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B. Emunds: Prekarität, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Prekarität}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}})
 
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Version vom 15. August 2021, 11:51 Uhr

In den Sozialwissenschaften geht es bei P. vor allem um unsichere Lebenslagen bzw. Teilhabechancen (Einkommen, Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Integration in soziale Netze, …) und deren subjektive Verarbeitung. Im Fokus steht die auch durch Entsicherung der Erwerbsarbeit vorangetriebene Entgrenzung von Armuts- und Desintegrationsphänomenen in die Mittelschichten hinein. „Prekärer Wohlstand“ bezeichnet in der Armutsforschung seit den 1990er Jahren eine soziale Schicht zwischen Armut und gesichertem Wohlstand. Prominenz gewann der Begriff in Deutschland aber erst durch die Rezeption der Sozialtheorien Robert Castels und Pierre Bourdieus. R. Castel diagnostizierte eine Erosion sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Integration durch Arbeit, unterschied gemäß der Sicherheit der Erwerbsarbeit und der Dichte der Integration in Beziehungsnetzwerke neun Formen der (Des-)Integration, die er den drei Zonen der Integration, der P. (expandierend) und der Entkoppelung zuordnete. Für P. Bourdieu nimmt die in der neoliberal transformierten Arbeitsgesellschaft allgegenwärtige P. den Menschen nicht nur die Chance, ihre Zukunft zu entwerfen. Sie erzeugt auch Furcht und Gefügigkeit und stabilisiert damit das Herrschaftssystem. In aktuellen Forschungsbeiträgen wird u. a. gefragt, ob sich in Deutschland ein Prekariat, eine Schicht mit rundum schlechten Lebensumständen und Perspektivlosigkeit, herausgebildet habe, und untersucht, ob Ressentiments (Vorurteil) und Rechtspopulismus (Populismus) bei diesem Prekariat oder bei den von P.s-Phänomenen verunsicherten, statusbedrohten Mittelschichtsangehörigen bes. verbreitet sind. Daneben können in der aktuellen deutschsprachigen Debatte v. a. zwei Stränge sozialwissenschaftlicher Veröffentlichungen unterschieden werden.

Ein arbeitssoziologischer Strang stellt die Prekarisierung der Erwerbsarbeit in den Vordergrund, die sich v. a. seit den 1990er Jahren in westlichen Gesellschaften (bes. stark in Deutschland bis 2012) als Ausbreitung „atypischer“ Formen der Erwerbsarbeit (Minijobs, Soloselbständigkeit, Werkverträge, Befristung, Leiharbeit) und als Expansion des Niedriglohnsektors zeigt. Damit geht eine Zunahme des Konkurrenz- bzw. Leistungsdrucks (auch durch ständige Bewährungsproben in der Erwerbstätigkeit und die Hoffnung der Beschäftigten, jeweils eine etwas sicherere und angesehenere Form von Erwerbsarbeit zu erreichen) einher. Zugl. löst sie gemeinsam mit der Reduktion des Sicherungsniveaus bei sozialstaatlichen Leistungen (Sozialstaat) und dem Strukturwandel der Wertschöpfung (Globalisierung, Digitalisierung) u. a. bei Facharbeitern und Angestellten der öffentlichen Dienste Abstiegsängste aus.

Ein geschlechtersoziologischer Strang kritisiert die Isolierung der Erwerbsarbeit von anderen Lebensvollzügen im ersten Diskussionsstrang und betont den komplementären Zusammenhang von Erwerbs- und unbezahlter Sorgearbeit. Die Beiträge decken die unentgeltliche Dienstverpflichtung der Frauen als Rückseite jener „Normalarbeitsverhältnisse“ auf, die bei der Rede von atypischen Erwerbsformen implizite Norm sind, verweisen auf die P. der Erwerbsarbeitsverhältnisse vieler Frauen schon zur Hochzeit männlicher „Normalarbeitsverhältnisse“ und in der Gegenwart auf den bes. hohen P.s-Anteil bei weiblicher Erwerbsarbeit sowie in den weiblich konnotierten personenbezogenen und haushaltsnahen Dienstleistungen. Sie fragen aber auch, wo flexible Erwerbsarbeit Teil eines gewollten Arrangements diverser Arbeitsformen ist, und nach Möglichkeiten einer gesellschaftspolitischen Reduktion der multidimensionalen P. des Lebens, die zuletzt durch aktivierende Arbeitsmarkt- und Familienpolitik gerade für Frauen weiter gesteigert wurde.

Die sozialethische Reflexion der gestiegenen P. von Erwerbsarbeit und Leben kann an das in sozialstaatlichen Institutionen verankerte wertaufgeladene Konzept sozialer Sicherheit anknüpfen. In Reaktion auf beschleunigten sozialen Wandel und die damit unvermeidlich verbundene Steigerung von Unsicherheit in der Gesellschaft geht es dabei um die Gewährleistung grundlegender Lebens- und gesellschaftlicher Teilhabeperspektiven – eben auch für den Fall, dass sich die ungewissen künftigen Gefährdungen einmal realisieren.

Unverzichtbar für eine Politik, die soziale Sicherheit wieder erhöht, P. also verringert, sind Anstrengungen zur Reduktion prekärer und zur Ausbreitung sicherer Formen von Erwerbsarbeit. Aus ethischer Sicht geht es dabei um die Förderung solcher Formen von Erwerbsarbeit, die als gerecht bezeichnet werden können, weil sie die Aufgaben, die in der deutschen Arbeitsgesellschaft der Erwerbsarbeit zugewiesen werden (zu gerechter Erwerbsarbeit: Arbeit) zufriedenstellend erfüllen: das sind u. a. auskömmlicher Lohn und gesellschaftliche Integration als Gleiche unter Gleichen.

Allerdings ist zur Orientierung einer künftigen Politik sozialer Sicherheit auch zu beachten, dass die Prekarisierung von Arbeit und Leben nur zu einem Teil auf Sozialstaatsabbau und gezielte Entsicherung der Erwerbsarbeit (wirtschaftspolitische Ziele: Wettbewerbsfähigkeit, Senkung der Arbeitskosten) zurückzuführen ist. Zum anderen Teil geht der Anstieg der P. darauf zurück, dass die Normalitätsannahmen der Sicherungssysteme, insb. ihre exklusive Bindung an die Erwerbsarbeit durch die Pluralisierung der Lebensformen und -verläufe und die damit selbstverständlich gewordenen (individuell immer wieder veränderten) Kombinationen verschiedener Formen von Arbeit (abhängige Beschäftigung, Selbständigkeit, verschiedene Teilzeitformen, Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege, …) obsolet geworden ist. Deshalb bedarf es der Entwicklung von Sicherungssystemen, die die pluralen Lebensformen und die diskontinuierlichen Lebensläufe mit ihren ggf. liquiden Kombinationen von Arbeitsformen vor Armut schützen, allen voran eine zunehmende Entkopplung sozialpolitischer Leistungen (Sozialpolitik) von der Erwerbsarbeit.