Fremden oder Anderen als überlegen werten, enthält das Konzept des K. nicht nur eine Einladung zur Selbstdistanzierung, sondern auch zur Selbstrelativierung der Geltung der eigenen Weltsicht. Es artikuliert eine politisch bedeutsame Perspektive auf die „Welt im Ganzen“, ohne dabei den eigenen bisherigen Standpunkt zum unbefragten Ausgangspunkt zu erheben. Darin können die Eigenart und Ansprüche „der Anderen“, seien es ihre „Rechte“ oder auch nur ihre berechtigten Anliegen, im Lichte einer umfassenderen Betrachtungsweise gewürdigt werden. Kosmopolitische Ansätze in der [[Politische Philosophie|politischen Philosophie]], die in dieser Weise ihre Wirkung entfalteten, lassen sich im christlichen [[Humanismus]] der Frühen Neuzeit, wie bei Erasmus von Rotterdam, oder auch in der spanischen Barockscholastik, wie bei Francisco de Vitoria, identifizieren, der den indogenen Völkern Mittel- und Südamerikas, anders als die Aristoteliker seiner Zeit, die Fähigkeit zur politischen {{ #staatslexikon_articlemissing: Selbstverwaltung | Selbstverwaltung }} nicht absprach und von einer politischen Verfassung der Welt als ganzer <I>(communitas totius orbis)</I> sprach. Theoriegeschichtlich durch die Philosophien der [[Aufklärung]] (Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff) vorbereitet war es Immanuel Kant, dessen Philosophie in einer „weltbürgerliche[n] Absicht“ (Kant 1923) die Notwendigkeit einer Ergänzung des auf einen strikten [[Republikanismus]] gestützten <I>{{ #staatslexikon_articlemissing: Staatsrechts | Staatsrecht }}</I> und des auf den weltweiten Friedensschluss zwischen den Staaten aufbauenden <I>{{ #staatslexikon_articlemissing: Völkerrechts | Völkerrecht }}</I> durch ein <I>Weltbürgerrecht</I> begründete, das allerdings bis heute auf seine angemessene Implementierung und politische Institutionalisierung wartet. Dabei lehnt I. Kant, wie nach ihm andere prominente Vertreter einer kosmopolitischen Theorie der Politik, die Idee eines „Weltstaats“ oder eines weltweit agierenden Hegemons ab. An deren Stelle treten in der zeitgenössischen Diskussion bei dezidiert kosmopolitisch argumentierenden Philosophen unterschiedliche Vorschläge, wie die durch die {{ #staatslexikon_articlemissing: UN-Charta | UN-Charta }} (1948) und die seitherigen Entwicklungen des internationalen Rechts nachhaltig geprägte und im Blick auf die rechtspolitischen Verpflichtungen der Mitglieder der UNO grundlegend veränderte Staatenwelt <I>(erga omnes)</I> durch neue, kosmopolitan aufgestellte Institutionen in ihrer rechtspolitischen Verfassung auf eine demokratische Rechtsstaatlichkeit dauerhaft umgestellt werden kann, um auf diesem Weg die bisherige Anarchie der Staatenwelt zu überwinden und Antworten auf die großen weltpolitischen Herausforderungen wie [[Frieden]] und globale [[Gerechtigkeit]] unter Einschluss des [[Naturschutz|Naturschutzes]] zu finden. |
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Version vom 15. August 2021, 11:44 Uhr
1. Begriff
Der Begriff K. leitet sich her von der griechischen Bezeichnung kosmopolites für „Weltbürger“, dessen politische Bürgerschaft sich nicht auf ein begrenztes Territorium, auf lokal geltende Gesetze oder ein separates Staatswesen beschränkt. Es erstreckt sich vielmehr auf die gesamte Welt. K. betrachtet somit die Welt als einen politischen Raum, wobei die Frage, worin der spezifisch „politische“ Charakter der Welt besteht, unterschiedlich konzeptualisiert werden kann.
2. Begriffsgeschichte
Bereits Heraklit spricht (im 6. Jh. v. Chr.) von einer Weltordnung, die universal und für alle Menschen gleich ist. Ihm folgen die Sophisten mit ihrer Kritik an den einzelstaatlichen Gesetzen, Demokrit (im 5. Jh. v. Chr.) mit seiner naturphilosophischen Aussage, dass einem weisen Menschen nur der Kosmos Vaterland sei, oder der platonische Sokrates, für den der Philosoph nur aufgrund seines Körpers in einer Polis (d. i. Stadtstaat) lebe, während sein Geist die einzelstaatlichen Grenzen schon hinter sich gelassen hat, sowie der kynische Philosoph Diogenes von Sinope, der den Begriff des „Kosmopoliten“ erstmals benutzt, um auf die Frage seiner Herkunft zu antworten. Begünstigt durch die Errichtung des die altgriechische Polis-Ordnung realpolitisch ablösenden sog.en Weltreichs Alexander des Großen sind es die im Zeitalter des Hellenismus auftretenden Schulen der stoischen Philosophie, in denen die gleichermaßen kosmologisch wie moralphilosophisch begründeten Leitideen eines K. formuliert werden: Die Zugehörigkeit aller Menschen zu einer ethisch-normativ relevanten Einheit des Menschengeschlechts in der „Kosmopolis“. Die Idee einer nicht nur moralisch, sondern auch politisch relevanten Mitgliedschaft aller Menschen einschließlich der Sklaven zur „Kosmopolis“ relativiert nicht nur die aus der politischen Philosophie des Aristoteles überlieferte und für die politische Praxis normativ wirksame Differenz von „Griechen“ und „Barbaren“, „Freien“ und „Unfreien“, „Männern“ und „Frauen“, sondern erlaubt auch systematisch erstmals die Begründung eines „Naturrechts“ (ius naturale), das dem einzelstaatlichen Recht nicht nur normativ vorausgeht, sondern in dessen Namen das positive Recht (ius positivum) auch kritisiert werden kann. Die Ambivalenz der kosmologisch-moralisch, mitunter auch politisch oder rechtlich gefassten Bedeutung des Begriffs K. wird in der Rezeption der stoischen Philosophie nicht nur bei den römischen Philosophen Cicero, Seneca oder Marc Aurel sichtbar, die angesichts des fast die gesamte Menschheit umfassenden römischen Imperiums den Begriff K. tendenziell zu einem unpolitischen Menschheits- und Bildungsideal umformen, sondern auch bei Philon von Alexandrien, der das K.-Ideal mit dem Judentum in der über die Welt zerstreuten Diaspora verbindet, und bei christlichen Autoren der Spätantike wie Tertullian (im 2. Jh. n. Chr.), der die Menschheit als eine Einheit sieht.
3. Systematische Bedeutung
Der in der antiken Philosophie geprägte und über die Rezeption der Stoa auch in die christliche Weltdeutung integrierte Begriff K. erhält über seine grundlegende Kritik an jeglicher Partikularität und an der Unterstellung einer etwaigen eigenen kulturellen, moralischen oder ethnischen Überlegenheit gegenüber Menschen anderer Herkunft nicht nur in der Geschichte der Philosophie eine bedeutende Funktion. Gegen die in der Geschichte immer wiederkehrenden, stereotypen Einstellungen gewandt, die die eigene Kultur, die eigene Herkunft, „Ethnie“ oder „Nation“ im Vergleich mit den sog.en Fremden oder Anderen als überlegen werten, enthält das Konzept des K. nicht nur eine Einladung zur Selbstdistanzierung, sondern auch zur Selbstrelativierung der Geltung der eigenen Weltsicht. Es artikuliert eine politisch bedeutsame Perspektive auf die „Welt im Ganzen“, ohne dabei den eigenen bisherigen Standpunkt zum unbefragten Ausgangspunkt zu erheben. Darin können die Eigenart und Ansprüche „der Anderen“, seien es ihre „Rechte“ oder auch nur ihre berechtigten Anliegen, im Lichte einer umfassenderen Betrachtungsweise gewürdigt werden. Kosmopolitische Ansätze in der politischen Philosophie, die in dieser Weise ihre Wirkung entfalteten, lassen sich im christlichen Humanismus der Frühen Neuzeit, wie bei Erasmus von Rotterdam, oder auch in der spanischen Barockscholastik, wie bei Francisco de Vitoria, identifizieren, der den indogenen Völkern Mittel- und Südamerikas, anders als die Aristoteliker seiner Zeit, die Fähigkeit zur politischen Selbstverwaltung nicht absprach und von einer politischen Verfassung der Welt als ganzer (communitas totius orbis) sprach. Theoriegeschichtlich durch die Philosophien der Aufklärung (Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff) vorbereitet war es Immanuel Kant, dessen Philosophie in einer „weltbürgerliche[n] Absicht“ (Kant 1923) die Notwendigkeit einer Ergänzung des auf einen strikten Republikanismus gestützten Staatsrechts und des auf den weltweiten Friedensschluss zwischen den Staaten aufbauenden Völkerrechts durch ein Weltbürgerrecht begründete, das allerdings bis heute auf seine angemessene Implementierung und politische Institutionalisierung wartet. Dabei lehnt I. Kant, wie nach ihm andere prominente Vertreter einer kosmopolitischen Theorie der Politik, die Idee eines „Weltstaats“ oder eines weltweit agierenden Hegemons ab. An deren Stelle treten in der zeitgenössischen Diskussion bei dezidiert kosmopolitisch argumentierenden Philosophen unterschiedliche Vorschläge, wie die durch die UN-Charta (1948) und die seitherigen Entwicklungen des internationalen Rechts nachhaltig geprägte und im Blick auf die rechtspolitischen Verpflichtungen der Mitglieder der UNO grundlegend veränderte Staatenwelt (erga omnes) durch neue, kosmopolitan aufgestellte Institutionen in ihrer rechtspolitischen Verfassung auf eine demokratische Rechtsstaatlichkeit dauerhaft umgestellt werden kann, um auf diesem Weg die bisherige Anarchie der Staatenwelt zu überwinden und Antworten auf die großen weltpolitischen Herausforderungen wie Frieden und globale Gerechtigkeit unter Einschluss des Naturschutzes zu finden.
Literatur
M. Lutz-Bachmann/A. Nascimento: Human Rights, Human Dignity and Cosmopolitan Ideals, 2014 • D. Held: Kosmopolitanismus, 2013 • M. Lutz-Bachmann/A. Niederberger/P. Schink (Hg.): Kosmopolitanismus. Zur Geschichte und Zukunft eines umstrittenen Ideals, 2010 • S. Benhabib: Kosmopolitanismus und Demokratie, 2008 • J. Bohman: Democracy across Borders. From Demos to Demoi, 2007 • J. Rawls: Das Recht der Völker, 2002 • O. Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999 • C. R. Beitz: Cosmopolitan Ideals and National Sentiments, in: JP 80/10 (1983), 591–600 • I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: AA, Bd. 8, 1923, 15–31.
Empfohlene Zitierweise
M. Lutz-Bachmann: Kosmopolitismus, Version 04.01.2021, 09:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kosmopolitismus (abgerufen: 22.11.2024)